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Titel: Gutzkow’s Narrenwelt
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aus: Die Gartenlaube, Heft 6, S. 88
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[88] Gutzkow’s Narrenwelt. – Bei jedem Neuen, das der Feder Karl Gutzkow’s entstammt, können wir darauf gefaßt sein, etwas Bedeutendem und Anregendem zu begegnen, irgend einer neuen Idee, einem kühnen Gedanken, einem Etwas, das aus den Tiefen des Seelenlebens hervorgezogen ist oder als Geheimnißvolles und Verstecktes in der Gesellschaft überall mitwirkend und bestimmend geruht hat. Schärfe des Urtheils[WS 1] im Allgemeinen, wie im Besonderen, Vielseitigkeit des Schaffens und Gestaltens, Reichthum an Ideen, Gedanken und Bildern und eine Gestaltungskraft, die auch die widerstrebendsten Stoffe zu bewältigen vermag, das sind die Vorzüge Gutzkow’s, die ihm Eingang in alle Volksschichten verschafften, die seinen Namen populär gemacht haben. Einen neuen Beweis für seine unerschöpfliche Produktionskraft mit allen Eigenthümlichkeiten, die wir eben erwähnten, gibt uns „die kleine Narrenwelt.“ 3 Bände. Frankfurt a. M., Verlag der literarischen Anstalt. 1856.

Das Ganze ist, so zu sagen, eine Aus- und Durchführung der mephistophelischen Worte: „der Mensch, die kleine Narrenwelt –,“ die auch dem Werke als Motto vorangestellt sind. All’ die kleinen menschlichen Schwächen und Eigenheiten, alles Das, was in uns oft so närrisch prickelt und pustet, all’ die tausend Widersprüche, denen wir im Leben an Andern und uns selber begegnen, und die wir doch nicht reimen können, all’ die Absonderlichkeiten und Eigenheiten, die z. B. in der Ehe zuweilen die Veranlassungen zu subtilen Verzweiflungen sind, finden wir in der „kleinen Narrenwelt“ mit überraschender Wahrheit und, was eben so viel werth ist, recht natürlich erklärt hingestellt, so daß wir bald einem guten Freunde zu begegnen glauben, den wir jetzt besser verstehen; bald der eignen Frau, die uns ferner kein Geheimniß mehr ist, bald, verzeih’ lieber Leser! uns selbst. Die Geschichten der Narrenwelt sind nicht lang ausgesponnene; es sind kleine Toilettenspiegel mit geschliffenem Glas; man erkennt sich darin bis auf die einzelnen grauen Haare, die wir der Wirklichkeit gern wegdisputiren möchten. So schildern uns „die Kourstauben“ in unübertrefflicher Charakteristik ein Weib, wie es viele gibt, die in schmeichelnder Selbsttäuschung sich für poetisch hält, Gedichte liest und einen Dichter sogar interessant findet. Die Art aber, wie dieser poetische Schleier fällt und die realistische Natur sichtbar wird, ist überraschend fein gedacht und eine der genialen Wendungen, an welchen Gutzkow in stofflichen Gestalten so reich ist.

Im zweiten Bande treffen wir auf eine längere Erzählung: „die Nihilisten.“ Hertha, als die Repräsentantin der modernen weiblichen Bestrebung nach dem Rechte eigenster Selbstbestimmung kommt in eine Reihe natürlich gedachter und spannend verwebter Verhältnisse, die ihr über das Herz, als den weiblichen Kopf, hinausgewachsen sind, so daß ihr die gewohnte Umschau, die einstige Klarheit abgeht. Constantin und Leonhard sind vortrefflich gezeichnet, gleichsam durchschnittene Menschen, in denen wir jede Faser, jede Arterie liegen sehen. Junker Hans ist eine Figur, die trotz aller Rauhheit und Derbheit dennoch unser Interesse festhält, einer jener drolligen Käuze, die am Schliffe der Civilisation absterben. Die Erzählung ist ein Gewebe des Natürlichen und psychologisch Tiefsinnigen und von spannendstem Interesse bis zum letzten Wort.

„Ein deutsches Dichterleben“ im 3. Bande gibt uns ein traurig, trübes Bild von der Existenz des deutschen Genius, wenn er nicht mit goldenen Flügeln geboren ist; Duller ist eine Aufforderung mehr an die deutsche Nation, ihre Geister zu schützen, daß sie nicht im Bildungsdienste des Volkes elend und gebrochen verkümmern! – All’ die kleinen Skizzen, Abhandlungen, Urtheile und Meinungen, an welchen „die kleine Narrenwelt“ so reich ist, sind mit jener Schärfe, Wahrheit und liebevollem Eingehen auf ihre Gegenstände geschrieben, daß sie den unwillkürlichen Eindruck des Gründlichen, Wahren und Richtigen machen. – Gerade die genaue Kenntniß von Welt und Menschen, wie sie Gutzkow besitzt, diese Schärfe der Beurtheilung und die immer pikante, an überraschenden Wendungen so reiche Sprache befähigen ihn vor Allen, die kleinen Narrheiten und Thorheiten, die wir zur beliebigen Auswahl in uns tragen und womit wir uns sogar zu Zeiten freundschaftlich aushelfen, an’s Licht zu ziehen und uns die Würmer zu zeigen, die sich in das Holz gebohrt haben, aus welchem wir uns im guten Glauben schnitzten, daß es vom besten Kerne sei!



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: der Urtheils