Glossen
Glossen.
[26] Dreiviertel Stunden lang sah ich einen Mann auf der Straße in epileptischen Krämpfen sich winden, ehe der Wagen der telephonisch berufenen Freiwilligen Rettungsgesellschaft kam. Da die Humanität zu jeder Minute des Tages und der Nacht funktioniert, so ist es wahrscheinlich, daß sie damals mehrfach vergeben war. Wahrscheinlich ist aber auch, daß die Aussicht auf den Segen der Presse und des Papstes Samariterwerke zu beschleunigen vermag. Denn bis Catania ist immerhin weiter als bis zum Schwarzenbergplatz, und wiewohl der Transport auf den italienischen Bahnen gestört war, kam die Barmherzigkeit ans Ziel und wiewohl der telegraphische Verkehr erschwert war, haben wir überreichliche Kenntnis von den Wundern jener ausgekochten Nächstenliebe erhalten, die Herr Dr. Charas auf den Trümmern der sizilischen Städte verrichtet hat. Gewiß wäre diese Rettungsaktion auch unternommen worden, wenn ihre Veranstalter, vor allem jener Herr, von dem sich das Wort Charitas direkt herzuleiten scheint, rechtzeitig erfahren hätten, daß die telegraphische Verbindung zwischen Catania und Wien für alle Zeiten abgebrochen sei. Die Selbstlosigkeit hätte sich auch betätigt, wenn sie erst nach Wochen Gelegenheit gehabt hätte, in einem Vortragsabend von sich zu sprechen. Immerhin hätte uns ihr ausdrücklicher Verzicht auf den Segen des Papstes und auf jede Möglichkeit, auch nur in absehbarer Zeit mit einem Orden belohnt zu werden, noch mehr imponiert als ihr Werk. Die Freiwillige Rettungsgesellschaft ist ein Unternehmen, gegen das selbst vom Standpunkt der Inhumanität nicht das geringste einzuwenden ist. Nur beachte man den Unterschied zwischen ihr und einer Freiwilligen Feuerwehr. Der Rettungsgesellschaft gegenüber hat man sich so sehr ein- für allemal auf die Vorstellung des Samaritertums festgelegt, daß man das unaufhörliche und plötzliche Erscheinen ihres Chefarztes in der Lokalrubrik der Zeitungen für die Vorzüge ihres Betriebs hält. Der Rettungsbetrieb würde zwar in jedem Fall die öffentliche Anerkennung verdienen, aber er müßte mit dem Betrieb der Popularität annähernd gleichen Schritt halten, um sein Verdienst nicht zu kompromittieren. Allerhand Hochachtung vor den Samaritern aber wenn ihre Eile den Eindruck macht, daß nicht sie dem Unglück, sondern das Unglück ihnen wie gerufen kommt, dann laufen sie Gefahr, daß man sie für Ästheten hält. Und die Peinlichkeit dieses Eindrucks wird vermehrt, wenn die Ansichten der Verunglückten [27] über den Wert der Hilfeleistung geteilt sind. Aus den divergierenden Darstellungen der italienischen Presse geht nicht ganz klar hervor, ob der politische Haß oder bloß die Abneigung gegen die Wiener Mehlspeisen die Begeisterung der Italiener für die Wohltat der Feldküchen gedämpft hat. Ich stelle es mir ja besonders gräulich vor, wenn ein Catanier Maccaroni verlangt — was er übrigens auch in erdbebenlosen Zeiten zu jeder Stunde des Tages und gegenüber jedermann tut —, und Herr Charas antwortet: Bedaure, kann nicht mehr dienen; oder wenn ein Catanier Wiener Maccaroni verschmäht und Herr Charas ihn trotzdem fragt: Schon bestellt, bitte? Immerhin, der Chefarzt der Rettungsgesellschaft mag recht haben, wenn er die Angriffe der italienischen Blätter als lügenhaft bezeichnet und den Interviewern versichert, die Leute hätten die Erzeugnisse der Feldküchen »geradezu verschlungen«. Aber die Ärzte, deren Kollege der Mann ist, sagen, der Erfolg, daß den Cataniern die Wiener Maccaroni nicht in der Kehle stecken geblieben sind, sei der Ruhm eines Kochs, vielleicht der eines Kellners, aber gewiß nicht der eines Arztes. Und sie nehmen es übel, daß in Sizilien die Wiener Speisesitten selbst bis zu jenem Punkt konsequent befolgt wurden, wo das unvermeidliche Trinkgeld die Mühe der Servierung lohnt.
Darum erscheint mir der Phonograph
… Das unterscheidet ihn von unsern Parvenüs der Satire, die plötzlich in ihrem öden Hirn den Hang zur Weltverbesserung entdeckt haben. Es gibt keine Torheit, keine Verkehrtheit, keine Lächerlichkeit, keine Mode, in die sie selbst nicht eingeschlichen sind, keine närrische Clique, der sie sich nicht angebiedert haben — mit einemmal aber ein Ruck, und sie fühlen sich für gesellschaftliche Satire berufen. Ihre Schriften starren von Eitelkeit, und sie verhöhnen die kleinen Eitelkeiten andrer Menschen. Doch man fühlt, wie fremd ihnen diese Wege sind; man fühlt es an ihrer eigenen Überraschung, an der unnatürlichen Wucht, mit der sie auftreten, um die innere Unsicherheit zu verbergen; man merkt es an ihrem verdickten Humor, an der erzwungenen Lustigkeit, an den Schweißtropfen, die von ihren Witzen fallen … Hätte es der Kritiker deutlich gemacht, daß er mich mit dieser Meinung treffen wolle, so stünde meine bessere Meinung gegen seine, ich würde nur die Kritik der Eitelkeit unterschreiben und hätte im Übrigen nichts gegen eine ungerechte Absicht, wenn sie nur Absicht wäre. Was mich trifft, ist die fehlende Absicht. Der Kritiker hat die dramatischen Dilettanten gemeint, die uns [32] neuestens mit dem Nachweis belästigen, daß auch in gräflichen Familien nicht alles so ist, wie es in den Familien des Schottenrings sein sollte. Er hat allerdings den Fehler begangen, die Vorstellung, die heute ein Angriff auf einen nichtgenannten Wiener Satiriker in bösartigen Dummköpfen erzeugt, nicht rechtzeitig zu unterbinden, und so kam es, daß mir die Stelle vielfach ins Haus geschickt wurde. Daß ich keinen Humor habe, solche Versicherung entschädigt viele dafür, daß der Vorwurf der Cliquenanbiederung selbst sie von meiner Spur ablenkt. Aber schließlich muß man ihnen den guten Glauben zubilligen. Sie konnten es für die Art halten, einen Schriftsteller anzugreifen, der eben in der Wiener Presse nicht deutlicher bezeichnet werden darf. Nun ist nichts peinlicher als ein Angriff, der einem nicht gilt. Man fühlt natürlich nicht, daß man getroffen ist. Aber man fühlt immerhin, daß man nicht getroffen ist.
… Also eine veritable Suppée-Renaissance, die aus der Not der modernen Operette eine Tugend macht. Die unlogische Operette gewinnt in der Zeit der Versuche, das Genre zu »vertiefen«, und man stürzt sich in den Unsinn, den eine natürlich quellende Musik vergessen läßt, statt sich einem Sinn zu bequemen, dem wohl der größeren psychologischen Wahrhaftigkeit zuliebe alle Melodie abhanden gekommen ist. Die romantischen Unwahrscheinlichkeiten der »Fatinitza«, sie spielt im Krimkrieg, also gewiß ein illustrativ ergiebiges Milieu, stellen sozusagen die Reinkultur des Operettenunsinns dar. Unmotiviertes ereignet sich, man singt, ohne vorher zu sagen warum man singt, und es bleibt lediglich dem Temperament, dem Spielelan der Darsteller überlassen, den Umschwung aller Gefühle zu motivieren, die Folge gesprochener und gesungener Worte zu einer logischen zu machen. Keine Operettenpsychologie kann es deuten, warum jemand, der mit einer Dame soeben sehr angelegentlich über Privataffären gesprochen hat, ihr dieselben Angelegenheiten noch einmal in Gesangsform auseinandersetzt, keine Psychologie wird den Operettengeneral zu einer menschlichen Figur gestalten können, weil, wie der Mann nur zu singen anfängt, alle Wahrhaftigkeitsillusion verfliegt. In »Fatinitza« ist eine ganze Armee unwirklicher Soldaten bemüht, keine logischen Einwände aufkommen zu lassen. Und von einer heiteren, graziösen, originellen Musik bestrahlt, siegt der Unsinn mühelos …« Das ist seit zehn Jahren ein eigenartiges Schauspiel, wie sich die Wiener Publizistik zu mir stellt. Der Heroismus, mit dem sie meinen Namen ablehnt, hat etwas Ergreifendes. Es wäre ja [33] gar keine Kunst, mich zu nennen. Und wie oft bietet sich nicht ein Anlaß! Jedes Heft der ‚Fackel‘ bringt neue Ideen, die sich für das Feuilleton, für Glossen und Notizen, für die Kritik von Kunst und Gesellschaft famos abplatten lassen. Es ist oft sehr schwer, meinen Namen nicht zu nennen, aber die Wiener Presse weiß sich zu beherrschen, und das macht ihre Größe aus. Da habe ich neulich etwas zur Ästhetik der Operette geschrieben — hastdunichtgeseh’n, steht es in einer Theaternotiz. Morgen vielleicht in einem Essay. Erscheint dieser dann in einem Buch, so wird die Originalität solcher Ideen gelobt werden, und von meinem eigenen Buch erfahren ja die Leser nichts. Die Presse ist in der Tat oft schon nahe daran, meinen Namen zu nennen, immer glaubt der Leser, jetzt, in der nächsten Zeile müsse er kommen. Aber eine eiserne Willenskraft bewahrt die spröde Schöne vor dem Äußersten, und sie knöpft mir bloß das Geld ab. Es ist, als ob Nachdruck ihr nur ohne Quellenangabe gestattet wäre. Ein Blatt aber, in dem meine moralsatirische Betrachtung tagtäglich den Glossenschreibern hilft, tut noch ein übriges. Es streicht sogar meinen Namen aus dem Inhalt einer deutschen Zeitschrift, den es abdruckt. Eigentlich behagt mir dieser Zustand. Es wäre ja scheußlich, wenn man mich wie alle anderen zeitgenössischen Schriftsteller mit Reklame dafür entschädigen müßte, daß man keine Gedanken von mir nehmen kann.
» … Und nun entwickelte der Vortragende eine Historie des Tanzes; man vernahm erstaunt, daß diese fröhliche graziöse Kunst ebenso eine Geschichte habe, wie eine andere Kunst und daß sie ebenfalls Gegenstand ernsten Studiums sein könne. Der erste Tanz, der sogenannte Promenadentanz, entstand zu Florenz im 15. Jahrhundert; es tanzte ein Paar durch den Saal, während die übrige Gesellschaft bewundernd zusah.« Und wann wurde das Schreiben erfunden? Man wird erstaunt vernehmen, daß auch diese fröhliche graziöse Kunst ihre Geschichte habe, aber bedauern, daß sie nicht ebenfalls Gegenstand ernsten Studiums sei. Denn der erste Artikel, das sogenannte Feuilleton, entstand zu Wien im 19. Jahrhundert; ein Schmock schrieb, während das Publikum bewundernd zusah.
Sie schreiben in den ‚Signalen‘ vom 6. Jänner 1909: »Noch wäre die Aufführung eines neuen Streichquartetts von Arnold Schönberg zu erwähnen. Ich beschränke mich auf die Konstatierung, daß es zu einem heillosen Skandale kam, wie ein solcher in einem Wiener Konzertsaale bisher noch nicht erlebt worden war. Mitten drin in den einzelnen Sätzen wurde anhaltend und stürmisch gelacht und mitten drin im letzten Satze schrie man aus Leibeskräften ‚Aufhören! Schluß! Wir lassen uns nicht narren!‘ Ich muß zu meinem Leidwesen konstatieren, daß ich mich zu ähnlichen Rufen hinreißen ließ. Zum ersten Male in meine zwanzigjährigen Praxis. Gewiß, ein Kritiker hat im Konzertsaale kein Mißfallen zu äußern. Wenn ich aus meiner gewohnten Reserve trotzdem heraustrat, so will ich damit nur den Beweis liefern, daß ich physische Schmerzen ausstand, und wie ein arg Gepeinigter, trotz aller guten Absicht selbst das Schlimmste zu überwinden, nun doch aufschreien mußte. Indem ich hier öffentlich mich selber tadle, habe ich auch das Recht gewonnen, über meine Angreifer zu lächeln. Diese, ungefähr ein Dutzend an der Zahl, behaupten, daß das Quartett Schönbergs ein Kunstwerk sei, daß wir anderen es nicht verstehen, ja daß wir nicht einmal die Beschaffenheit der Sonatenform kennen. Nun, ich für mein Teil bin gern bereit, vor jedem Areopag die Prüfung aus der Harmonielehre, Formenlehre und allen anderen musikalischen Disziplinen abzulegen. Ich habe freilich noch nach dem Muster der ‚Alten‘ studiert und könnte mithin meine Prüfung nur bei den Befolgern des ‚alten Systems‘ bestehen. ‚Das gilt nicht!‘ — sagt das Dutzend. Auch gut.« Ich gehöre nicht zu dem Dutzend, welches sagt: »Das gilt nicht« und will Ihnen das beweisen, indem ich jeden »Areopag« annehme, er möge nach dem »neuen« oder nach dem »alten System« zusammengesetzt sein. Im Gegenteil, ich schlage Ihnen für einen derartigen »Areopag« die folgenden Herren vor, die hoffentlich bereit sein werden, dieses Amt zu übernehmen: Herrn Professor Robert Fuchs, Herrn Prof. Dr. Eusebius Mandyczewsky, Herrn Professor Richard Heuberger, Herrn Professor Hermann Grädener, Herrn Professor Josef Labor. Ich fordere Sie nun auf Grund Ihrer Erklärung heraus, diese Prüfung »aus der Harmonielehre, Formenlehre und allen anderen musikalischen Disziplinen«, zu der Sie sich doch wohl unter der Voraussetzung bereit erklärt haben, daß man sie von Ihnen verlangen kann, vor diesem »Areopag« abzulegen. Wie Sie es wünschen — ich [35] überlasse Ihnen, wie Sie sehen werden, auch die Wahl der Waffen —, wird die Prüfung nur nach dem »alten System« geschehen, nach dem Sie ja studiert haben, und ich überlasse es Ihnen, die Theoretiker, die der Fragestellung zugrunde liegen sollen, selbst zu nennen. Ich stelle nur die folgenden Bedingungen: Die Prüfung findet öffentlich statt und die Fragen werde ich selbst an Sie richten. Ob Sie entsprochen haben, mögen die Herren vom »Areopag« beurteilen. Sie haben nun Gelegenheit, zu erweisen, was Sie behaupten. Entziehen Sie sich dieser Prüfung aus was immer für einem Grund, so bekräftigen Sie dadurch zur Evidenz, daß Sie sie zu scheuen haben. Arnold Schönberg.
»… Das Galeriepublikum scheint den Charakter dieser Künstlervereinigungen mißverstanden zu haben und erwartete insbesondere das Erscheinen wirklicher Scharfrichter auf der Bühne. Da es sich enttäuscht sah, begann es seinem Unwillen Ausdruck zu geben, zunächst durch Murren. Als aber Hugo Wolf-Lieder vorgetragen wurden, begann die Galerie laut ‚Pfui!‘ zu rufen....« Nun möchte ich ja gerne der Auffassung beipflichten, daß das Publikum empört war, weil Hugo Wolf-Lieder von Kabaretiers gesungen wurden, anstatt von Sängern. Aber sympathischer ist mir doch die andere Auffassung, daß nämlich das Publikum empört war, weil die Kabaretiers Hugo Wolf-Lieder sangen, anstatt eine Hinrichtung vorzunehmen. Man kann nicht genug Züge aus dem Leben des Publikums zusammentragen. Einst prügelte es den Schauspieler, der den Franz Moor spielte, jetzt prügelt es ihn, wenn er unter diesem Pseudonym Lieder singt. Als ich einmal mit meiner kleinen Nichte einer Vorstellung des Lustspiels »Goldfische« beiwohnte, hörte sie drei Akte lang mit gespannter Aufmerksamkeit zu, bis ihr endlich die Geduld riß und sie aus voller Kehle rief: »Wo sind die Goldfische?« Auf diesem Standpunkt steht heute das erwachsene Theaterpublikum. Seine Äußerungen gehören in die [36] Rubrik »Aus Kindermund«. Immer ist es in teilnahmsvoller Spannung, und es verträgt nur nicht, daß man ihm Rätsel zu lösen gibt. Wenn ein Dramatiker zum Beispiel im ersten Akt 100.000 Gulden verschenken läßt und den ganzen Abend hindurch von dieser großmütigen Handlung nicht mehr die Rede ist, so wird man im verzweifelten Ringen um die Garderobe die bange Frage hören: »Ich möcht’ nur wissen, was mit den 100.000 Gulden geschehen ist!« Wie kann die Theaterästhetik so herzlos sein, von den Direktoren immer wieder zu verlangen, daß sie Ibsen spielen! »Tus nicht!« rief ein braver Mann von der Gallerie dem Tell zu, als er eben auf das Haupt des leiblichen Kindes anlegte. Als aber einmal auf der Bühne des Burgtheaters eine Person in einem französischen Sittenstück den Satz aussprach: »Es ist eine schöne Pflicht der großen Banken, notleidenden Kaufleuten beizustehen!«, rief eine Damenstimme aus einer Loge ein langgedehntes, inhaltsschweres »Bravo!«. Einen Kritiker, der gern in Bildern spricht, traf dieses Familienschicksal, das wie ein Operngucker ins Parkett fiel, direkt auf den Kopf.
Jede Zeitung, von der ersten bis zur letzten Zeile, ist nichts als ein Gewebe von Schrecken. Kriege, Verbrechen, Diebstähle, Schamlosigkeiten, Martern, Verbrechen der Fürsten, Verbrechen der Nationen, Verbrechen der Einzelnen, ein Rausch von allgemeiner Scheußlichkeit. Ich begreife nicht, wie eine reine Hand das anrühren kann, ohne vor Ekel zu zucken! »Es bedarf keines Hinweises«, bemerkt ein deutsches Blatt zu diesem Zitat, »daß sich Baudelaire auch hier in einer splendid isolation sondergleichen befindet«. Aber ich nicht!
Karl Kraus.
Anmerkungen (Wikisource)
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