Textdaten
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Autor: Stefanie Keyser
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Titel: Glockenstimmen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 46–52, S. 741–745, 757–760, 773–776, 789–793, 805–811, 821–827, 838–845
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[741]

Glockenstimmen.

Eine Bürgergeschichte aus dem 17. Jahrhundert.
Von Stefanie Keyser.

Hilf Gott! berath! hilf Gott!

So rief die kleine Signirglocke ihr Sprüchlein, welches vor zwei Jahrhunderten der fromme Glockengießer als Inschrift ihr eingegossen hatte. Sie verkündete der guten Stadt Arnstadt die Mittagsstunde.

Die Zeitläufte waren wieder darnach angethan, daß die Bürger ihre Füße geruhig unter den gedeckten Tisch zu strecken vermochten. Der furchtbare Krieg, der dreißig Jahre in dem heiligen römischen Reich deutscher Nation gewüthet hatte, war zu Ende geführt, der Friede mit der bräuchlichen Formel „für jetzt und ewige Zeiten“ geschlossen, verbrieft und besiegelt worden, und das deutsche Volk ging wieder einmal an’s Flicken und an’s Stückeln.

In Arnstadt machte diese Arbeit nicht allzu viel zu schaffen, maßen es nur insoweit gelitten hatte, als für eine streng lutherische Stadt sich unumgänglich geziemte. Denn es lag, an den Fuß des Thüringer Waldes geschmiegt, abseits von den großen Heerstraßen und vor streifenden Truppen durch gedoppelte Mauern und feste Thore geschützt. Wenn dennoch einmal die Wächter, die von den Thürmen der Stadt und dem hohen Schloßthurm der gräflich Schwarzburgischen Residenz Neidecke in das Land spähten, einen feindlichen Haufen gemeldet hatten, der bis an die Wassergräben herangekommen war, dann hatten die Bürger ihre Säckel geöffnet und sich von der Kriegsfurie losgekauft, oder, so die Einlagerung nicht abzuwenden gewesen war, die fremde Soldateska so wohl aus ihren vollen Kellern tractirt, daß diese ein Einsehen genommen und wiederum die Stadt glimpflich behandelt hatte. Ereignete es sich bei solcher Heimsuchung, daß die Rittmeister in den Straßen sich todt hieben und stachen, oder der Obrist ein paar widersetzliche Soldaten auf dem Marktplatz henken ließ, so genossen sie des Schauspiels und priesen heimlich die göttliche Fügung, daß ein Bösewicht den andern auffressen mußte. Als aber der Löwe von Mitternacht, wie Gustav Adolph genannt wurde, herangezogen war, da hatten sie ihm Thor und Thür aufgethan, schalmeiet und ihn angeblasen, auch darauf gegen die ganze Nachbarschaft ob der Ehre, die ihnen widerfahren war, sich gerühmt.

Jetzunder handelten sie wieder als Männer von Einsicht und Verstand: sie griffen zur Arbeit. Die fruchtbare schwarze Erde der Stadtflur, welche sich zwischen der Altenburg, den drei Gleichen und der vom Thüringer Waldgebirge herab rauschenden Gera hinstreckt, trug schwere Weizenähren, die nun kein Rosseshuf mehr bedräute; unter dem Walpurgisholze hin zogen sich die Hopfenpflanzungen in schnurgeraden Reihen, die Stangen wurden nicht mehr in Wachtfeuern verbrannt. Die Brauhäuser dampften Tag und Nacht, auf daß sich die leer getrunkenen Fässer wieder füllten. Auf schwanken Gerüsten standen die Tüncher und frischten die Gemälde auf, welche die Häuser zierten und ihnen ihre Namen verliehen. Unter ihrem Pinsel erstund ob der Hausthür der Frau Schmidtin am Sperlingsberg der wachsame Kranich mit seinem Stein in der rechten Klaue in glänzendem Braun, gleich der Frucht des Kästenbaumes, wie man die Kastanien benamste; erneute sich an dem Hause des berühmten Brauherrn Nicolaus Fischer auf dem Rieth in allen Farben des Regenbogens die Schilderei, welche den großen Christopher darstellte, wie er, einen Tannenbaum als Wanderstäblein in der Hand, den Heiland der Welt durch die Meerfluth trug. Und da Friedenszeiten stets die Schreiberei begünstigen, so klapperte auch die weit und breit berühmte Papiermühle, welche sich am Liebfrauenkirchhof mit roth gemalten Balken und vorspringenden Stockwerken erhob, so rastlos, wie der Weißebach rauschte, der sie trieb. Nur heute am dritten Pfingstfeiertag stand sie still.

„Sie läuten Mittag, Hanne,“ sagte die Papiermüllerin, Frau Henningin, indem sie in die Küche trat, angethan mit einer großen blauen Schürze, an der ihr jüngster Sohn, das Benjaminlein, hing. Allda war Johanne, die älteste Tochter, beschäftigt, das Tischgeräth vom Schüsselbrett zu langen. Das junge Mädchen prüfte mit scharfem Blick die wie Silber glänzenden zinnenen Teller und Näpfe. Dann rief sie der Magd zu: „Trine, die Stockflecken wollen noch immer nicht weichen, die sich dem Geschirr dazumal einverleibt haben, als es vor dem Volk des Königsmark im Keller vergraben worden war, und der Napf hat die Beule behalten von dem Wurfe, den der Krawat nach Dir damit gethan hat.“

Trine, in einem Mützchen, das gleich einer breit gedrückten Düte auf dem Kopf saß, mit einem kümmerlichen Schleifchen im Nacken, wie es solch armem Mensch zukam, beugte das zusammengewelkte Gesicht mit den Heidelbeeraugen und dem runden Pflaumennäschen über den Suppennapf und antwortete seufzend: „Das kostbare Geräth trägt es in alle Ewigkeit nach, daß ihm einmal ungebührlich begegnet worden ist. Mir heilte die Kopfnuß schneller.“

„Der liebe Gott weiß, warum er seine Menschen prüft,“ sagte Frau Henningin mit einem mißvergnügten Blick auf ihr [742] verunziertes Geschirr. „Ist das Essen gar? Es giebt freilich nur ein altes Huhn mit Reis und Safran; aber am dritten Feiertag kann man sich daran genügen lassen. Und es ist gut, so wir das Mahl bald auf die Seite bringen; denn nach der Nachmittagsbetstunde mußt Du im Staat sein, Hanne, auf daß Du rechtzeitig zum Maienfest kommst.“

„Ja,“ rief der Papiermüller vom Hausflur her, wo er wegen alter Lumpen mit ein paar struppigen Kerlen feilschte, „und heute besonders darfst Du Dich nicht versäumen.“

Johanne lachte hochfahrend auf bei diesen Worten und drehte mit dem Scheuerwisch die kunstgerechte Flamme aus die große Fleischschüssel.

„Wo steckt Hermann, daß er die Lumpen fortschafft?“ fragte der Papiermüller ungeduldig. „Gewißlich ist er wieder auf dem Glockenthurm. Ich werde ihm derohalb einmal den Kopf waschen.“

Jetzt verließ Johanne ihre Zinnteller und nahm sich der Lumpen an, während Herr Henning seinen alten Vater aus der Stube auf den Hausflur rief, um mit ihm zu berathen, wie viel Heller den Händlern zu zahlen seien. Auch Frau Henningin trat hinzu, als die Lumpen in einen Korb geschüttet wurden.

„Solche Feldbinden,“ seufzte sie, auf einen großen scharlachnen Lappen deutend, den das Benjaminlein herauszog, „hatte das Pappenheim’sche Volk, das unsere Stadt brandschatzte. Damals wurden alle Spartöpfe geleert. – Da ist auch ein Stück von einem blau gestärkten Kragen, wie die vom Merode’schen Regiment trugen, deren Obrist mit fünf Soldaten bei unserem Superintendenten Schuckeln einrückte und ihn zur Rede setzte wegen seiner Strafpredigt gegen das zuchtlose Soldatenvolk. Ist aber von Seiner Hochehrwürden niederdisputiret worden. Und sieh! das ist ein Stückchen von einer gelben Feldbinde, wie sie die Evangelischen um die Schultern geschlungen hatten, die mit dem Gustavus Adolphus unsere gute Stadt heimsuchten.“

Der Großvater schaute nachdenklich auf die Lumpen. „Da liegen die feindlichen Farben nun so friedlich bei einander, und die sie einst in bitterem Hader gegen einander trugen, sind längst des Todes verfahren. Der alte Schrammhans, wie sie den zersäbelten Pappenheim nannten, und unser Löwe von Mitternacht an einem Tage. Und über ein Kleines werden ihre Feldbinden weißes Papier und ihre Thaten darauf verzeichnet sein zu Nutz kommender Geschlechter. Das ist Welt.“

„Die Lumpen riechen wie Moder,“ sagte Johanne, „ich graue mich davor.“

„Man darf sich vor keiner Arbeit scheuen,“ rügte der Papiermüller.

„Du sollst Dich nicht damit befassen, Hannchen,“ tönte eine frische Stimme dazwischen, und Hermann sprang in den Hausflur. Es war ein schlanker Bursch, oben aus dem groben Röcklein, unten aus den Stiefeln herausgewachsen; er trug keine Kappe, und das blonde Haar war ihm sonder Kunst über der Stirn und im Nacken mit einem Schnitt gestutzt. Aber wenn Gewandschneider und Haarkräusler ihn im Stich gelassen hatten, so war Mutter Natur desto fürsorglicher gewesen. Sie hatte ihm eine kräftige und doch biegsame Gestalt gegeben, treuherzige blaue Augen, blitzende Zahnreihen, und die dicken Haarwellen auf der freien Stirn ihm ebenso anmuthig geringelt wie den flaumigen Bart um die lächelnden Lippen.

„Hermann, wo hast Du gesteckt?“ fragte ärgerlich Frau Henningin.

Er wurde roth. „Ich habe dem alten Fabian läuten helfen.“

„Immer, wenn man Dich braucht, sitzest Du auf dem Thurm,“ fuhr ihn der Papiermüller an. „Bist Du doch wie an die Glocken gebannt.“

„Es ist meine einzige Freude,“ erwiderte Hermann bescheiden.

„Glockenklang ist mir die lieblichste Musika.“

„Als ob in dieser Welt ein solcher armer Hiob Zeit hätte, einer lieblichen Musika, die gerade nach seinem Gelüst ist, zu lauschen!“ strafte der Papiermüller. „Lies lieber die Lumpen aus.“

Aber da stürmten noch zwei Kinder herein.

„Nein; erst hilft er mir meine Maie ausschmücken,“ bat der achtjährige Bastian. „Schlag zwei Uhr ziehen alle Jungenschulen aus.“ Er drängte ihm eine frische Birke und einen Korb voll purpurner Pfingstrosen und goldgelber Butterblumen mit grünen Herzchen auf, die an die Zweige gebunden werden sollten, und Christel, die zehnjährige Tochter, trug Johannens blau und silbernes Wockenband als Zierrath herbei.

„Ich möchte von ihm das Gebet für den dritten Pfingstfeiertag gelesen haben,“ sagte der Großvater. „Ihr wäret Alle in der Kirche; bei mir thun’s die Füße und die Augen nicht mehr.“ Und er nahm das Gesangbuch von der Kannrücke, wo es seinen Platz hatte neben einem mit Pfauenfedern aufgeputzten Glaskrug, auf dem Doctor Martin Luther abconterfeit war.

„Nein, schläfere das Benjaminlein ein,“ befahl Frau Henningin, „dieweil ich die Speisen anrichte.“ Sie reichte dem schlanken Burschen den Mantel hin.

Hermann sah von Einem zum Anderen, rathlos, wo zuerst zu beginnen sei. Mit einem scheuen Blick streifte er den dargereichten Kindermantel. Da trat Johanne dazwischen. Trotz ihrer feinen Gestalt hatte sie einen festen Schritt; sie hob das nußbraune Köpflein selbstbewußt in die Luft. „Zuerst hilft er mir die Lumpen fortschaffen!“ sprach sie mit einer Entschiedenheit, die man dem kleinen erdbeerrothen Mund nicht zugetraut hätte. „Und wenn ich zum Tanz gehen soll und Ihr könnt nicht mitgehen, so muß Hermann mich hinbringen und heim geleiten, wie es immer gehalten wurde, seitdem Bruder Zacharias gen Frankfurt auf die Wanderschaft gezogen ist.“

„Aber Du sollst ja heute mit dem Brauherrn Fischer gehen,“ klagte die Mutter.

„Ich gehe nicht mit Fischer’s Nicolaus,“ erwiderte schnippisch Johanne.

„Warum nicht?“ fragte der Papiermüller. „Er ist der Sohn des Mannes, der unserer Stadt zu ewigem Ruhm verholfen, dieweil er das Weizenbier erfunden hat, und wandelt würdig in den Fußstapfen seines Vaters weiter.“

Frau Henningin schlug die Hände zusammen. „Und was würde die Muhme Schmidtin sagen, die dem Fischer versprochen hat, Dich ihm als Tänzerin zuzuführen?“

„Sie wird inne werden, daß die Hanne Henningin sich nichts befehlen läßt,“ antwortete Johanne.

„Ich ginge auch nicht mit ihm,“ meinte Christel. „Wenn er Abends vom Bier nach Hause geht, wankt er hin und her, gleich einem Heuwagen, und gestern hat ihn der Vetter Rathsbrunnenmeister wieder nach Hause führen müssen. Gelt, Hanne?“

„Und im Weißebach hat er auch schon gelegen bei unseren Enten,“ lachte Bastian. „Nicht wahr, Hanne?“

Und Benjaminlein, das auf dem Arm der Mutter saß, krähte vergnügt mit, da es seine Geschwister lachen sah, und zauste die Mutter an der gebrannten Spitze, die ihre steif gestärkte schwarzseidene Haube gleich einem Heiligenschein umgab.

Der Papiermüller lächelte, und nickte gewichtig mit dem Kopfe. „Ja, unser braves Weizenbier ist stark. Es war sogar stärker und schlauer als der Pappenheim’sche Obrist mit seinem ganzen Stabe. Es hat ihn so herabgebracht, daß er die Schuldverschreibung der Stadt über zweitausend Thaler, welche er der Bürgerschaft durch gräuliche Drohungen abgepreßt hatte, vergaß und im Gasthof ,zum güldenen Schwanen’ liegen ließ, auf daß ein hochweiser Rath selbige verbrennen konnte. Es ist dem Nicolaus nicht zu verdenken, wenn er seinem Gebräu die gebührende Ehre erweist. Ein Räuschlein hat noch keinem Freier geschadet.“

Aber Johanne hörte nicht. Sie hatte mit Hermann den Lumpenkorb ergriffen und die Thür zu der Mühle geöffnet, um ihr neues Futter zuzutragen. Das Brausen des Baches, der darunter hintoste, verschlang die Worte.

„Armer Junge,“ sagte sie zu ihm, als sie allein in dem Raume waren, da heut die Mühlburschen feierten, „Allen mußt Du dienen, und Niemand dankt es Dir.“

Er sah mit einer fast andächtigen Innigkeit in ihre schimmernden rehbraunen Augen. „Ich habe die Gutthat zu vergelten, welche Deine Eltern an mir übten, da sie mich als armes Waisenkind in ihr Haus nahmen, und Gott weiß, daß ich allezeit mit Freuden thue, was ich Euch an den Augen absehen kann. Am liebsten freilich arbeite ich für Dich,“ schloß er schüchtern.

Sie schüttelte weise das Köpfchen. „Man muß sein Herz nicht allezeit auf der Zunge haben, nicht, wenn es vor Freude hüpft, nicht, wenn es wehleidig schlägt,“ belehrte sie ihren Schützling, der sie um zwei Kopfeslängen überragte. „Du hältst etwas auf mich, weil ich gut gegen Dich bin, nicht leide, daß Du das Benjaminlein wiegst, und Dir von dem weiten Wamms des [743] Urgroßvaters geholfen habe, in dem Du aussahst wie der Knecht Ruprecht. Das ist ganz in der Ordnung. Aber Du brauchst es nicht auszurufen wie der Bierrufer das aufgethane Bier; es versteht sich von selbst. Du magst den Nickel nicht leiden. Solcher Gefühle kann der Mensch sich nicht gänzlich entschlagen: aber Du treibst Deinen Haß zu weit. Wenn Du ihn siehst, bekommst Du einen rothen Kopf. Das ist unchristlich.“

„Schilt mich nur, Hannchen,“ sagte er demüthig. „Du weißt, wie gern ich still halte. Wenn Du mir nur dafür versprichst, daß Du heute nicht mit ihm auf dem Maienfest tanzen willst.“

Sie zog wichtig die zart gezeichneten Augenbrauen in die Höhe. „Das kann eine Tochter aus der Papiermühle dem ersten Brauherrn der Stadt nicht abschlagen. Man muß seinem Stand gemäß sich aufführen. Sieh mich doch nicht so verzagt an! Ich nehme Dich ja mit, daß Du auch Deine Lust hast und nicht den ganzen Nachmittag dem Großvater aus der Postille vorlesen mußt.“

„Ich eine Lust haben?“ fragte er, schwermüthig lächelnd. „Vielleicht, daß ich zusehen darf, wie Du Dich mit dem Nicolaus schwenkst? Wenn ich auch mit Schneiders Lieschen tanzen wollte –“

Sie fuhr auf. „Du wirst doch nicht mit der Liese tanzen? Die ist ja ein Fuchs, und sagt nicht das Sprüchwort, daß an einem solchen kein gutes Haar ist?“

„Das ist auch ein unchristliches Wort,“ mahnte Hermann; „Lieschen ist kein schlechtes Mädchen.“

Johannens Rosenwangen hatten sich mit einem feinen Purpur gefärbt. Heftig stürmte sie auf ihn ein: „So gehe und tanze mit ihr. Ich bleibe zu Haus und trage das Kind und schwatze mit dem Großvater von Historien, die sich vor hundert Jahren begeben haben, und stelle die Mühle und fege die Lumpen zusammen.“

„Hannchen,“ sagte er sanft, „weshalb bekommst Du nun einen rothen Kopf? Du sollst ja zum Tanz gehen und lustig springen, und ich darf zuschauen, gelt?“

Sie gewährte es ihm mit versöhntem Kopfnicken. Der Klang der Hausschelle rief sie in den Hausflur zurück.

„Das Gott erbarm! Ist das Leben eine Plage!“ tönte es ihnen entgegen, und eine stattliche Bürgersfrau wandelte herein im schwarzen Tuchmantel, eine steil aufgerichtete schwarzseidene Mütze auf dem Kopf, die am Rücktheil eben solche steife Bandschleifen gleich einem ausgebreiteten Pfauenschweif schmückten.

„Morgen habe ich große Wäsche. Was muß ich dazu alles vorrichten! Kuchen, Seife, Lauge. Und nun ist auch noch das Maienfest.“

Der Papiermüller lachte in seiner selbstgefälligen Weise, „Laßt’s gut sein, Muhme Schmidtin. Ihr Weibsen schafft, weil es Euch eine Freude ist. Derohalb erhebt Ihr Eure Arbeiten zu Festen, wie die Namen Waschfest, Schlachtfest, und – Gott behüt’ uns! – Scheuerfest besagen.“

„Du lieber Gott!“ rief die Schmidtin, „als ob wir die Worte erfänden! Das vollbringen die Männer, und wir armen Kreuzträgerinnen müssen nach ihnen thun und, so wir waschen, Kuchen backen, so wir schlachten, Fische sieden, wir haben allezeit die Plage, der vielwerthe Ehewirth hat das Fest.“

„Habt Ihr auch einmal einen Ehewirth gehabt, Muhme?“ fragte Bastian.

„Die Leute sagen, es sei immer nur eine Muhme Schmidtin allhier genannt worden,“ setzte Christel hinzu, „und der Meister Schmidt habe, hinter dem Backofen nicht herfür gedurft, darinnen er die kleinsten Semmeln in Arnstadt gebacken habe.“

„Daß Gott erbarm! Was erzieht Ihr für Früchtchen, Muhme Henningin!“ zeterte die Schmidtin.

„Soll ich mit für die Muhme decken?“ unterbrach sie Johanne. „Wollt Ihr fürlieb mit uns nehmen?“

„Sieh da, das Mühmchen!“ rief die Schmidtin beschwichtigt. „Immer gastfrei, wie für die Jungfer sich geziemt, bei der der reichste Bürger und Brauherr auf Freiersfüßen geht. Ist der Hermann ein Tolpatsch! Da läßt er einen Teller fallen. Ja, was ich sagen wollte, Hanne. Putz Dich dem Fischer nur recht in die Augen, auf daß Dich die Barbe vom Tuchmacher Brotkorb nicht aussticht. Sie ist zwar ein wahres Lerchenei mit ihren Sommersprossen; aber sie hat doch ein Auge auf ihn geworfen.“

„Dann soll sie das andere auch noch auf ihn werfen,“ sagte Johanne, indem sie die Tafel deckte. „Christel, streue die Maßlieben auf den Tisch! Wie hübsch die gefüllten blassen und dunkelrothen Blümlein auf dem weißen Tischtuch aussehen. Trine, setze den Suppennapf neben mich! Muhme, nehmt Platz auf dem Ehrenstuhl neben dem Herrn Vater! Bastian, sprich das Tischgebet!“

Alles folgte den gebieterisch gegebenen Anordnungen. Und dann begann sie ebenso flink vorzulegen. Dem Hermann, der neben ihr zu unterst saß, schöpfte sie zuletzt auf; aber die Muhme erschaute neidisch, daß es ein schönes Bruststück war, und daß sein Schüsselein bis an den Rand gefüllt wurde.

„Du bist ja auch der Längste,“ entschied sie herrisch, da er bescheiden wehrte.

„Wahrlich, da tritt Herr Fischer schon die Gasse daher,“ rief plötzlich die Schmidtin, einen Blick durch die von Weinlaub umsponnenen Fenster werfend. „Welch eine höchst ansehnliche Statur er hat!“

Vom Markt herunter schritt ein junger Mann, dem sein Bäuchlein stattlich eine Elle vorausging. Er trug ein Staatskleid von feinem Tuch, aus dessen bunt umsäumten Aermelschlitzen feine holländische Leinwandpuffen sich bauschten, Strümpfe von weißem Tuch mit breiten Aufschlägen verziert; sein rundes blühendes Haupt bedeckte ein emporgekrempter Filzhut. Ein Mantel mit Bänderbesatz und Schlingen flatterte von den Schultern trotz des Pfingstwetters; denn ohne Mantel auf der Straße sich zu zeigen, wäre gleichbedeutend gewesen mit einem Ausgang in Hemdärmeln.

Johanne warf einen Blick hinaus. „Ich glaube, wir können aufstehn. Hermann, an Dir ist die Reihe, das Dankgebet zu sprechen.“

Stotternd, die Augen auf den Nahenden gerichtet, gehorchte dieser.

Sie stieß ihn ärgerlich mit dem Ellenbogen an: „Was ich gesagt habe, habe ich gesagt: wir gehen selband.“ Damit sandte sie die Magd mit dem Geschirr in die Küche, und dann klappte sie so fest die Treppe hinauf, als seien ihre Absätze kleine Spitzhämmer. Der Riegel an ihrem Giebelstüblein schnappte.

Der Botschafter manche pochten an die Thür, und es wurden verschiedentliche Aufforderungen durch das Schlüsselloch geflüstert, aber sie kam nicht zum Vorschein. Endlich ertönte gepreßt die Stimme der Mutter unten im Hausflur, und an dem Schlürfen, welches ihre Reden begleitete, wurde merkbar, daß sie allerhand Kratzfüße machte.

„Es thut uns von Herzen leid, daß Hanne Euer Geleit entbehren muß, dieweil sie sich mit ihrem Putz versäumt hat. Wollet deshalb keinen Haß auf uns werfen.“

Darauf zogen die alte Muhme und der junge Freier ab.

Die Kinder liefen mit der Maie fort. Auch das Ingesinde: Mühlburschen und Mägde, denen das Recht auf eine Festfreude nicht verkümmert werden durfte, ging zum Tanz. Das Ehepaar blieb daheim beim alten Großvater und dem jüngsten Kind, auf daß die Mühle treu gehütet werde.

Endlich klappte Johanne aus der Giebelstube herab. Sie hatte sich wahrlich schön gemacht, wenn sie auch in ernste Farben gekleidet war, wie das die Mode der Zeiten, die aus Kriege und andre Landplagen folgen, mit sich bringt. Sie trug ihren schwarzen Moorrock, der in viele steife Falten gelegt war, und über den eine weiße Schürze mit feinen Kanten sich spannte. Eine steif gefältelte Krause umstarrte den zierlichen Hals und fiel auf das Mieder von schwarzem Tuch nieder. Auch ihre Schmuckzierde hatte sie angelegt. Auf der Krause wiegte sich ein Halsband von Granaten, die in dem Ruf standen, angenehm zu machen vor den Augen der Menschen.

Athemlos eilte auch Hermann herbei in seinem zimmetbraunen Sonntagsrock, der aus einem abgelegten Mantel des Papiermüllers gefertigt war. Er hatte drüben im Garten neben dem Wasserthurm für Johannen ein Sträußchen von Balsam und Narden geholt. Mit diesen hohen Namen belegte man die bescheidenen Kräuter: Rosmarin, Spika, Minze. Zwischen ihren duftenden Blättern barg sich ein noch ganz geschlossenes Rosenknöspchen.

„Warum brachst Du es ab, ehvor es blüht?“ rügte sie weisheitsvoll und steckte das Sträußlein an ihr Mieder.

Er betrachtete sie mit leuchtenden Augen. „Ach, hätte ich [744] unsren Glücksducaten noch!“ rief er. „Das wäre ein schöner Anhenker an Deine Halskette. In der Mitte war das Auge Gottes geprägt, der Name Gottes des Sohnes und die Taube als das Sinnbild des heiligen Geistes, und rings um den Rand stand geschrieben: Hilf du heilige Dreifaltigkeit! Meine Eltern haben ihn gehütet wie ihren Augapfel; er war ihr einziger Schatz. Nur einmal in der Theuerung, da wir am Verhungern waren, hat mein Vater ein Stückchen mit seinem Schusterkneift herausgeschlagen und Brod dafür gekauft; aber meine Mutter war besorgt, daß keines der frommen Worte verloren ging. Die Jahreszahl mußte daran.“

„Die frommen Worte haben sich nicht bewährt,“ meinte Frau Henningin grämlich. „Da Dein Vater die goldene Münze gegen den Marodeschen Soldaten vertheidigte, der bei Euch eindrang, hat ihn der Mordgeselle erschlagen; den Glücksducaten aber hat er an die goldne Kette gehangen, die er um seinen Hals trug, und ist damit abgezogen.“

Ein Ausdruck von Zorn und Trauer verbreitete sich über Hermann’s Züge.

„Was wärmt Ihr die alten Historien auf?“ meinte Herr Henning ungeduldig. „Macht, daß Ihr fortkommt!“

Johanne bot den Eltern die Hand zum Abschiede.

„Verstauche Dich zum mindesten artiglich, so der Nicolaus Dich zum Tanze aufzieht, daß er sieht, Du hast Lebensart gelernt,“ sagte die Mutter mit verdrießlich hängender Unterlippe.

Auch der Papiermüller war ärgerlich ob ihrer Widersetzlichkeit gewesen. Aber da er sie so schön, keck und selbstbewußt dahin schreiten sah, mit dem Rockschweife wippend gleich einer Bachstelze, verflog ihm der Unmuth.

„Sie ist die schönste Jungfer in unserer guten Stadt, die doch so viele hübsche Mädchen hat, als sprängen sie wirklich aus dem Jungfernbrunnen im Jonasthale hervor,“ sprach er stolz.

„Aber es ist ein Kreuz und Leiden, daß sie einen solchen Starrkopf hat,“ nörgelte Frau Henningin.

„Der wird sich schon beugen,“ nickte der alte Großvater. „Ist’s nicht im Glück, ist’s im Leid, das den stärksten Willen zermürbt. Denn das Leid hat ewige Kräfte, unsere Kraft aber ist endlich.“

[757] Sobald das Anschlagen der Glocke den Schluß der Betstunde verkündigt hatte, waren die Bewohner der Stadt nach dem Maienfeste hinausgezogen. Das war ein lustiger Ort. An der einen Seite begrenzte ihn der gräfliche Ziergarten mit seinen Taxushecken, Wasserkünsten und Vogelhäusern, an der andern der rauschende klare Gerafluß. Feiner Rasen überzog den Boden, und mächtige Linden breiteten ihre jetzt mit Blüthen bedeckten Aeste schattend darüber. Am Rande des Angers waren Buden erbaut, in denen die auf dem Roste bratenden Würste mit den frischen Semmeln um die Wette lockten. Das Bier aber wurde in einem kühlen Keller geschänkt, der in den Hügel zur Seite gewölbt war.

Gar stattlich schritten die Brauherren heran. Schien auch die Sonne glühend vom Himmel, so trugen sie dennoch ihre mit kostbarem Marderfelle verbrämten Mäntel auf den Schultern, ihre Frauen die schweren ganz güldnen Hauben auf den gravitätisch aufgerichteten Köpfen; denn Hoffahrt muß Gezwang leiden. Die ehrbaren Meister nahten, und der Stolz des vollbürtigen Bürgers blähte sich in den Falten ihrer Sonntagsröcke von feinem Tuche, mit Borten besetzt, und raschelte in den bolzgerade getragenen schwarzseidenen Pfauenschweifhauben ihrer Ehegesponsinnen. Selbst der Bürgermeister Feldhaus fand sich ein, schwarz gekleidet, wie es den Rathsmannen zukam, und an Hals und Händen mit mächtigen weißen Ueberschlägen geziert. Er hatte die Hand in die Seite auf den Griff des Degens gestützt und grüßte mit dem runden Haupte leutselig nach allen Seiten. Respectvoll einen Schritt hinter ihm wandelte der Rathskämmerer. In langen Reihen sich führend, trippelten die sittsamen Töchter der Stadt heran, wohl beschaut von den Junggesellen, deren bunte Bandrosetten an Wämsern und Beinkleidern mit ihren Gesichtern wetteiferten in Rundung und Farbenpracht.

Unter einer Linde ballten sich die Jungfern zusammen, um das Biergewölbe schaarten sich die Junggesellen. Dann hielten die hoffnungsvollen Sprößlinge der Stadt ihren Umzug mit den geschmückten Maien. An ihrer Spitze wurde ein schneeweißes Lämmlein, mit Blumen und Bändern verziert, geführt. Der Brauch mochte aus uralter Heidenzeit stammen und der letzte Rest eines Opferfestes im Frühling sein.

In den Aesten der größten Linde war ein hölzerner Pfeiferstuhl errichtet, und darauf sammelten sich die Spielleute: der Stadtpfeifer mit der Zinke, der bucklige Zunftpauker, ein Fiedler und ein Trompeter, der von kaiserlichem Kriegsvolke während einer Einlagerung in Thüringen zurückgeblieben war. Von seiner Feldtrompete flatterte noch das verblichene Fähnlein mit dem eingestickten Adler. Mit einem Walzer huben sie den Tanz an. Bald wiegten sich die jungen Paare auf dem weichen Rasenteppiche im schleifenden Tanzschritte, derweilen die Linden dufteten, die Finken und Grasmücken in ihren Zweigen schmetterten, und die goldnen Sonnenstrahlen, durch das Gezweig in tausend Lichter gebrochen, auf dem lustigen Reigen spielten.

Erst als der Tanz vorüber war, erschien Johanne. Es entstand unter den Männern und jungen Gesellen ein wohlgefälliges Räuspern, als sie vorüber klappte; aber sie schaute nicht rechts und nicht links, wie für eine sittsame Jungfer sich ziemte.

Alsbald steuerte Fischer breitspurig auf sie los. Er zog sie zu einem Zweitritt auf. Sie verstauchte sich gebührlich und flog dann mit ihm in festem Schritte unter den Linden dahin, daß ihr weiter Rock gleich einem Rädlein sie umkreiste.

Da, wo die Gera unter dunklen Ulmen rauschte, stand Hermann und schaute herüber. Wohl zuckte auch in seinen jungen Füßen die Tanzlust auf; aber mit Hannchen durfte er keinen Reigen wagen, sie schwenkte sich nur mit Ihresgleichen, und unter den Mädchen seines Standes hatte er keine Bekanntschaft – auch kein Gelüst nach ihnen. Er sah es gar nicht, daß jetzt des Schneiders Mädchen an ihm vorüber strich und seine hübsche schlanke Gestalt musterte. Sein Auge folgte Hannchen, wie sie an der Hand ihres Tänzers ehrbar zu ihrem Platze zurückkehrte, dann aber sich abwandte und in die blühenden Linden hinauflugte, aus denen das Gesumme der Bienen tönte, und er sagte sich lächelnd: jetzt freut sie sich darüber, daß unsere Bienen so reichliche Honigtracht haben. Er wußte selbst nicht, warum ihm so wohl wurde bei dem Gedanken, daß sie lieber an das Bienenhäuschen im Garten beim Wasserthurme dachte, als an die reichen Bürgersöhne.

Jetzt hub die Musik zum Schmoller an. Wieder stolzirte Nicolaus auf Johannen zu; aber diese sprach den Vetter Rathsbrunnenmeister um einen Tanz an. Der würdige Mann legte seinen Mantel ab und, die Arme in die Seite gestemmt, trutzig gegen einander tanzend, sausten sie dahin.

Nicolaus aber blieb vor der Barbara Brotkorbin stehen, die sich ihm in den Weg schob. Er glühte wie ein Zinshahn, und da er sich über die Henningin ärgerte, warf er den Musikanten eine Handvoll Batzen zu, schrie: „Lustig!“ und bestellte den Capriolentanz. Das war ein alter wilder Hupfauf, darin ein [758] Tänzer sich zeigen konnte. Und Herr Fischer zeigte sich. Er drehte sich und riß Barbara an den Armen, daß die Frauen sich wunderten, da ihr derselbige im Gelenk blieb, hob sie in die Luft, daß Alle ihrer Noth sich herzlich erbarmten, und trieb sie im Kreise um gleich einem Bären. Endlich kam er in’s Stolpern und riß seine Tänzerin mit nieder, daß sie wie ein Häuflein braunen und blauen Tuches dalagen.

Die Zuschauer lachten und halfen beiden nach altem Brauch, Barbara wurde an die Gera geführt und ihr die blutrünstige Stirn abgewaschen, und Nicolaus in den Keller, wo er einen Krug Weizenbier auf den Schrecken trank. Darauf zog er zu neuen Thaten aus. Diesmal ließ er sich nicht beirren, er pustete auf Johannen zu. Sie wollte ihm ausweichen; aber er zog sie in den Kreis und hieß die Spielleute anheben.

Doch im selben Augenblick war Hermann auf dem Plan. „Laß unsere Hanne in Ruh!“ rief er und stieß Fischer zurück, indem er vor das junge Mädchen trat.

„Wer hat sich schon mit Dir gedutzt?“ schrie Fischer und suchte das Gleichgewicht wieder zu gewinnen. „Du hast mich zu ihrzen.“

„Wir haben auf derselben Schulbank gesessen,“ antwortete Hermann, „ich der Oberste, Du der Unterste, und Schulkumpane nennen sich Du in Arnstadt.“

„Er hat Recht,“ riefen die jungen Burschen, deren grobe Röcke und schmale Bänderbesätze die armen Schutzbürger bezeichneten, und schaarten sich um Hermann.

„Ich verlange einen Capriolentanz mit der Jungfer Henningin,“ schnaubte Fischer, um den die Söhne der großen Bürger sich sammelten.

„Sie verweigert ihn Dir, weil Du wohl bezecht bist, derohalb unziemliche Sprünge machst und der Jungfer Brotkorbin die Haube abgerissen hast,“ entgegnete Hermann.

„Bist Du ihr Vormund?“ brüllte Fischer. „Du bist der Lumpenvogt in der Papiermühle.“

Die Brauherrensöhne stimmten ein wieherndes Gelächter an. Doch im nächsten Augenblick taumelte Fischer zurück. Hermann hatte mit der geballten Faust einen Schlag auf den schimpfenden Mund geführt, daß das Blut danach sprang.

„Haut den Habenichts nieder!“ schrieen Fischer’s Gefreunde und drangen auf Hermann ein.

Aber die Schutzbürger waren auch nicht faul. „Wartet, Ihr aufgeblasenen Faucher! Euch soll der Pust vergehen!“ riefen sie. Und nun hieben Alle mit Fäusten und Bierkrügen los. Denn Faucher war der Spitzname für die großen Bürger, der sie allezeit für Wuth sinnlos machte. Kreischend stiegen die Frauen auf Tisch und Bänke, sich zu retten und zu schauen so viel als möglich war.

„Spielt den Großvatertanz auf!“ riefen sie den Stadtpfeifern zu. „Vielleicht löst die Tanzlust die Rotte auf.“

Aber den Feldtrompeter erfaßte die alte Streitlust. Er blies eine kriegerische Fanfare, und der bucklige Zunftpauker schlug schadenfroh dazwischen. Der Rathskämmerer bestieg den Pfeiferstuhl und schrie: „Kund und zu wissen Jedermann: wer ein Zetergeschrei macht, soll zwei Mark Strafe geben und vierzehn Tage Gewahrsam hinter dem Rathsgitter halten.“ Es half nichts. Da winkte der Bürgermeister die Schaarwächter herbei, daß sie mit ihren langen Spießen Ruhe stifteten. Diese vollbrachten ihre Aufgabe nach historischen Ueberlieferungen: sie trieben die schreienden Weiber zu Paaren, auf daß der preislichen Justiz ihr Recht geschah; aber das Mannsvolk ließen sie ungeschoren, denn daß selbiges am Schlusse jedes Festes sich prügelte, war ohnverrücktes Herkommen und durfte nichts daran geändert werden.

Und mitten im Gewühl arbeitete Hermann, seiner Angreifer sich zu erwehren; denn ihn umdrängte eine ganze Schaar reicher Bürgersöhne. An die Linde gelehnt, ein Tischbein als Waffe, mähte er nieder, was auf ihn eindrang. Johanne wand die Hände – er sah es nicht. Sie rief – ihre Stimme verklang im Getöse. Jetzt hatten ihn drei umstrickt; nur mühselig rang er noch gegen die Uebermacht.

Da hallten plötzlich die Klänge der großen Glocke von der Liebfrauenkirche dazwischen; in mächtigen Schlägen durchschnitten sie die Luft.

„Wetterläuten! ein Ungewitter ist im Anzug!“ schrie die Menge.

„Hinter dem Walpurgisholz steht es pechschwarz!“ riefen Diejenigen, welche den Hügelrand erstiegen hatten.

Die Spielleute packten ihre Instrumente auf und zogen ab; beim Wetterläuten wurde jede Lustbarkeit eingestellt. In die Stille, welche eintrat, grollte der ferne Donner und mischte sich mit den Glockenschlägen. Alles stürmte nach Haus.

„Lauft, daß wir zum Beten kommen, und die Gewitternoth durch die allgemeine Bitte abgewendet wird, wie der Weckruf der Glocke will,“ schrieen Gefreunde und Verwandte einander zu.

„Liebe Nachbarn,“ mahnte der Rathsbrunnenmeister, „gehet geruhig heim. Das Läuten hilft vornehmlich durch den Luftzug die Gefahr abwehren, indem hierdurch die Wolken einen andern Weg fahren.“

„Ihr seid ein Schwarmgeist und Neuerer,“ keifte die Schmidtin. „Wollet gar den Wolken den Weg vorschreiben. Sehet lieber darauf, daß Eure nächsten Verwandten den rechten Pfad wandeln.“ Ein Wirbelwind, der in die Schwüle hineinfuhr, drehte sie herum. Sie schnappte nach Luft, wischte sich den Staub aus den Augen und stürmte fürbaß.

Hermann war seiner Angreifer ledig geworden, als der Ruf der Glocke erschallte. Er rückte seinen zerrissenen Rock zurecht und sah sich nach Hannchen um. Sie ging allein auf einem Seitenpfade dem Thore zu mit ihrem festen gleichmäßigen Schritt, der durch die gluthathmenden Windstöße sich nicht beirren ließ. Ueber das schwarze Häubchen, das alle Bürgertöchter trugen, hatte sie ihr Nastüchlein gebunden. Da er sie einholte, wandte sie sich um und sah ihn unter den zusammengezogenen Brauen zornig an wie eine Mutter, welche nach der Ruthe greift.

„Was hat es nun geholfen, daß ich Dir Vernunft gepredigt habe?“ schalt sie mit scharfer Stimme. „Du hast Deinen rothen Kopf aufgesetzt und mit Nikel angebunden, sobald die Gelegenheit sich fand.“

Hermann vermeinte, der liebe Gott habe ihn mit Taubheit geschlagen. Er hatte doch einen Dank von ihr verdient. „Sollte ich Dich dem Trunkenbold überlassen? Fischer konnte auf keinem Bein mehr stehen. Wie hat er der Barbara Brotkorbin mitgespielt!“

„Was will das Ungeschick, das Bärbchen betroffen hat, besagen?“ erwiderte sie verdrießlich. „Es sind schon Viele auf die Nase gefallen. Welch üblen Handel hast Du uns dagegen über den Hals gerissen! Und nun ist die Muhme in die Papiermühle gerannt, wie die Wetterhexe auf den Wolken fährt. Wenn ich nur meine Vermahnung erst dahin hätte!“

„Ich will schon für Dich einstehen,“ suchte er sie zu beruhigen.

„Du willst mich schon wieder beschützen?“ lachte sie zornig auf. „Du, dem allezeit eine Unbill widerfährt, wenn ich nicht meine Flügel über Dich halte, wie die Henne über das Küchlein!“

Jetzt richtete sich Hermann auch auf. „Ich bin kein Küchlein, ich bin ein Mann.“

Sie lachte höhnisch. „Ein Mann, der ohne mich jetzunder das Benjaminlein tragen müßte!“

Eine glühende Röthe überzog seine Stirn. Der siegreiche Kampf, den er eben bestanden hatte, brauste noch in seinen Adern nach und gab ihm den Muth, gegen ihre verächtliche Behandlung sich zu wehren.

„Willst Du mir zum Vorwurf machen,“ entgegnete er, „daß Ihr in Eurem Hause die Weltordnung verkehrt habt? Dir ziemt, die Kinder einzuschläfern, und mir, Dich zu schützen. So ist die Mühsal auf der Welt zwischen Mann und Weib von Uranfang an getheilt worden.“

Schier verblüfft blieb sie stehen und schaute ihn an. Was fiel dem Hermann ein, ihr so gegenüber zu treten? Sie war daran gewöhnt, daß er schwieg, wenn sie zankte, und daß er nachgab.

„Ich will mir schon selber helfen,“ sprach sie von oben herab.

„So weit es mit der Zunge geht, ja,“ erwiderte er, nun auch gekränkt.

Da riß dem verwöhnten erstgeborenen Kinde der Papiermühle der Geduldsfaden. „Du konntest warten, bis diese Zunge Dich rief, und brauchst Dich mir nicht allewege aufzudrängen.“

Und als ein greller Blitz jetzt die dunklen Wolken durchzuckte, eilte sie flüchtig wie ein Reh durch die schmalen Straßen den Weißebach entlang der Papiermühle zu.

[759] „Hannchen!“ rief Hermann entsetzt über ihre Worte.

Im lang hinhallenden Donner ging der Klang ihr verloren. Mit den ersten Tropfen kamen sie daheim an. Schon von weitem schallte ihnen die zeternde Stimme der Muhme entgegen, welche sogar das Wetterläuten der benachbarten Liebfrauenkirche übertönte. „Daß Gott erbarm! Das Unglück! Er hat Fischer’s Nicolaus in’s Gesicht geschlagen, daß ihm das Feuer aus den Augen sprang. Das läßt Der nicht auf sich sitzen. Der Hermann muß in den Thurm bei Wasser und Brod. Das hochnothpeinliche Halsgericht muß über ihn gehegt werden!“

„Warum lärmt Ihr also?“ verantwortete sich Hermann. „Sind Beulen und blaue Augen so rar in Arnstadt? Hat Fischer nicht selber die Barbara hingeworfen, daß sie blutete?“

„Die war Seinesgleichen,“ schrie die Muhme. „Da kann schon so etwas fürkommen. Aber Du und der Herr Fischer, der sich Edelgeboren schreiben darf!“

„Stellt Ihr Euch doch an, als hätte er einen Heiligenschein wegen des Bieres,“ empörte sich Hermann.

„Einen Heiligenschein hat er just nicht; aber den größten Keller in Arnstadt, was beinahe ebenso viel sagen will,“ trumpfte die Muhme ihn ab.

Jetzt lachte Hermann zornig auf.

„Du wagst noch zu lachen?“ zankte die Schmidtin. „So vergilt das gemeine Volk die Wohlthaten eines großen Bürgerhauses. Der Lump bringt die Tochter in das gemeine Geschrei und lacht sich noch in’s Fäustchen.“

Hermann wurde dunkelroth. „Hütet Euch! Noch giebt es in Arnstadt einen Lästerstein, den böse Zungen tragen müssen,“ sprach er.

Der Muhme stockte die Sprache; es war, als wollten ihre runden Augen sich furchtsam verkriechen. Da sie zu neuem Redeguß tief Athem schöpfte, rollte ein Donnerschlag dazwischen.

Jetzt trat der Papiermüller heran. „Gehet nun nach Haus, Frau Muhme,“ sprach er entschieden, „und füllet fürder unsere Mühle nicht mit Geschrei. Wachet lieber, ob vielleicht der Donner in Euer Kranichhaus schlägt.“

Die Schmidtin kreischte auf. „Wie könnt Ihr den Teufel so an die Wand malen?“ Bald sah man sie in den von Herrn Henning entliehenen Stiefeln mit hoch gehobenen Röcken durch die Gewässer des Himmels, die rauschend die Straße füllten, davon steigen.

Johanne steckte an alle Truhen und Schränke die Schlüssel, wie das bei drohender Gefahr geschah, um leicht ausräumen zu können, und Frau Henningin nahm Benjaminlein aus dem Bettchen. Dann wurde es still. Herr Henning stand am Fenster und folgte dem Zickzackweg des Blitzes; er wurde weiß wie sein feinstes Papier, wenn es grell über die Mühle hinzuckte. Christel und Bastian schmiegten sich an die Mutter, und der Großvater hatte sich hinter sein Gesangbuch verschanzt, mit einem Leseglas bewaffnet, und las das Stoßseufzerlein beim Ungewitter.

Furchtlos und ungeblendet schaute Johanne in die blauen Blitze; ihrem hochgemuthen Sinn war das majestätische Rollen des Donners eine erhabene Musik. Und mit gefalteten Händen lauschte Hermann der Glockenstimme, die ihres Amtes waltete, zu verscheuchen das Schädliche.

Allgemach verhallte der Donner in der Ferne und mit ihm schwieg die Glocke. Nur der Regen plätscherte fort. Jetzt schickte der Papiermüller die Kinder hinaus, schloß die Thür und wandte sich zu Hermann und Johannen. „Ihr habt eine schöne Suppe eingebrockt; nun muß sie auch ausgegessen werden. Schweig, Hermann! Ich weiß, daß Du es gut gemeint hast; aber es war nicht wohl gethan, den Nicolaus Fischer also zu tractiren. Warum mußtest Du zuhauen bei dem Worte, das nicht weit von der Wahrheit weg fiel? Hatte ich doch gedacht, daß Du Dein Brod als Handlanger in der Mühle zeitlebens haben solltest. Und wo Papier gemacht wird, da sind Lumpen nöthig. Der Vogt, der darüber gesetzt ist, hat’s nicht schlecht. Giebt es größere Thorheit, als um leichtfertiger Rede willen eine ehrliche nahrhafte Hantirung sich vergällen zu lassen? Wird nicht der Schneider mit dem Bock und der Schuster mit dem Pech gehänselt, ohne daß es ihrer Meisterwürde Abbruch thut?“

„Ihr würdet es Euch auch verbitten, so man Euch Lumpenmüller nennen wollte,“ entgegnete Hermann leise.

Herr Henning sah ihn mit maßlosem Erstaunen an. „Das kann einem großen Bürger von Arnstadt gar nicht geschehen,“ entgegnete er gelassen. „Der reiche Mann ist wider Kreuz und Leiden besser geschützt als der arme. Aber Du willst Dich uns gleichstellen, und das mußt Du Dir vergehen lassen. Hättest Du daran gedacht, daß Du ein armer Hiob bist und Fischer der reichste Mann allhier, so wärest Du nicht eifersüchtig geworden wie der Storch am Froschteich, sondern hättest Dich darein gefügt, wie Gott es einmal angeordnet hat. Auch Du, Hanne, bist so weit in den Jahren vorgerückt, daß Du Dich wie eine fürsichtige Jungfer aufführen mußt. Wärest Du mit dem Nicolaus zum Tanz gegangen, und hättest Dich mit ihm geschwenkt, so wäre ihm das Bier nicht in die Galle getreten. Statt dessen bist Du wie ein kleines Schulmädchen mit Deinem Spielgefährten zum Maienfest gegangen. Ihr seid keine Kinder mehr, und derohalb muß es ein Ende haben mit dem Kinderspiel.“

„Warum sagst Du das dem jungen Volk?“ unterbrach ihn der Alte. „Brauchen sie zu wissen, warum der Hermann den Nicolaus nicht leiden mag? Sie sind wie Nachtwandler, die man auch nicht anrufen soll; dann kommen sie ungeschädigt selbst vom spitzigen Rieththurm herunter.“

„Nein,“ entschied Herr Henning. „In Arnstadt muß Alles wohl betrachtet, beim wahren Namen genannt, geordnet und geschichtet werden wie das Papier in der Mühle: das feinste zu Gevatterbriefen und Neujahrswünschen oben in das höchste Fach, das graue Löschpapier unten auf den Fußboden. Und so ein Nachtwandler angerufen wird, wenn er den ersten Schritt aus dem Bett thut, wird er niemalen dazu kommen, auf den Rieththurm zu steigen, allwo höchstens Dohlen auszunehmen sind.“

Das junge Pärlein sah wirklich aus, als werde es von einem Traum erweckt. Das Blut stieg Hermann bis in die Schläfen; er biß sich auf die Lippen, und seine Augen flogen scheu, wie auf einer Sünde ertappt, von Einem zum Andern.

Endlich sprach er leise: „Ich bin mir keines Unrechts bewußt, und wenn ich mein Herz vielleicht mehr an Hannchen gehangen habe, als solch einem armen Jungen zukommt, so bin ich ihr doch nie mit einem Wort oder Blick, ja, Gott weiß es! nicht einmal mit einem Gedanken zu nahe getreten.“ Er sah mit einem scheuen Blick nach ihr hinüber. Aber sie stand abgewandt mit glühenden Wangen.

Herr Henning fuhr unbeirrt fort: „Wozu die Zeit verlieren mit ohnnützem Geschwätz, da wir handeln müssen? Fischer wird klagbar werden. Im mindesten Falle wirst Du zur Pön in das Drillerhäuschen gesteckt und von der Schuljugend herumgedreht, bis Dir Hören und Sehen vergeht. Dann bist Du schimpfiret, nicht durch die ehrliche Hantirung mit Lumpen.“

„Ihr braucht ja nur zu sagen,“ erwiderte Hermann in bittendem Tone, „daß ich in der Nothwehr gehandelt habe, um Euer Kind vor Verunglimpfung zu schützen.“

„Soll der Name einer bisher tugendbelobten Jungfer vor den Gerichtsbänken herumgeschleppt werden? Soll ein Mensch wie der Büttel, der nur unter der Dachtraufe gehen darf, über meine reine Schwelle schreiten, Dich vorzuladen?“ fragte der Papiermüller streng.

Frau Henningin drehte empfindlich ihren steifen Haubenkopf hin und her. „Soll ich in den Metzgerläden und Backhäusern Stichelreden hören und beim Kirchgang mich von der Seite anschauen lassen, dieweil ich so wenig Zucht in meinem Hause hielte? Die Muhme Schmidtin meint dasselbige auch.“

Hermann hatte mit steigender Angst die Reden verfolgt. Jetzt wurde er leichenblaß. „Ich soll fort – in’s Elend,“ sagte er tonlos.

Henning nickte. „Ja, fort mußt Du, aber die Zeiten sind vorbei, da die Fremde das Elend hieß. Du kannst nach Gehren gehen, wo am Eisenhammer tüchtige Arbeiter gebraucht werden, oder nach Gotha, wo der fromme Herzog Ernst sein neues Schloß, den Friedenstein, baut. Aber Du mußt wandern, ehe die Leute hier zur Besinnung gekommen sind. Gott sei Dank, daß es regnet wie in der Sündfluth. Da sitzen wir sicher vor Einspruch, Gezänk und Klatsch. In der Nacht schläft die Stadt ihren Rausch aus, und morgen kannst Du über alle Berge sein.“

Es war, als knicke die schlanke Gestalt des jungen Gesellen unter den Worten zusammen. Auch Johanne erschrak. Daß der Handel so übel für ihn verlaufen werde, hatte sie doch nicht erwartet. [760] Ihr Blick glitt seitwärts nach ihm hinüber. Sie sah, wie er gänzlich darniedergeschmettert war. Nun wird er inne, wie weit er kommt, wenn ich die Flügel nicht über ihn breite, dachte sie. Aber sie schützte ihn diesmal nicht. Ihre sonst stets hülfsbereite Thatkraft war in Banden gelegt durch ihren verletzten Mädchenstolz. Ihr spröder jungfräulicher Sinn empörte sich gegen die Vorstellung, daß ihre Zuneigung zu Hermann, die sie voll Selbstgefühl das Mitleiden ihres großmüthigen Herzens nannte, anders ausgedeutet wurde. Und jache Naturen wehren sich gegen Mißbehagen und Schmerzen, indem sie sich in das kräftigere Gefühl des Zornes retten.

„Das hast Du nun davon! Dir geschieht ganz recht!“ rief sie mit glühendem Antlitze und eilte hastig hinaus.

Ihr Vater sah ihr gelassen nach und fuhr fort: „Dein Gewandzeug wird meine Frau Eheliebste beschicken; der Nachbar Thorwart soll in dieser Nacht bereit sein, das Pförtlein zu öffnen; und hier heißt es, Du seist in die Welt gegangen, Dein Glück zu versuchen.“

„Mein Glück?“ flüsterte Hermann bitter.

„Entscheide Dich!“ schloß der Papiermüller. „Soll ich Dich mit einem Zeugniß an den Hüttenmeister nach Gehren empfehlen? oder mit einem Zehrpfennig gen Gotha entlassen?“

[773] Jetzt richtete Hermann sich auf und erwiderte mit fester Stimme: „Ich danke Euch für Beides. Und auch für alle Wohlthaten, die Ihr mir je erwiesen habt,“ setzte er inniger hinzu. „Sollte es einstmals in meiner Macht stehen, sie Euch zu vergelten, so wird es mit Freuden geschehen. Aber von dieser Stunde an nehme ich nichts mehr von Euch an. Ich bin gesund und stark und habe Manches gelernt durch Eure Güte. Ich will mir selber weiter helfen. Zuvörderst gehe ich nach Erfurt. In der dortigen Glockengießerei arbeitet seit Jahren ein Vetter meiner seligen Mutter, ein ältlicher Junggesell. Vielleicht schafft er mir Arbeit.“

Herr Henning lächelte. „Und Du kannst bei Deinen geliebten Glocken den ganzen Tag verweilen.“

Aber Hermann lächelte nicht mit. Er drückte die Hand vor die Augen und stürzte hinaus. Die Familie ging aus einander, um die nöthigen Vorbereitungen zu treffen.

Als der Nachtwächter zum ersten Male über den Liebfrauenkirchhof tutete, nahm Hermann Abschied von seinen bisherigen Wohlthätern.

„Deinen Ausgang segne Gott!“ sprach der alte Großvater.

Die Frau Henningin aber tröstete: „Wer weiß, wozu es gut ist!“

Und der Papiermüller sagte würdevoll: „Was der liebe Gott beschlossen hat, dagegen können wir nicht aufkommen.“

Denn dazumal wurde dem lieben Gott Alles zugeschoben, was an Leiden kam, wenn die Menschen sich auch selber oder einander gegenseitig das Kreuz gezimmert hatten. Und es war auch Brauch, daß die Kinder in tiefster Unwissenheit über die Vorgänge des Lebens gehalten wurden. Deshalb lagen Christel, Bastian und Benjamin in Gitterbetten und Wiege und erfuhren nichts davon, daß ihr treuer Spielgefährte und Wächter sich rüstete, von dannen zu ziehen.

„Hanne hat Wehtage in den Zähnen,“ entschuldigte die Mutter, als er einen fragenden Blick auf sie richtete.

Da sagte er mit erstickter Stimme Lebewohl und stieg nach seiner Bodenkammer hinauf. Mit Tagesanbruch sollte er in der Stille gehen. Sein Bündel mit seinen geringen Habseligkeiten an Wäsche und Kleidern lag geschnürt bei dem jungeichnen Wanderstabe.

An Schlaf vermochte er nicht zu denken. Er lauschte auf das Rauschen des Weißebaches, der, vom Jungfernbrunnen hergeleitet, drüben in den Wasserthurm strömte, welcher durch eine Kunst die Brunnen der Stadt speiste, dann davon schäumte und die Mühle drehte. Er vernahm das Klappern des Mühlwerks, das jetzt nach den Feiertagen wieder anhub; der älteste Mühlknappe hatte es um die Mitternachtsstunde angelassen. Er sollte hinfort das Getön, unter welchem er herangewachsen war, nicht mehr hören.

Dasselbe kleine Lämpchen, mit dem Frau Henningin ihm dereinst heraus in die Kammer geleuchtet hatte, als er zum ersten Male hinter dem rothen Balkenwerke der Papiermühle schlief, stand auf dem grob zugehauenen Holzschemel. Er gedachte daran, wie geborgen er sich damals fühlte, als er, ein achtjähriges Kind, nach dem Tode seiner Eltern unter dem stattlichen Dache eine Zuflucht fand. Tage und Nächte hatte er einsam in der zerfallenden Hütte an der Mauer durchjammert, nachdem kurz hinter einander Vater und Mutter hinausgetragen worden waren, der Vater, muthwillig von einem Merodeschen Kriegsknecht erstochen, der zu seinem Vergnügen das Hüttchen spolirte, die Mutter vor Hunger und Kummer gestorben.

Da war Herr Henning gekommen und hatte ihn in die Papiermühle hinüber geholt. Der alte Papiermüller hatte gesprochen: „Deinen Eingang segne Gott!“ und Frau Henningin ihm das verweinte Gesicht abgewaschen und ein schwarzes Halstuch umgebunden, auf daß er wie ein ordentlicher Christenmensch um seine Eltern trauerte. Dann war der älteste Sohn Zacharias, der mehrere Jahre jünger war als er, in die Ofenecke geschlendert, in die er sich verschüchtert geflüchtet hatte, um die Schuhriemen von ihm sich festschnallen zu lassen.

Zuletzt war Hannchen herbeigetrippelt. Er meinte sie noch vor sich zu sehen, das kleine sechsjährige Mädchen, wie sie mit ihren bräunlichen Fäustchen den Zacharias bei Seite stieß, ihn aber an der Hand faßte und in die Fensternische führte, wo sie ein Plätzchen für ihr Spielzeug besaß, an das Niemand rühren durfte. Denn sie hielt auf ihre Stellung als Aelteste der Kinder so streng, wie das erstgeborene Gräflein in der Neidecke auf die seine. Dort mußte er sich zu ihr setzen, und er durfte mit ihrer Docke, ihrem Schüsselbrettchen spielen. Der erste Bissen, den er in dem neuen Heim genoß, war ein Stückchen Brod in Honig getaucht, das sie ihm auf ihrem kleinen Tellerchen vorsetzte. Und so war es geblieben all die Zeit her, sie hatte ihn immer in Schutz genommen. Und nun sollte das Alles wie nie gewesen [774] sein. Sie trennte sich von ihm ohne Abschiedsgruß. Es war also nicht die Milde eines zwar spröden, aber im tiefsten Grunde weichen Herzens gewesen, daß sie sich seiner angenommen hatte von Kindesbeinen an, sondern die Herrschsucht eines stolzen Sinnes, der den armen Jungen als sein Eigenthum betrachtete und seine Ehre darein setzte, ihn gegen den Willen der ganzen Sippe zu vertheidigen.

Es wurde ihm heiß. Die Bitterkeit quoll in ihm auf. Er hielt es nicht länger aus. „Ich will gehen. Es ist ja Allen recht, wenn ich fort bin auf Nimmerwiederkehr.“

Er löschte das Lämpchen und stieg vorsichtig die finstere, aber wohlbekannte Stiege hinab. In den Schlafkammern war es still. Die Familie schlief steinfest nach des Tages Stürmen. Leise schlich er vorbei und die zweite Treppe hinunter. Aber sein Fuß stockte. Die Küchenthür stand offen; das Knistern eines Feuers tönte heraus, heller Flammenschein huschte über das roth und weiße Backsteinpflaster des Hausflures. Hermann warf einen Blick hinein. Da stand Hannchen am Herd. An der Kette über dem Feuer hing ein Kessel, in welchem sie eifrig mit einem Kochlöffel rührte, und dem Gefäß entströmte der würzige Duft von Bier, Ingwer und Zimmet. Ihre Augen richteten sich starr auf das Gebräu, und von Zeit zu Zeit rollte eine Thräne über ihre Wangen.

„Hannchen, warum weinst Du?“ fragte er mit einer Stimme, in der Schmerz und Seligkeit bebten.

Sie sah auf und trocknete rasch mit der blauen Küchenschürze die Augen. „Ist es schon Zeit?“ entgegnete sie in gepreßtem Tone. „Der Nachtwächter hat doch erst zwei Uhr gerufen. Eilt es Dir so sehr, von uns fort zu kommen? Aber ich dachte es mir und habe zeitig für Dein Warmbier gesorgt.“

„Ach, Hannchen! Ich schmachte nach anderer Labung, als einem Frühtrunk,“ sagte er, und der ganze zurückgedrängte Jammer seines verwaisten Herzens brach hervor. „Schicke Du mich nicht sonder Trost und Theilnahme in die Welt hinaus. Dann will ich das Unrecht gern tragen, das Deine Sippe mir anthut.“

Wieder kam das unheimliche getheilte Gefühl über sie: das altgewohnte Mitleid, das sie drängte, die flehend ausgestreckten Hände zu ergreifen und ihm ein tröstendes, liebreiches Lebewohl zu sagen, und eine neue Empfindung, die sie davor zurückscheuen ließ. Und wieder sprangen ihre Gefühle in Zorn gegen Den um, der ihr die ganze Widerwart auf die Seele gewälzt hatte.

„Du klagst uns an und hast doch das ganze Unheil angestiftet, das wir ausbaden müssen!“ schluchzte sie zornig. „Meinst Du, es sei ein geringes Ding, daß jetzo in der ganzen Stadt weiter nichts geredet wird, als: um die Hanne Henningin hat der Laufbursche aus der Papiermühle sich an dem Nicolaus Fischer vergriffen?“ Sie quirlte den Trank, daß er hoch aufschäumte.

„Weinst Du deshalb?“ fragte er mit schmerzlich zuckenden Lippen.

„Weshalb sonst?“ fragte sie trotzig und goß das Warmbier in einen Zinnbecher.

In Hermann’s Augen flammte es auf. „Verstehst Du so die Ehrbarkeit, daß Du meinst, es erwüchse Dir eine Schande, wenn Dein Name mit dem meinen genannt würde, der ich nichts gethan habe, als Dich vor Rohheiten gehütet, während es Dir nicht schade, wenn Dich ein Saufbold herumzieht wie eine gemeine Dirne? Hängt denn die Sittsamkeit einer Jungfer davon ab, ob selbige von einem reichen oder armen Manne angetastet wird?“

„Nicht von dem reichen, aber auch nicht von dem armen Manne lasse ich mich antasten,“ fuhr Johanne ihn finster an.

Er sah zürnend auf sie nieder. „Du weißt am besten, daß Dir der arme nie zu nahe getreten ist. Und wenn wir jetzt die Plätze wechselten, Nicolaus Dich in Schutz genommen hätte gegen Frechheiten des Hermann, wie würdet Ihr die Sache ansehen? Er wäre Euch so erhaben wie der große Christophel an seinem Haus, die Muhme Schmidtin posaunte sein Lob lauter aus als der Stadtpfeifer, wenn er das Neue Jahr anbläst, und Du würdest nicht wagen, ihm vorzuwerfen, er habe Dich in das gemeine Geschrei gebracht.“

Ihr kluger Sinn konnte sich der Richtigkeit seiner Vorstellung nicht verschließen; aber ihr jähes Gemüth trug den Sieg über denselben davon.

„Das habe ich von meiner Müdigkeit,“ sprach sie bebend vor Zorn. „Darum bin ich allezeit gut gegen Dich gewesen, darum heut vor Thau und Tage aufgestanden, daß Du mich abcapitelst wie einen Abcschützen. Ich wollte, ich hätte mich niemalen um Dich gekümmert, so sollte ich wohl in guter Ruh jetzo sitzen.“

„Selbige Ruhe wird Dir von nun an ungetrübt zu Theil werden,“ sprach er todtenbleich. „Du wirst mich los. Behalte Dein Warmbier; ich will nichts mehr von Dir.“ Er wandte sich zu gehen.

Da erhaschte sie seine Hand. Stockend, aber sorgenvoll, wie in alter Gewohnheit, kam es über ihre Lippen: „Warum willst Du Dich den Fährlichkeiten einer nächtlichen Wanderung aussetzen? Freireiter und Wegelagerer streifen immer noch durch das Land.“

Er schüttelte sie rauh ab. „Wer fragt darnach,“ lachte er bitter, „ob solch ein armer Hiob hinter der Hecke stirbt? Aber es hat keine Noth. Die Faust des Laufjungen ist stärker als die des reichen Brauherrn. Ich will Niemand rathen mit ihm anzubinden, so wenig im freien Felde als unter den Linden des Maienfestes.“ Und mit raschen Schritten war er an der Hausthür, hob den versperrenden Balken weg, stieß den Riegel auf und eilte durch die noch stillen Straßen dem nahen Pförtlein zu, das der Wächter ihm gegen den Thorpfennig öffnete.

Im matten Dämmerschein der kurzen Sommernacht schritt er auf der schwanken Holzbrücke über den dunklen Wassergraben und durch die lustige Umgebung von Lindengängen und Rosengärten hinaus auf die Erfurter Straße. Im Osten röthete sich der Himmel; in den Feldern, die weithin wie ein silbern glänzendes Meer in der frischen Morgenluft wogten, begannen die Lerchen ihren Sang, von den Thürmen tönte die dritte Stunde. Hermann lauschte, wie eine Uhr nach der andern die drei Schläge erschallen ließ, wie der Hall verschwebte.

„Die Glocken klingen anders, wenn sie Scheidestunden schlagen,“ flüsterte er. Dann wanderte er mit weit ausgreifenden Schritten den staffelförmig über einander aufsteigenden Hügeln zu, die der ferne Steigerwald krönte, hinter welchem die Stadt Erfurt lag.




„Ich sage Dir, die Weibsen sind alle mit einander keinen Dreiheller Werth; schlage sie Dir aus dem Sinn!“ sprach Vetter Eberhard zu dem Sohn seiner weiland Muhme Zimmermannin.

Es war ein Mond dahingegangen, seit dieser Einspruch in der Junggesellenwohnung Eberhard’s gehalten hatte und freundvetterlich von ihm empfangen worden war. Hermann mußte sein Losament bei ihm nehmen und wurde dann in die berühmte Glockengießerei von Möhring selig Wittwe eingeführt. Selig war nur Meister Möhring. Seine Wittib aber, eine frische Frau in ihren besten Jahren, gedachte noch einige Zeit zu warten, bevor sie ihm in das bessere Leben nachfolgte. Einstweilen führte sie das Geschäft weiter. Ihre rechte Hand dabei war Eberhard, der, obwohl er nur ein armer Bauernjunge aus Bittstedt bei Arnstadt war, schon unter Meister Möhring zum Obergesellen sich emporgeschwungen hatte.

Jetzunder arbeiteten die beiden Schwarzburger gemeinsam in der kurmainzischen Stadt, und in dem Augenblicke, da der wackere Junggesell seinen scharfen Ausspruch that, standen sie in dem Gießhause und waren beschäftigt, auf einer mächtigen Wage, die von dem verräucherten Gebälk herabhing, Kupfer und Zinn zur Glockenspeise abzuwägen. Am entgegengesetzten Ende der nur von luftigem Dach überwölbten Halle mauerten Gesellen in der Dammgrube aus Ziegelsteinen ein kreisrundes Fundament für die Glockenform; andere kneteten in einem Fasse Lehm und Flachsschäben mit Wasser, daraus die Form gebildet werden sollte.

Es störte die Vettern Niemand; bei harter Pön war den Leuten untersagt, heranzutreten. Die Geheimnisse des Glockengusses wurden streng gewahrt, und der Obergesell, der von dem kränkelnden Meister Möhring in ihnen unterwiesen worden war, gestattete nur seinem jungen Versippten Kenntniß davon zu nehmen.

„Auf hundert Pfund Kupfer müssen wir sechsundzwanzig Pfund Zinn abwiegen,“ belehrte er ihn; „denn es wird eine kleine Glocke. Sollte sie groß werden, brauchten wir ein paar Pfund weniger von dem weichen Metall, wie auch der Mann fester von der Natur gebildet wird denn das Weib. Wenn diese unvollkommenen Creaturen unseres Herrgottes, die in Haube und [775] Schürze um uns herum trippeln, solches nur einsehen und sich friedsam fügen wollten. Dann würde Alles zusammenklingen auf unserer Erdenwallfahrt wie Klöppel und Glocke. Aber statt dessen queruliren sie gegen unsere wohlbedachten Anschläge und Verordnungen. Ich habe sie kennen lernen. So mein guter seliger Meister gerade keinen Pfennig im Säckel hatte, wollte sie“ – er deutete mit dem Daumen hinter sich wie immer, wenn er von der Gießerin sprach, als sei sie allezeit gegenwärtig, aber stets respektvoll nur in seinem Gefolge – „wollte sie in die Fingerlingsgasse gehen und an jeden Finger ein Ringlein sich kaufen. Und wenn er am grünen Montag zum Innungsfest mit Schmieden, Schlössern und Sporern an den Steiger ziehen und auch einmal sich erlustiren wollte, legte sie sich in’s Bett und klagte, sie sei unpaß. Beim Anschauen solchen Ungeschicks habe ich allen Liebes- und Ehegedanken Valet gesagt und mein Herz gänzlich an die Glocken gehangen. Thue also! Sie vermögen wohl eine Frau zu ersetzen. Sie rufen mich zum Morgengebet, zum Mittagsmahl und zur Ruhe. Und was die Schrullen betrifft, sind sie echte Weiberleute. Wenn sie an einen Ort sollen, dahin sie kein Begehren tragen, machen sie sich schwer. Sie stürzen sich lieber in’s Wasser, und sollten sie gleich eine Brücke zerbrechen, als daß sie sich fügen. So ihnen aber ihr Wille geschieht, werden sie federleicht. Wenn sie nicht wollen, thun sie den Mund nicht auf, wird ihnen aber Stillschweigen auferlegt, und sie meinen ein Recht zum Reden zu haben, schlagen sie an, dem Kirchenvorstand und der Geistlichkeit zum Verdruß, wie solches bei unehrlichen Begräbnissen fürgekommen ist. Ja, es ist traurig zu sagen: sie zerplatzen zuweilen vor Widerstandsgeist. Es giebt auch eine Glocke im Lande Arragonia, welche behauptet, Alles vorher zu wissen, und durch ihr Anschlagen die Leute ängstigt. Man sagt, es sei einer der Silberlinge in sie geschmolzen, um die unser Herr und Heiland verkauft ward, und ein Engel ihr Pathe gewesen. Aber glaub’ es nicht: Es ist ihre Weiberart. Rufen selbige nicht allezeit: ich hab’ es voraus gesagt? Und zu Eisenach auf St. Georg haben sie einen Unhold, der nur ein kläglich Geheul von sich giebt. Es geht die Rede, die Glocke sei aus schlechtem Metall, aus bleiernen und eisernen Töpfen und Flaschen gegossen worden, welche die Eisenacher auf ihrem Kriegszug in Meißen erbeuteten, aber ich fürchte: sie ist ein nachtrotzendes Weib, das ihren Eroberern die Widerpart hält.“

„Vielleicht verschmähte der Himmel den Ruf von einer so blutigen Zunge und lieh ihr den unholden Klang,“ bemerkte Hermann.

Aber Eberhard schüttelte überlegen den Kopf. „Da bist Du sehr auf dem Holzwege. Im Himmel ist über nichts so große Freude als über einen bekehrten Sünder. – Die Maria Gloriosa aber auf dem Dom, vor deren Hauch Alles erbebt, ist wie eine große Königin, zum Exempel die Christine von Schweden, die leider Gottes auch die Hosen an hat. Und die Lügenglocke auf der Hochstraße von Gent, die einmal zu früh, einmal zu spät läutet, und die Leute vexirt, ist wie die Muhme Schmidtin in Arnstadt. Die böse Zunge hat einstmals behauptet, ich sei ihr als junger Bursch nachgelaufen und sei doch nur aus Bittstedt gebürtig, wofür ihr von Rechtswegen zudictirt werden müßte, den Lästerstein zu tragen. – Nun sage selbst: Mehr hast Du auch nicht an einer Frau.“

Hermann lächelte trübe. Der Ohm meinte es gut; aber wie war es möglich, das heiß klopfende Herz mit solchen Fürstellungen einzulullen? So sehr er an den Glocken hing – schöner als der röthliche Glanz des heiligen Geräthes waren die rothen Lichter, die über Hannchen’s braunes Haar liefen, und klingender und lieblicher als die hellste Glocke tönte ihre Stimme in seiner Erinnerung, wie sie in früheren Tagen ihre ungerechte Sippe von ihm scheuchte gleich bösen Geistern.

Auch Eberhard’s Gedanken waren nicht gänzlich von den Glocken erfüllt. Er schaute durch die weitgeöffnete Fensterluke hinaus in den Hof. Dort scharwenzelte in kurz geschürztem Rock und aufgestreiften Aermeln die runde Wittib umher und nahm getrocknete Wäsche von den Leinen. Sorgfältig legte sie die Handquehlen und Bettlaken zusammen, indem sie die langen Tücher unter das weiße Doppelkinn klemmte. Eberhard folgte ihrem Blick, der zu Hermann herüberblinzelte.

„Ich glaube gar! Verdammtes Weibervolk!“ knarbelte er zwischen den Zähnen. „Wenn man denkt, man hat sie am Kopf, hat man sie am Schwanz. Laß mich einmal an’s Fenster, Hermann.“ Er schob seine breiten Schultern vor den jungen Mann und lachte grimmig, als sie, ein Bündel Wäsche in den rosigen, mit Grübchen gezierten Armen, durch die rundbogige Hausthür verschwand. Mißtrauisch lugte er seinen Vetter an. Aber der hatte die Augen niedergeschlagen und summte schwermüthig das Volkslied:

„Ach Scheiden, immer Scheiden!
Und wer hat dich erdacht?
Du hast mein junges Herze
Aus Freud in Trauer bracht.“

Er hatte sich verändert in den vier Wochen. Das heitere Lachen war von den Lippen verschwunden und über den Augenbrauen lag ein düsterer Zug. Eberhard beruhigte sich. Es hatte keine Noth mit dem jungen Vetter und der Wittib.

Da ertönte das Schellen zur Abendmahlzeit und machte dem Sinniren der beiden Männer ein Ende. Die Leute stellten die Arbeit ein. Eberhard verschloß eigenhändig das Gießhaus und Beide begaben sich nach ihrer Wohnung im Hinterhaus, um von dem Werkeltagsstaub sich zu säubern. Stattlich gingen sie aus ihrem Losament hervor, wie ein älterer und jüngerer Bruder zu schauen, in sauberen Tuchröcken, die Besätze und Schlingen von farbigen Botten zeigten, die hohen Stiefeln mit Scharlachtuch ausgeschlagen. Sie schritten über den Hof, in welchem die rußige Gießhütte mit mächtigem Schornstein sich erhob, hinüber nach dem Wohnhaus.

Alles sah verräuchert und verstäubt aus: das Pflaster des Bodens, die Wände des Hauses, sogar die runde Meerzwiebel auf dem Fensterbrett vor der Stube der Meisterin. Nur sie selbst war frisch. Sie stand auf der Schwelle, den Fuß im aufgeklappten Schuh weit vorgesetzt, daß man sehen konnte, der Strumpf saß straff auf wie das Fell einer Trommel. Die gesteifte Haube war mit einem Silberpfeil auf die blonden Haare festgesteckt, und das rothwangige Gesicht ruhte auf der mächtigen gefältelten Halskrause wie ein wohlgerathener Kloß auf zierlicher Schüssel.

Der Obergesell stapfte männlich auf sie zu. Aber sie sah zerstreut an ihm vorüber, seinem Neffen entgegen. Da stieg dem alten Junggesellen das Blut in die Stirn.

„Ihr thätet wohl, ein demüthiges Gebet zu sprechen, auf daß der Guß der Glocke, den wir vorbereiten, wohl gelingen möge, statt daß Ihr Euch hoffährtig aufwichst wie eine Frau Potiphar.“

Wie die Kugel aus einem Arkebusierrohr zischte das Wort zu ihr hin. Sie schrak sichtlich zusammen, trat in den weiten Hauserden zurück, wo die Tafel gedeckt war, und schritt nach ihrem Ehrenstuhl am oberen Ende derselben.

Eberhard folgte ihr und nahm zu ihrer Rechten seinen Platz ein. Im nächsten Augenblick schlug er mit beiden Fäusten auf seine Kniee; sie beliebte eine Aenderung in der Reihenfolge der Tischgenossen zu machen. Zu ihrer Linken winkte sie statt des zweiten Gesellen Hermann heran, indem sie ein duckmäuseriges Gesicht machte und sprach: „Ihr sagt doch selbst, werther Obergesell, daß er lesen und schreiben kann und Euch im Nothfall zu vertreten vermag.“

Die übrigen Leute reihten sich an. Die Mägde trugen die Schüsseln auf. Es gab Buffbohnen mit Speck. Sie begann vorzulegen. Auch hier wurde Hermann’s Schüssel wohl gefüllt. Es zuckte schier spöttisch um seine Lippen: für seinen Magen waren die Frauen redlich besorgt. Auf des Vetters Stirn aber stand ein gräuliches Donnerwetter. Er schürzte verächtlich die Lippen.

Als die Meisterin ihm seine Schüssel reichte, sprach er hochfahrend: „Dieses Gericht wissen wir Arnstädter nicht zu schätzen. Ich will nicht sagen, welche Gottescreatur wir in unserer guten Stadt mit dieser Feldfrucht speisen. Wir ziehen eine vernünftige Wurst vor.“

Sie löste den Schlüsselbund vom Gürtel und ging nach der Speisekammer, von wo sie mit einer großen Wurst zurückkehrte.

Eberhard hob die Nase. „Seit wir Arnstädter Anno Dazumal – es ist dreihundert Jahre her – unter des barmherzigen Gottes Beistand die Juden in Arnstadt gänzlich vertilgt haben, ist für Knoblauch kein Platz mehr in unserer ehrenfesten Stadt.“

Sie lief abermals fort, erstieg abermals die hohe Leiter nach dem Wursthaken, roch an allen Würsten und brachte endlich mit [776] glühend erhitztem Gesicht einen Schinken getragen, der keine Bekanntschaft mit dem kräftigen Lauch gemacht hatte. Eberhard ließ sich herab, denselben anzuschneiden; aber noch runzelte er finster die schwarzen Brauen.

„Hast Du endlich einen Vers für die neue Glocke zurechtgeschmiedet?“ brummte er seinem Neffen zu. „Die Ohrdruffer wollen durchaus, daß sie wieder wie die alte Glocke Susanne genannt werde.“

Hermann sah auf mit einem tief traurigen Blick. Und doch spielte es wie ein leises Lächeln um seine Lippen, als er sprach:

„Anna Susanne,
In Arnstadt will ich hange.“

Die Tischgesellschaft saß mit offenem Munde, voran die Meisterin. Der Obergesell lachte so schallend, daß es in dem gewölbten Hauserden widerhallte. „Getreu wie eine Glocke. Aber der Reim paßt nicht. Was sollten die Ohrdruffer sagen, wenn ihre Glocke allezeit nach Arnstadt sich sehnte? Ja, die liebe Jugend! Der gehet der Verstand mit dem Herzen durch. Ich habe derweilen vorgesorgt und ein tapferes Verslein gefunden. Merket auf!

Ich heiße Susanna
Und treibe die Teufel von danna.“

Er sah sich martialisch um. „Nun, gesegnete Mahlzeit! Wir sind gesättiget und wollen gehen.“ Er winkte Hermann zu. Beide sprachen leise ihr Tischgebet und gingen. Die runde Wittib ließ die Hände in den Schooß sinken.

Drüben in der Hinterstube langte Eberhard von der Kannerücke eine Büchse mit dem neuen Kraute Tobak und eine Thonpfeife herunter, stopfte dieselbe und brannte sie an. Er als ungeplagter Junggesell konnte es sich gestatten, das schöne Geld in die Luft zu blasen. Hastig paffend schritt er in der Stube auf und ab, an deren niedriger, von Balken durchzogener Decke der grau gesprenkelte Kopf des stattlichen Mannes fast anstieß, und schalt: „Ich will sie lehren Buffbohnen kochen! Ich bin nicht ihr baufälliger Ehegespons, der nimmer daran dachte, daß Manneshand oben bleiben muß. Schaffe Dir auch eine Pfeife an, Hermann! Sieh, ich rauche nur ihretwegen –“ und wieder deutete er mit dem Daumen hinter sich. „Es sieht großmächtig aus und flößt ihr Respect ein, und wenn sie wider mich mutzen will, mache ich eine Rauchwolke; da muß sie pusten und niesen und kann nicht schwatzen.“ Die Wallung seines Geblütes legte sich allgemach bei diesen Betrachtungen. „Wir wollen in die ,Hohe Lilie’ gehen und einen guten Trunk thun,“ ordnete er heiter gestimmt an. „Es sind Fuhrleute angekommen mit mancherlei Waaren. Mein Tobak geht zu Ende, und ich will sehen, ob ich handelseins werden kann. Im Tobakskrämchen auf der Krämerbrücke muß man den gemalten Brasilianer auf dem Schild mit bezahlen. Ich will Dir auch die Stätte in der Herberge zeigen, wo Doctor Luther, glorreichen Gedächtnisses, gesessen hat, als Junker Jörg verkleidet, und Gustavus Adolphus und noch viele Potentaten.“

Es war ein warmer Sommerabend. Die Sonne sank hinter die Severihöhe hinab, daß die Thürme des Domes und die dicken Rundthürme an der erzbischöflichen Residenz, welche das Krummhaus genannt wurde, wie auf Goldgrund sich abhoben, und die Kreuze auf den drei Spitzen der St. Severikirche gleich Flammen loderten. Lautes Getümmel wogte auf dem Platze, dem die berühmte Herberge der Stadt ihren spitzen Giebel zukehrte. Aus den aufgeschobenen Fenstern schauten zechende Gäste. Die mächtige rundbogige Pforte, neben welcher die aus Schmiede-Eisen zierlich gearbeitete Hohe Lilie aufgerichtet stand, war weit geöffnet. Unter dem Tonnengewölbe des Hausflurs und im langen schmalen Hof hatten die Fuhrleute ihre Wagen geborgen. Krämer lasen aufmerksam die Frachtbriefe, in denen ihre Häringstonnen unter Gottes und des Fuhrmanns Geleit gestellt waren, dem Brauche der frommen Zeit gemäß.

„Feilsche um die Fracht darfst Du net!“ sagte der Frankfurter, welcher einen wohlverpackten Ballen Seidenstoff ablud und mit einem kleinen Mann verhandelte, den der breitkrempige spitze Hut und der gelbe Ringkragen als Juden bezeichneten. „Hab einen fährlichen Weg hinter mir. Im Spessart treiben Schnapphähne Räuberei, und danach hat mich noch im Hessischen der vierbeinige Schelm, der Wolf, molestirt, als welcher wieder drauß auf der Landstraß Mensch und Vieh überfällt.“

„Solcher Fährnisse muß Jeglicher sich gewärtigen, den seine Hantierung aus den Mauern der Stadt hinausführt,“ meinte der Frankenhäuser Salzfuhrmann. „Bin auf meinem Weg Landreitern begegnet, so auf einen Haufen Marodebrüder vigilirten, die Bilzingsleben überfallen und geplündert hatten. Sie erzählten von dem Anführer derselben als von einem baumlangen Kerl mit Silberringen in den Ohren, schier so groß als ein Pflugrad, und einer goldnen Kette, die neunmal um den Hals geht. Vor seinem gräulichen Scharmuzieren hegten die Landreiter eine große Furcht, und sie dankten Gott, als die Bande von selbst aus dem Lande verschwand.“

„Ist ein elendes Land, das deutsche Reich itzo,“ meinte der Straßburger, mit dem Eberhard um ein Päckchen Tobak handelte. „Derweilen sitzen sie anderwärts um so geruhiger. Gab ein Kaufherr, der vor wenigen Monden mit einem Schiff von Basel zu uns kam, die ergötzliche Historie zum besten, wie im Lande Helvetia die Käfer und Engerlinge vor Gericht geladen und inquiriret worden seien, aus was Ursach sie die Felder verwüsteten. Und dieweil sie wegen Kleinheit ihrer Gestalt fast unverantwortlich sind, hat ein Rechtskundiger für sie gesprochen und ihnen auch wirklich ein Stück Feld zur Nutzung erstritten. Müssen in selbigem Lande die Richter wenig zu schaffen haben.“

„Nu eben,“ nickte der Fuhrmann aus Leipzig, der Bücherballen an den Buchhalter vom Anger ablieferte. „Da schlägt sich unser guter Professor und Hofrath Carpzovius mit anderen Missethätern herum. Der hat zwanzigtausend Todesurtheile gegen Räuber, Mörder und Hexen gefällt und nach jeglichem das heilige Abendmahl genommen.“

Der Buchhalter öffnete einen Bücherpacken. „Seht,“ sprach er, „dieser Folioband ist sein Inquisitionsproceß. Mit welch schönen Bildern von Galgen, Rad und Scheiterhaufen ist er verziert! Das ist etwas für den Herrn Rathssyndicus. Und da sind Flugschriften mit fürtrefflichen Rathschlägen, wie man sich die Schweden vom Halse schaffen kann, und hier eine Verwarnung für das Volk vor den Schlaraffenkleidern und Affengeberden der Franzosen, als welche sich überall mausig machen.“

[789] In solche Plaudereien, wie sie das Jahr des Herrn 1650 mit sich brachte, traf der Klang der großen Glocke vom Dom wie wuchtiger Hammerschlag hinein. Mächtig dröhnte das Geläut hernieder, und das aufhorchende Volk erschaute, wie droben aus der geöffneten gothischen Pforte ein Zug sich ergoß und den Gang um den Dom dahin wandelte. Durch die durchbrochene Steinbrüstung schimmerten die bunten Gewänder der Priester, leuchteten die Kerzen der Chorknaben; Fähnlein mit Heiligenbildern flatterten darüber, Weihrauchwölkchen stiegen aus den geschwenkten Fässern in die Luft, und das eintönige Gemurmel; von Gebeten mischte sich mit dem Gekreische der Dohlen, welche die spitzen Thürme von St. Severin für und für umschwärmen.

„Ein Bittgang!“ rief das Volk und wandte sich nach den die Severihöhe emporführenden Graten. „Welch Unheil soll abgewendet werden? Es muß ein starker Teufel sein, da sie die Maria Gloriosa zu Hülfe rufen. Die nimmt es mit jeglichem Dämone auf.“

„Ja wohl, ein starker Dämon ist es,“ sagte der hinzu tretende Sacristan von St. Severin. „Die Pestjungfrau soll abgewendet werden. Sie hat einmal wieder ihren unseligen Lauf begonnen. Mit blutigem Tuche winkt sie in das Land, und ihr feuriger Besen fegt die Menschen dahin wie dürres Laub.“ Er ließ von Neuem die Perlen seines Rosenkranzes durch die Finger gleiten und eilte dem Zuge nach.

„Die Pest!“ schrie das Volk auf. Von den Fleischbänken vor den Graden liefen die Metzger herzu, aus den Salzbuden kamen die Salzhockenweiber; es schauten eitel bleiche Gesichter einander an.

„Wenn die evangelischen Pfarrer nur ein Einsehen haben und auch ein ordentliches Gebet anordnen,“ sprach Eberhard gewichtig; „denn Niemand kann verlangen, daß unser Herrgott auf die abgöttische Litanei hören soll.“

„Aber wo haust die Pest?“ riefen viele Stimmen durch einander.

Der eine Fuhrmann, welcher beschäftigt war, ein Faß Frankenwein von seinem Wagen nach dem Keller zu schroten, kam heran und erzählte mit ernster Miene: „Da kann ich halt dienen. Bin mit meinem Wagen anstatt auf der Landstraße auf einem Malefizwege durch das Walpurgishölzle gekraxelt. Habe meine Ladung Wein auf dem Halse behalten, die der Wirth zum Gansel bestellt hatte, daß ich nur nimmer in das verpestete Arnstadt hinein mußte.“

„In Arnstadt die Pest?“ rief Hermann und stürzte auf den Mann zu.

Dieser nickte. „Sie ist urplötzlich in der Papiermühle ausgebrochen. Soll halt durch alte Lumpen dahin verschleppt worden sein.“

Im nächsten Augenblicke stürmte Hermann von dannen. Sein Vetter eilte ihm nach.

„Wohin willst Du?“

„Mein Bündel schnüren,“ entgegnete Hermann eilig.

„Zu was End?“ rief erschrocken Eberhard, der seinen jungen Vetter lieb gewonnen hatte.

„Um den Hennings beizustehen in der Noth, wie sie sich dereinst meiner erbarmt haben,“ lautete die mit zitternder Stimme gegebene Antwort.

„Aber sie haben Dich fortgeschickt. Gott hat Dich gnädig behüten wollen,“ redete Eberhard auf ihn ein.

Hermann hörte nicht. Im Sturmschritte eilte er nach ihrer Wohnung. Athemlos folgte ihm sein Vetter nach. „Da haben wir es wieder einmal,“ murmelte er. „Wo ein verteufeltes Weibsbild in’s Spiel kommt, hört alle Vernunft auf.“ Der Schreck war ihm in die Glieder gefahren, daß er sich auf die Steinbank neben der Thür setzen mußte.

Bald kam Hermann zurück in den alten zimmetbraunen Kleidern. „Euer Leibgewand hängt oben in der Kammer. Jetzt trage ich wieder Henning’s Rock,“ sagte er. „Mein eigen ist ja nur die Haut, in der ich stecke,“ fügte er mit trübem Lächeln hinzu. „Habt Dank für alle Liebe, und Gott möge Euch lohnen, wenn ich es nicht vermag, dieweil ich den Weg aller Welt gehe. Vermeldet auch der Meisterin meinen Dank und Abschied.“

„Ich hätte einmal darüber geschlafen,“ meinte Eberhard kopfschüttelnd. „Man soll über jeden Entschluß einmal Nacht werden lassen. Der frische Morgen bringt stets die richtige Erleuchtung.“

„Schlafen?“ rief Hermann in Verzweiflung. „Dieweil sie vielleicht mit dem Tode ringt oder schon in der kalten Erde liegt. Von jedem Augenblicke kann es abhängen, ob ich sie noch einmal sehe.“

„Aber in der Nacht kommst Du nicht fürbaß auf den Wegen, die von den Feldstücken zerfahren sind,“ stellte der Ohm vor. „Und wie willst Du in der Finsterniß die Fuhrt durch die Gera finden? Die Brücke hat der Königsmark bei seinem letzten Durchmarsch abbrechen lasten.“

[790] „Ich komme noch mit dem verscheinenden Tag in das Waldhaus Eurer Gießerei droben auf dem Steiger. Reicht es für die Holzhauer zu einem Unterschlupf bei Unwetter aus, so giebt es auch mir eine Nachtherberge. Und mit dem Morgengrauen kann ich meinen Stab weiter setzen. Mich verzehrt die Angst,“ schnitt er die Gegenrede des Vetters ab. Seine Geberden waren so verzweiflungsvoll, daß Eberhard, ohne ein Wort weiter zu verlieren, ihm nur lange und stark die Hand schüttelte. Dann ging Hermann eilig davon.

Die Meisterin trat in die Thür und sah ihm erstaunt nach, wie er die Schlösserstraße entlang eilte und um die Ecke des Angers bog. „Wohin geht der junge Gesell noch so spät?“ fragte sie ihren Obergesellen.

Die kam ihm gerade recht. Jetzt konnte er ihr manchen kleinen Verdruß heimzahlen, den er in dem letzten Mond eingesteckt hatte. Er sah sie grimmig an. „Nach Arnstadt, allwo die Pest würget.“

Sie erblich und schlug die runden Hände über dem Kopfe zusammen. „Aber warum thut er uns das an?“

„Weil er seinen Schatz dort hat,“ lachte Eberhard höhnisch und fuchtelte mit der ausgegangenen Pfeife unter ihrer Nase herum. „Versteht Ihr mich, Frau Meisterin? Und Euch läßt er durch mich Valet sagen.“

Und er ging in seine Stube. Drinnen aber nahm er seinen Hut ab, faltete die Hände und sprach ein warmes Gebet für den Vetter. Dann schlief er ruhig ein; er hatte für ihn gethan, was in seinen Kräften stand. Nun mochte Gott walten!




Derweilen eilte Hermann davon, an den frisch-grünen Brunnenkressenklingen vorüber, durch die Buffbohnenfelder und Waidpflanzungen hinüber nach dem Steiger. Aber so rasch er ausschritt, die Nacht nahte noch schneller. Es war Neulicht, und er vermochte endlich in dem dichten Walde nur noch tappend das Holzhaus der Gießhütte aufzufinden. Unzählige Male schaute er aus der Luke, ob das Morgengrauen noch nicht über den fernen Bergen auftauche. Und sobald das Auge die Löcher, Wurzeln und Steinblöcke unterscheiden konnte, aus welchen die Landstraßen in damaliger Zeit bestanden, verließ er seine Zufluchtsstätte. Vor ihm dehnten sich jetzt im Dämmerschein die Hügelketten, die endlich in die Flur von Arnstadt hinabsinken.

Von dem nahen Dorfe Waltersleben, das seine von den Kriegszeiten her noch schief hängenden Giebel und geschwärzten Mauern über einige verschont gebliebene Holzbirnbäume erhob, karrte ein Bäuerlein ein Fuder Wachholderbüsche des Weges.

„Ist itzo gesuchte Waare dort unten,“ rief er Hermann zu. „Das war für mich Hülfe in der Noth. Mein Aeckerlein in den schweren letzten Jahren überwachsen von dem stachlichten Zeug, kein Heller im Beutel, kein Stück Vieh im Stall, kein Korn Roggen in der Scheuer zu sehen, das Haus zerbrochen, daß alle vier Winde hindurch fuhren. Da kommt die schwere Noth in die reiche Stadt; sie brennen Tag und Nacht Wachholdern, so die giftigen Dünste verzehren, und ich ernte nun auch einmal, wo ich nicht gesäet habe.“ Er fuhr vergnügt weiter.

Auch Hermann schritt fürbaß. Schwerer blauer Dunst lagerte dort unten und hüllte die Stadt ein. Als das rosige Licht im Osten entglomm, beleuchtete es nur das Krönlein von Pappeln auf der Altenburg, das von den Arnstädtern zu ewigem Gedächtniß an die Stätte gepflanzt worden war, wo die Schweden eine Schanze aufgeworfen und mit ihren ledernen Kanonen bewehrt hatten. Aber ob Hermann auch vor dem Nebel die Zinnen und Thürmchen der Ringmauern noch nicht zu erspähen vermochte, so drang doch schon von weitem eine klagende Glockenstimme an sein Ohr: Hilf Gott! berath! hilf Gott!

„Sie läuten zu einer Betstunde“ flüsterte er mit versagendem Athem, indem er den Markstein der Arnstädter Flur überschritt. Hier und da arbeiteten Leute auf dem Felde; das tägliche Brod mußte beschafft werden, trotz des schwarzen Todes. Zu Boden gebeugt, mit verweinten Gesichtern schwangen sie Sense und Sichel. Jetzt schlug die große Glocke an. Da warfen Männer und Weiber das Werkzeug weg, stürzten auf die Kniee und sprachen mit aufgehobenen Händen die alte Anrufung: „Herr Gott, Vater im Himmel, erbarme Dich über uns!“

Da auf der Landstraße lag der Büttel im Staube und flehte, und dort an dem Weizenfelde, das seine schweren Aehren leise im Winde schwenkte, knieete der Rathsbrunnenmeister mit gefalteten Händen.

Hermann eilte zu ihm hinüber. „Ich bitt’ Euch, wie steht es in der Papiermühle?“ fragte er.

„Ich weiß es nicht,“ stöhnte der Rathsbrunnenmeister. „Sie ist geflohen; denn in ihr brach das Unglück aus. Zwei Mühlknappen starben zuerst an der Pest. Auch meinen Jüngsten hat die Seuche dahingerafft.“ Die Stimme brach ihm. „Doch Gott geleite Dich. Laß mich meiner Andacht obliegen. Der Herr Superintendent hat angeordnet, daß die ganze Gemeinde auf das Glockenzeichen ihr Gebet vereinige, damit es stark genug werde, um die Wolken zu durchdringen.“

Er begann wieder seine Anrufung, und Hermann wandte sich der Stadt zu, beschwertem Herzens denn zuvor. Dort an der Mauer des Gottesackers war das verrufene Pesthäuslein aufgethan. Er kannte die Wärterin, die gleichmüthig den Fensterladen aufstieß, es war die alte Leichfrau. Dem Brauch gemäß öffnete sie einer Seele, die eben ausgehaucht war, den Weg zum Himmel. In der Pestilenzecke des Begräbnißplatzes warfen die Todtengräber eine Grube zu und begannen ein neues weites Grab zu schaufeln.

Der Büttel, der nur unter der Dachtraufe der Papiermühle gehen sollte, schritt an Hermann vorüber. „Da hinein kommt Herr Henning. Es ist keine Zeit zu fürnehmen Begräbnissen,“ sprach er.

Hermann stockte der Athem. „Wer lebt noch in der Mühle?“

„Ich weiß es nicht,“ erwiderte der Büttel. „Der Alte und die Frau liegen auf den Tod. Lauft, da kommt der Karren mit den Pestleichen.“

Dumpf polterte das schwarze Gefährt über die Thorbrücke.

Hermann hielt den Todtengräber an. „Lebt noch Jemand in der Papiermühle?“

Der Todtengräber war betrunken und roch nach Wachholderschnaps. „Weiß nicht,“ lallte er. „Ist auch Alles eins. Einmal kommt doch Jeder unter meine Hacke und Haue.“ Die Schaufel auf der Schulter, schritt er dem Zuge nach.

Herber Duft von Wachholdern strömte Hermann aus der Stadt entgegen, auf allen Kreuzwegen knatterten Feuer und verzehrten den balsamischen Baum. Bis auf die Thürschwelle waren zerhackte Nadelzweige gestreut. Aus den Häusern schallte lautes Jammern. Hier und da sah er an den Fenstern Menschen mit gerungenen Händen stehen.

Aus einem Freihaus stapfte, auf seinen langen Rohrstock gestützt, der Medicus der Stadt in seinem mit silbernen Gallonen besetzten Wams herfür. Der zerknitterte Spitzenkragen und die gewichtig empor geschobene Unterlippe legten Zeugniß für die Schwierigkeit der Zeitläufte ab. Sein Apotheker folgte ihm mit einem umgehangenen Tabulet, auf welchem krystallne Phiolen und Büchsen standen und eine zierliche Goldwage lag.

„Wer lebt noch in der Papiermühle?“ rief ihn Hermann an.

„Weiß nicht; der Sterbslauf ist nicht aufzuhalten, wiewohl wir mit schier wunderbarlichen Arzneien dagegen zu Felde ziehen,“ antwortete der Apotheker. „Das alte Mittel: Pestilenzwurz in Wein destilliret, haben wir bei Seite gestellet, und mein gelahrter Herr hat ein köstlich Experiment aus dem Kräuterbuch des hochberühmten Italieners Mathiolus, weiland Leibarztes des in Gott ruhenden Kaisers Maximilian II, gegen die Pest erlesen, schwierig zu bereiten und schier unbegreiflich. Gewissenhaft haben wir die Vorschriften befolget und in verschlossenen Eierschalen den ganzen Safran gebraten, welcher mit Senfkörnern und Zitwer zu der Latwerge verarbeitet wird, und er wiegt davon ein Quentlein schwer jeglichem Kranken zur Heilung, jeglichem Gesunden zum Schutz ab. Dennoch lieget die halbe Stadt auf der Bahre.“ Er folgte eilig dem Medicus nach, der in ein stolzes Kaufhaus an der Erfurter Gasse hinein schritt.

Mit athemloser Brust eilte Hermann weiter. Aber die Muhme Schmidtin führte nicht umsonst im Schild ihres Hauses am Sperlingsberg den wachsamen Kranich. Urplötzlich schob sie das Fenster auf. Ihr Kopf mit dem Pfauenschweif fuhr heraus.

„Daß Gott erbarm! Wo kommst Du her? Ach das Unglück! Aber ich habe es gleich gesagt. An Zeichen und Wundern hat es nicht gefehlt. Der Nachtwächter hat eine Erscheinung gehabt: um Mitternacht ist ein Leichenzug von lauter Männern [791] ohne Köpfe nach dem Gottesackerthor gegangen und die Thüren der alten Erbbegräbnisse sind aufgesprungen. Als in der Papiermühle ein Maulwurf einen Hügel aufwarf, da habe ich gesagt: Frau Muhme, das hat was zu bedeuten. Der alte Papiermüller meinte zwar: Seid ruhig, Frau Tochter, es wird mich bedeuten; glaubte ich doch schon, der liebe Gott habe mich vergessen. Beruft’s nicht! warnte ich, sonst lebt Ihr bis in alle Ewigkeit. Richtig, die Jungen mußten voran.“

„Ich weiß; Herr Henning –“

„Hat das Zeitliche mit dem Ewigen verwechselt,“ nickte der Pfauenschweif und, die Hände faltend, fügte sie hinzu: „Herr Gott erbarm Dich über ihn. Amen. Und so begraben werden ohne Leichlaken, ohne jegliche Ehre. Was hätte der stolze Mann sonst für eine schöne Leiche gegeben!“

„Um Gottes Barmherzigkeit willen, lebt Hannchen noch?“

„Ich weiß nicht. Gestern Abend war sie noch lebendig. Sie holte Wasser vom Brunnen, denn die Leute sind natürlich davon gelaufen, und die alte Trine hat die drei Kinder in das Lusthäuslein im Brunnengarten geflüchtet, auf daß nicht das ganze Haus aussterbe. Und der Zacharias ist zu weit fort. Es kann auch kein Mensch von ihm verlangen, daß er der Pest in den Rachen rennen soll.“

Hermann hörte nicht mehr. Er eilte über den Markt der Papiermühle zu.

Auf der Schwelle begegnete ihm der Superintendent. Der Sitte der kriegerischen Zeit gemäß, war er wie ein tapfrer Obrist mit Schnauz- und Kinnbart zu schauen. Die silberne Hostienkapsel trug er in der Brusttasche des Ornates, den Kelch in der Hand, da der Küster seiner Kirche selbst auf den Tod lag.

Ein freundlicher Strahl aus seinem muthvoll blickenden Auge fiel auf Hermann. „Du kommst als Hülfe in der Noth,“ sprach er. „Das ist brav. Der feurige Zorn Gottes ist über uns; doch dürfen wir darob nicht verzagen. Er bleibt unser gnädiger Gott und Vater, deß hat er uns gute Briefe und Siegel gegeben in seinem Wort und Sacrament. In seinem Namen magst Du getrost in die Brutstätte der Pestilenz gehen.“

Und den durch einen dreißigjährigen Krieg erstrittenen Kelch hoch hebend, wie die Waffe gegen Hölle und Tod, schritt er von dannen.

Mit zitternden Knieen trat Hermann in das Haus, das seiner Jugend Heimath gewesen war. Nichts regte sich. Die Mühle stand still. Nur das Wasser rauschte. In dem Flure lehnte ein langer schmaler Kasten, von rohen Brettern gezimmert. Kein gemaltes Sprüchlein zierte ihn, keine Blume lag darin. Es war schon ein Vorzug, mit schwerem Geld erkauft, einen eigenen Sarg zu haben, nicht in die gemeinsame Grube geworfen zu werden. Ein Stöhnen drang aus dem Mühlraum. Hermann öffnete die Thür. Da lag auf dem Stroh, entstellt durch die Flecken des schwarzen Todes, weiland Herr Henning, der große Bürger, der sich noch vor Kurzem rühmte, daß er vor Kreuz und Leiden besser geschützt sei, als der arme Hiob. Eine zusammengebrochene Gestalt knieete daneben.

„Hannchen!“ rief Hermann entsetzt.

Sie richtete sich auf. Aus einem todtenblassen, qualvoll verzerrten Gesichte starrten ihn verzweiflungsvolle Augen an. Ob sie ihn erkannte, wußte er nicht.

„Ich kann ihn nicht allein heben und in den Sarg tragen,“ sprach sie mit heiserer Stimme, „und es kommt uns Niemand zu Hülfe.“

„Ich bin da, ich helfe Dir,“ sprach er ihr tröstend zu.

„Du,“ flüsterte sie, „immer Du.“

Sie hoben zusammen die Leiche auf und legten sie in die Todtenlade. Dann knieete Hermann nieder und zog Hannchen an der Hand heran; sie war so kalt wie die des Todten. Sie folgte gleich einem fühllosen Wesen. Er faltete ihre Finger.

„Sprich mit mir ein letztes Gebet,“ sagte er sanft. „Vater unser, der Du bist im Himmel.“

Sie plapperte es nach.

„Dein Wille geschehe.“

Sie stockte.

Er sprach ihr noch einmal die Bitte vor.

Sie preßte die Lippen zusammen. Aber plötzlich riß sie die Hände aus einander und schrie wild auf: „Nein, nein, ich kann nicht. Ich ertrage es nicht. Die Hand des Herrn ist zu schwer. Du weißt nicht, wie es thut.“

„Ich weiß es nicht?“ wiederholte er mit zuckenden Lippen. „Ich habe es meiner sterbenden Mutter nachgebetet. Ich habe es lernen müssen als achtjähriges Kind, und die Hand des Herrn lag noch schwerer auf mir: es blieb mir kein Herz. Nichts, nichts auf der weiten Gotteswelt ist mir geblieben!“ fügte er mit ausbrechendem Schmerze hinzu. „Aber ich habe es erprobt in tiefem Leide, daß mein Mütterlein Recht hatte, wenn sie sprach: Wir armen Erdenwürmer haben kein Gebet weiter vonnöthen, als das eine: Dein Wille geschehe. So wir uns in die Hand des Herrn ergeben, giebt er uns seinen Frieden.“

Vor Johannens Blick tauchte wie aus weiter Ferne das Bild der blassen Frau im grauen Linnenrocke auf, die Sonntags ein Mittagessen in der Papiermühle holen durfte. Die Kleine hatte es ihr gereicht; denn die Eltern ließen gern den Segensspruch der Armen den Kindern zu Gute kommen.

Das hatte damals Niemand gedacht, daß des armen Weibes demüthige Gedanken dereinst dem erstgeborenen Töchterlein des reichen Hauses in tiefer Noth helfen würden. Und doch war es also. Die Erkenntniß, bei Unglück und Leid in großer Genossenschaft zu sein, sänftigt das eigensüchtige Menschenherz.

Die altvertraute Stimme, die allezeit nur Liebes und Gutes zu ihr geredet hatte, löste den Krampf, und als er jetzt die schweren Worte noch einmal zu ihr sprach, fest und demüthig, wie ein geprüftes Herz sie eingiebt, da sprach sie sie stockend nach, und plötzlich sprang der Bann, den die Verzweiflung um die junge ungebeugte Seele gelegt hatte, und sie brach in heiße Thränen aus.

Hermann ließ sie ausweinen. Dann sandte er sie zu der besinnungslos in heftigem Fieber liegenden Mutter und ermahnte sie, ihrer treulich zu pflegen. Er selbst ging in die Kammer des alten Großvaters. Der Greis wandte mühselig sein Haupt nach ihm. Er strengte die eingesunkenen Lippen an, mit dem alten Gruße ihn zu grüßen: „Deinen Eingang segne Gott!“ Die Worte verliefen in unverständlichem Flüstern. Mit zitternder Hand winkte er Hermann heran. Dieser mußte sich tief über ihn beugen, um zu verstehen, wie er mit ersterbender, stockender Stimme hauchte:

„Bin gestärkt durch das heilige Abendmahl zur großen Reise in das Paradies. Nun lies mir das Lied: ‚Mit Fried und Freud ich fahr dahin‘, wenn es auch nicht recht in die Zeitläufte sich schicken will. Ich hatte es mir ausgesucht, daß die Currende es bei meinem Leichenbegängniß singen sollte. Hatte gemeint, der liebe Gott werde mir ein friedsameres Sterbestündlein schicken.“

Hermann las. Und da er mit dem Vers zu Ende gekommen war, hatte der alte Großvater nach den letzten Worten desselben gethan, die lauteten: ‚der Tod ist mein Schlaf worden.‘

Frau Henningin lag bewußtlos. Sie vernahm den Hammerschlag nicht, der die zwei Särge zunagelte; sie hörte das Poltern des Leichenkarrens nicht, welcher zweimal vor der Thür anhielt; ihr Ohr blieb verschlossen dem Summen der Todtenglocken, die für und für ihre Gemeindeglieder auf dem Grabespfad geleiteten.

Johanne hatte allein das schwere Kreuz zu tragen. Aber sie war nicht mehr verlassen. Hermann stand ihr zur Seite wie in vergangenen seligen Jugendtagen, die ihrem darniedergebeugten Gemüth weit zurück, wie in einem früheren Dasein, zu liegen schienen.

Damals war sie seine Beschützerin gewesen; jetzt, da das Leid Einspruch gehalten hatte, trat er für sie ein. Er wußte besser Bescheid als sie, wie man dem Unglück begegnen mußte. Seinem sanften Zuspruch gelang es, sie zu überzeugen, daß es ihr da nichts half, wenn sie zornig aufbrauste und anklagte, aber daß sie allmählich selbst das Schwerste überwinden konnte, wenn sie den Weg der Pflicht ohne Wanken ging, auf daß kein Vorwurf in ihrer Seele sich einzunisten vermochte.

Sie that, wie er wollte. Unermüdlich wachte sie bei der kranken Mutter und zollte ihr all die Fürsorge, die sie dem Vater, dessen Lieblingskind sie gewesen war, nimmermehr erweisen konnte. Aber wenn die wirren Fieberreden der Kranken in leisen Schlummer übergingen, und sie Ruhe bekam, dann brach wieder der heiße Schmerz aus. Dann setzte er sich zu ihr in die düstre Krankenstube an das Lämpchen, dessen Docht zurückgeschoben war, auf daß es nicht zu hell schimmere.

Und er sprach ihr von seiner leidensvollen Kindheit, von seinem elterlichen Haus an der Mauer, das wegen der mangelnden Rückseite in Arnstadt nur das Sterbekleid genannt wurde. Er erzählte, wie die Kriegsfurie es heimsuchte und das letzte Besitzthum [792] der armen Familie vernichtete. Wie eines Tages Merode’sche Soldaten nach Arnstadt kamen und ein junger Kriegsknecht scharmuzierend bei ihnen hereinbrach, die Mutter mit ihm auf dem Arm flüchtete, und – da sie endlich wieder zurück sich wagte – den ärmlichen Hausrath zerschlagen, das Bett, das sie in ihren Dienstjahren mit allen gesammelten Hühner- und Taubenfedern gestopft hatte, aufgeschnitten und die Flaumen in alle Winde zerstreut fand. Der Vater aber lag todtwund gestochen am Boden und vermochte nur noch zu stammeln, daß auch der Glücksducaten geraubt sei. Es wollte Hermann oft ein Wunder bedünken, daß ihm zugleich so wonnesam und wehmüthig um’s Herz war, wenn er ihr von seinen armen Eltern sprach, und sie nimmer müde wurde, von seiner schwer geprüften Mutter zu hören.

Und sie lernte sich bescheiden. Vor dem Leid, das diese arme Erdenpilgerin getragen hatte, verstummte die stürmische Klage der großen Bürgerstochter. Sie wurde still in ihrem Schmerz.

Gemachsam genas die Frau Henningin wieder. Ihre treuen Pfleger verschonte die Pest. Hermann’s muthiges Beispiel hatte das im ersten sinnlosen Schrecken fortgelaufene Gesinde beschämt. Der Knecht, die Tagelöhner kehrten zurück. Dann kamen auch die Versippten und Gefreunde, weinten mit der Frau Henningin und klagten ihr das eigne ausgestandene Leid.

Johanne und Hermann hatten nicht Zeit, sich um den Einspruch zu kümmern. Sie arbeiteten rastlos, um die Spuren des Unglücks zu verwischen. Die Mühle wurde gesäubert und Unheimliches im Feuer verbrannt. Hermann sah die Bücher ein und rechnete, sandte Schreiben an Zacharias und die Geschäftsfreunde, welche anzeigten, daß die Seuche zu erlöschen beginne. Johanne führte die Wirthschaft, tröstete und pflegte die Mutter und hielt die Kinder in Zucht. Mit ihnen verfuhr sie, wie Hermann mit ihr gethan hatte. Sie legte ihnen Pflichten auf, die ihren Kräften entsprachen.

Christel bekam die Tageswacht bei der großen Herbstwäsche, welche nach Arnstädter Brauch auf der Hohen Bleiche von der Sonne und dem Mond beschienen werden mußte, und Bastian hatte den Bienen den Tod des Bienenvaters anzuzeigen.

Wenn man beim Erbfall die andern Hausthiere mit Stöcken aufjagte, heischten die wilden Würmber feinere Rücksicht. Der älteste Sohn war nicht beihanden; so kam es Bastian zu, des Amtes zu walten. Als tapfrer Junge bezwang er sich. Mit abgezogenem Hütlein trat er zu dem Bienenhaus und that laut dem Volk der Immen kund, daß ihren zeitherigen Meister der Herr über Leben und Tod abgerufen habe, und ermahnte sie, ihrem nunmehrigen Bienenvater treu, hold und gewärtig zu sein wie dem alten. Dann drückte er die Fäuste vor die Augen, biß die Lippen zusammen und ging heim.

Bald war die Ordnung wieder hergestellt, und die Papiermühle blitzte und blinkte äußerlich und innerlich von Sauberkeit und Wohlstand.

Und nun schlug die Stunde, da auch die Muhme Schmidtin dahin zurückkehrte. Gleich einem Klageweibe erhob sie ihre Stimme und ihre Arme; aber nachdem sie noch einmal den ganzen Jammer aufgewühlt hatte, wandte sie sich den Vorkommnissen des täglichen Lebens zu. Und von Stunde an hielt sie wieder pünktlich wie sonst am helllichten Tage mit einem Laternchen und einem schuhlangen Hausschlüssel Einspruch in der Papiermühle, zum großen Verdruß der Magd Trine, die dann allezeit nach den Bäckerbänken am Rathhaus springen mußte, damit die Muhme mit frischen Mussemmeln tractirt werden konnte. Und wenn das Mühlwerk wohl geschmiert war, dann dämpfte die Gastin ihre Rede allgemach zu einer leisen Murmelung in das blasse, mit einem großen goldnen Ring geschmückte Ohr der Frau Henningin. Diese belebte sich sichtlich unter ihrem Geflüster. Freilich bekam sie zuweilen wieder fieberrothe Bäckchen, wenn die Muhme mit einem falschen Blick auf Hermann geraunt hatte: „Es wird auf allen Gassen breit getreten, die ganze Stadt rümpft die Nase darüber.“ Sie begann auch wieder zu nörgeln, da Johanne einen künstlichen Kuchen, den Fischer ihr zum Geburtstage verehrte, und der wie ein Taubennest formirt war, sonder Freude und Achtung dem Ingesinde preisgab, nachdem Benjaminlein dem Taubenpaar die Rosinenaugen ausgegessen hatte.

Ueber Johannens Züge aber senkte sich allmählich ein düsterer Schleier. Zuweilen zuckte ein scheuer Blick von ihr zu Hermann auf, daß dieser betroffen nachsann, womit er sie gekränkt haben könne, oder sie fuhr wie aus einem Traume empor, wenn Mutter und Geschwister schon lange auf sie eingeredet hatten. Einmal, da Hermann von dem Rechnungsabschluß am Neujahr sprach, sah sie verwirrt zur Seite und gab keine Antwort.

Auch auf sein Herz legte sich ein Druck wie von einer kalten Hand. Er konnte das Unheimliche nicht nennen, das seinen Schatten voraus warf; aber er hatte das Gefühl, als schöbe es sich verhüllt und dunkel trennend zwischen ihn und Hannchen.




Als der Windmond mit eisiger Ostluft über das Land zog, athmeten die Arnstädter auf. Waren auch in den letzten Wochen neue Erkrankungen nicht mehr erfolgt, so hatte die Stadt doch erst jetzt Gewißheit, daß die Seuche nicht wieder aufflackern könne. Der alte deutsche Riese Frost warf unwiderstehlich den Würgengel aus dem Morgenlande nieder; das war ein alter Erfahrungssatz. Aber er schob auch, wie männiglich bekannt, Laub und Blumen in seinen Sack. In dem Garten an der Brunnenkunst, wo in den Wochen der schweren Heimsuchung Unkraut und Zierpflanzen lustig durch einander gewuchert hatten, hing das Augentrost im Gras so gut den Kopf wie Liebstöckel auf dem Beet; nur das bittere Kräutlein Wermuth hielt sich tapfer zwischen den braunen Mauersteinen.

„Alles welk, todt!“ flüsterte Hermann für sich, während er die schützende Winterdecke von Stroh vor das Bienenhäuschen hing.

Da klirrte die Pforte und Hannchen trat in den Garten. Sie trug einen Brief in der Hand, und an ihrer Schürze hing Benjaminlein. Hermann erschrak, da er sie erschaute, bleich mit gerötheten Augen. Die Trauerkleidung konnte nicht an ihrem elendigen Aussehen schuld sein, an die war er ja – leider Gottes! – gewöhnt.

Einen Augenblick stand sie still und schöpfte tief Athem. „Lieber Gott,“ sprach sie leise, „ist mir’s doch um’s Herz, als sollte ich Tauben schlachten. Das bringe ich auch niemalen zuwege. [793] Aber hier hilft mir kein Dienstbote, und gethan muß es sein.“ Sie faßte sich einen Muth, drückte ihr Herz zusammen, wenn es auch gegen den Zwang schütterte und klopfte, daß selbst die gebrannte Spitze, die ihr Häubchen einrahmte, davon zitterte. Langsam schritt sie durch die mit Buxbaum eingefaßten Wege heran und gab Hermann das Schreiben.

„Es ist von Zacharias gekommen,“ sagte sie. „Er wirft sich darin auf als nunmehriger Herr unsrer Sippe. Und er will heimkehren, sobald die Winterkälte ihm völlig Sicherheit giebt gegen die Pestilenz.“ Ihr Ton klang bitter.

Hermann warf einen Blick auf den Brief und dann auf sie. Sie sah an ihm vorüber, als fürchte sie, seinem Auge zu begegnen. Da erblaßte auch er.

„Du meinst, ich sei nun überflüssig,“ sprach er langsam. „Ich soll wieder gehen.“

Sie verschluckte ein Schluchzen, das tief aus dem gequälten Herzen stieg. In vielen schlaflosen Nächten hatte sie gesonnen, geprüft und abgewogen, was zu thun das Rechte sei. Sie hatte den Entschluß, wie es werden sollte, allein werden konnte, sich abgerungen. Nun aber mußte er auch durchgeführt werden, ohne rechts und links zu schauen. Fast mechanisch redete sie, wie sie sich vorgenommen hatte: „Das ist gewißlich das Beste. Sieh, Hermann, wir müssen den Kopf oben behalten; den hat der Herr in seiner unerforschlichen Weisheit zu oberst gesetzt, auf daß er den ganzen Menschen regiere. Auch das Herz muß ihm gehorchen; denn hätte Gott es anders gewollt, so meine ich, er hätte dasselbige oben darauf gestellt. Glaube mir, ich habe nichts vergessen,“ fuhr sie innig fort, und die Stimme wurde hell, und die Worte flogen von ihren Lippen, „nicht, wie Du als Kind mit mir gespielt und mich den Katechismus gelehrt hast, der mir so schwer zu Kopfe ging, nicht, wie Du als großer Bursch für mich die Arbeit in der Nacht thatest, von welcher Du wußtest, ich schaffte sie nicht gern. Und Gott ist mein Zeuge, mit wie heißem Segenswunsch ich Dir dafür danke, daß Du aus der gesunden Stadt Erfurt in das verpestete Arnstadt eiltest, und als ich verlassen zwischen Todten und Sterbenden stand, zu mir tratest in das gemiedene Haus wie ein Engel vom Himmel. Dessen will ich eingedenk sein bis zu meinem letzten Stündlein. Aber,“ fuhr sie leiser fort, „unsere Lebenswege scheiden sich einmal. Ich bin in angesehener Bürgersippschaft geboren, Du bist eines armen Flickschusters Sohn.“ Schluchzen erstickte ihre Stimme.

Es war still; nur leise fiel ein Blatt von dem Rosenstrauch, von dem Hermann im Frühling eine Knospe gebrochen hatte, zur feuchten Erde nieder. Hermann stand wie gelähmt. Jetzo enthüllte sich das Schreckniß, vor dem ihm seit Wochen gegraut, und nun verwunderte er sich, daß es ihm nicht von Anfang an klärlich vor Augen gestanden hatte. Er kannte ja die großen Bürger seiner Vaterstadt. Sollte ihm widerfahren sein, daß ganz heimlich in seinem Herzen die Hoffnung aufgekeimt wäre, Hannchen würde, verwaist, der Stütze bedürftig, ihn um seiner treuen Liebe willen zum Ehegesponsen wählen? Er wußte es selbst nicht. Nur das fühlte er: es gab kein größeres Herzeleid für ihn, als die Trennung von ihr. In der Angst vor diesem Schmerz verleugnete er selbst das große, tiefste Gefühl seines Lebens.

„Du bist im Irrthum, Hannchen, wenn Du glaubst, daß ich etwas von Dir will,“ suchte er sie zu überreden. „Die Muhme und die Mutter haben Dich verwirrt. Ich will nichts als ein Eckchen in Eurer Mühle und die Erlaubniß, die Wohlthaten, die Ihr mir erwiesen habt, mit meiner Hände Arbeit zu vergelten.“

[805] Johanne schüttelte trübe den Kopf. „Das hast Du längst in überreichem Maße gethan. Aber an mir ist es, darüber zu wachen, daß Du nicht fürder Opfer bringst. Habe ich Dir nicht gesagt, daß Zacharias heimkommt und nun Herr in der Papiermühle wird? Willst Du als halb überflüssiger Knecht von ihm gehudelt sein? Soll ich die Sünde auf mich laden, daß Du um unserer Jugendfreundschaft willen Deine besten Jahre verlierst?“

Hermann sah ein, sein Verleugnen war vergebens. In heißem Schmerz hob er die Hände zu ihr auf. „Wie gerne gebe ich sie hin für die Seligkeit, daß ich für Dich arbeiten darf!“

Ihr Herz krampfte sich zusammen. „Ach Gott!“ seufzte sie, „warum quälst Du mich und hast kein Einsehen, ich mag predigen, wie ich will?“

Dann faßte sie sich gewaltsam. Tief senkte sie die dunklen Wimpern, als vermöchte sie nicht den Eindruck ihrer Rede zu schauen, und sprach: „Lieb’ und Treu’ zwischen Mann und Weib kann nur da zum Heil gedeihen, wo ein christliches Ehebündniß sie zusammen schließt. Und solches ist bei uns unmöglich. Niemals würde meine liebwerthe Frau Mutter ihre Einwilligung dazu geben, niemals Zacharias und unser Vormund, der Rathsbrunnenmeister. Und – Gott helfe mir!“ – sie mußte noch einmal Athem holen, und ihre kleine Hand ballte sich fest zusammen, als sie mit einer Stimme sprach, die Hermann wie eine zersprungene Glocke klang: „Und auch ich vermöchte es nicht. Ich kann kein armes Weib, und Du kannst kein großer Bürger werden.“

Wie ein Donnerschlag fuhren ihm ihre Worte in die Seele. Einen Augenblick war es ihm, als müsse er lachen. Hatte er ihr beim Knistern des Nachtlämpchens nicht selbst erzählt, was es bedeutet, ein armes Weib zu sein? War ihr die rasch zum Ende führende Pest nicht erträglicher erschienen, als das langsam fressende Elend? Sie zog jetzo ihre nützliche Lehre aus den Erzählungen von seiner armen Mutter, die ihm aus dem Herzen geflossen waren. Sie blieb die echte Tochter ihres Vaters, eine Meisterin in der Kunst, das Leben klug zu führen.

Da faßte ihn Benjaminlein an seiner herabhängenden Hand. Wie Kinder oft hören und begreifen, was man unverständlich für sie hält, hatte auch der Kleine verstanden. „Komm, wir wollen die zwölf silbernen Apostel suchen. Drüben in der Kirche liegen sie vergraben, da, wo die steinerne Katze hinschaut. Wenn Benjamin sie findet, schenk er sie Dir, dann bist Du auch reich.“

Der Kleine sah ihn auffordernd an. Er hatte dieselben Augen wie Hannchen, voll leuchtender Lichtpünktchen auf dem hellbraunen Grunde, und so lieb und mild hatte sie ihn auch allezeit angesehen, wenn sie ihm Gutes erwies, da sie noch Kinder waren.

Vor der holden Erinnerung verging ihm das höhnische Lachen. Er strich Benjamin über das danke Köpfchen und sprach ernste wenn auch mit zitternder Stimme:

„Statt nach den silbernen Bildern der zwölf Boten zu suchen, denke lieber daran, daß sie, die das Christenthum in alle Welt trugen, arm waren wie ich, und daß ihr Meister sprach: ‚Eher geht ein Kameel durch ein Nadelöhr, als daß ein Reicher in den Himmel kommt.‘ Dir aber, Hannchen, sage ich“ – und er richtete sich mannhaft zu seiner schlanken Höhe auf – „Dir sage ich, Du überhebst Dich mehr, als Dir zukommt. Redest Du doch, als seiest Du ein hochgebornes Fräulein aus der Neidecke, ob auch Dein Urgroßvater nichts anderes war als der meinige. Wir sind beide Bürgerskinder von Arnstadt, und es haftet an meinem Namen so wenig ein Makel, als an dem Euren. Warum soll es mir unmöglich sein, aus dem zerfallenen Sterbekleidhäuslein mich empor zu arbeiten? Gar manches arme Arnstädter Kind ist schon zu Ehren gekommen vor aller Welt. Aber glaube nicht, daß ich Dir Fürstellung thue, von Deiner Meinung abzulassen. Ich habe in dieser bitteren Stunde gelernt, daß es dem Manne nicht ziemt, das Weib alle Wege um ein Fünkchen Liebe anzubetteln. Und jede Mühe wäre auch bei Dir vergebens. Denn so lieblich Du anzuschauen bist, Dein Herz ist klein und verschrumpft geblieben, daß es nur gerade weit genug ist, um Stand und Geld hinein zu schließen. Aber für die Liebe, die wie der Hauch unseres Herrgottes durch die Welt zieht, hat es keinen Raum. Darum achte ich, es ist wie eine tönende Schelle an der wohl verschlossenen Thür des reichen Hauses, nicht wie eine schön klingende Kirchenglocke. Lebe so glücklich, wie eine große Bürgerstochter es vermag. Der arme Hiob schüttelt den Staub der hochmüthigen Stadt, allwo nur der Reichthum etwas gilt, von den Füßen. Fahre wohl!“

Er schritt rasch hinaus und achtete nicht auf ihre ihm nachgestreckten Hände, auf die mit gebrochener Stimme gestammelten Bitten. Als ihre zitternden Füße sie in das Haus hinüber getragen hatten, ging er schon am Weißebach entlang von dannen. Da that sie ihrer Sippe seinen Weggang kund. Frau Henningin athmete auf; aber die Kinder weinten. Trine fuhr wie ein wild [806] gewordener Flederwisch umher, und Bejaminlein sprach zu ihr: „Garstige Hanne!“ und aß zu ihrer Strafe das Mittagebrod nicht, das sie ihm vorlegte, und es waren doch blau gesottene Dickköpfchen aus der Gera.




Als der Tag sich neigte, wanderte Hermann langsam durch den Steigerwald zurück, den er vor einem Vierteljahr in athemloser Hast herabgekommen war. Die bereiften Zweige der Buchen und Eichen wölbten sich über ihm gleich Kirchenhallen, vom Abendlicht rosig angehaucht. Ueber das abgefallene Laub, das welke Gras des Bodens breitete sich eine glitzernde Decke von feinen Eiskrystallen.

Noch einmal schauten durch eine Lichtung die Schwedenschanze, der enge Mauerring und die hohen Thürme Arnstadts empor, überwallt von Abendnebeln. Aber nicht wie sonst hing Hermanns Auge sehnsüchtig an der Vaterstadt. Nur einen ernsten Scheidegruß warf er hinab auf das allmählich in Grau übergehende Bildlein. Dann setzte er seinen Stab weiter fort über den breiten Bergrücken. Die bemoosten Stämme traten zusammen wie eine feste Wand und schlossen den Rückblick hinter ihm ab.

Endlich lichtete der Wald sich vor ihm. Er stand an der Schlucht, in welcher der Weg hinab gen Erfurt führte. In der Abenddämmerung breitete drunten die große Stadt sich aus. Das Getöse des Menschengewimmels drang wie Meeresbrausen heraus. Es war ein stattliches Bild, das vor ihm lag.

Da dräuten die trutzigen Thürme der Cyriaxburg; der eine trug eine schwedische Kugel in der Mauer, wie ein Held seine Wunde, ohne zu wanken. Hier stieg das steile Dach der Hochschule auf. Waren auch ihre Mauern in den schweren Kriegsläuften schwarz angeräuchert, so leuchtete doch hell der Strahlenkranz, den hochberühmte Männer um sie gewunden hatten. Dort lag auch das graue Augustinerkloster, aus dem der Mann hervorgegangen war, der die Mißbrauche der Kirche ausfegte mit seiner Feder, als sei diese das feurige Schwert eines Cherub, er, der Bettelmönch, der arme Bergmannssohn.

Und in dem weiten Wallringe vertrug sich auch Entgegengesetztes. Neben den evangelischen Kirchen erhob sich der katholische Dom; selbst das Volk Israel hatte da drüben vor der Krämerbrücke ein Heim gefunden.

Die große Landstraße, welche die beiden stolzen Handelsstädte Leipzig und Frankfurt verband, führte durch Erfurt. Vielgereiste, welterfahrene Leute hielten allda Einspruch und Verkehr, und durch die neuen Anschauungen, welche sie mitbrachten, wurden alte Vorurtheile überwunden, hemmende Schranken hinweg geräumt. An solchem Orte vermochte einer tüchtige Kraft sich emporzuarbeiten. Das hatte er schon erfahren, da er das erste Mal dort war, an seinem Vetter und an sich.

Zwischen den stattlichen Bauwerken ragte der hohe Schlot der berühmten Glockengießerei von Möhring’s selig Wittwe auf. Damals, als der kaiserliche General Hatzfeld vor Erfurt lag, hatte eine Karthaunenkugel den Schornstein gestreift und eine Ecke mitgenommen: aber er sandte seine Rauchwölkchen doch eifrig in den abendlichen Himmel, als winke er mit einem weißen Tüchlein. Hermann wußte, daß er mit Freuden wieder aufgenommen wurde, denn wenn auch viele Menschen in der Stadt herumliefen und nach Broderwerb spähten, so mußte das in dreißigjährigem Kriege verlotterte Volk doch erst wieder lernen zu arbeiten. Und das verstand der Arnstädter aus dem Grunde.

Und wie jetzt Stern an Stern am dunkeln Himmel auftauchte, so entzündete sich drunten in der Ebene Licht an Licht. Die kleinen Häuser der Stadtsöldner auf den Wällen erleuchteten sich, einen Funkenring um ein Meer von Feuerpunkten ziehend. Lichtstrahlen schossen darüber aus den Fenstern der Thurmwächter in die Nacht hinaus, und über allem leuchteten die bunten gothischen Fenster des Domes. Da wurde ihm das Herz weit, und mit einem Gefühle, als kehre er in die Heimath zurück, schritt er nach Erfurt hinab.

Es war Martinsabend. Die große Maria Gloriosa erhob ihre mächtige Stimme dem Bischof Martin zu Ehren, und auf den Graten standen die Currendeschüler und sangen: „Eine feste Burg ist unser Gott“, dem Doctor Luther zum Preise. Die feierlichen Klänge stiegen in schöne Harmonie verschmolzen zum gestirnten Himmel auf, den beiden großen Streitern des Herrn als Opfer dargebracht. Und auch die Menschen vertrugen sich; Papist und Lutheraner verzehrten friedsam ihre Martinsgänse und die mit Mus gefüllten Martinshörner und schauten den Kindern zu, die, Stablichter tragend, durch die Straßen liefen und sangen:

„Martin war ein braver Mann,
Zündet tausend Lichter an,
Daß er droben sehen kann,
Was er drunten hat gethan.“

Die Lutheraner kränkte es nicht, daß der Ursprung des Festes katholisch war – der heilige Martin ist Schutzpatron der Trinker, und sein Namenstag wurde darum nach allem Brauch mit Schmaus und Trunk gefeiert – und die Katholiken ärgerten sich nicht, daß die lutherischen Kinder das Verslein allein auf den Reformator bezogen. Die Menschheit war einmal durch Schaden klug und des dreißigjährigen Krieges überdrüssig geworden.

Auch in der Gießerei machte Eberhard heute frühzeitig Feierabend und begab sich dann hinüber nach dem Wohnhause. Dort roch es schon nach dem sich bräunenden Martinsvogel.

„Habt Ihr die Gans auch ordentlich mit Borsdorfer Aepfeln gefüllt und das Kräutlein Beifuß nicht vergessen?“ fragte er scharf die Köchin.

Da klappte hinter ihm die Stubenthür, und der stahlgraue Rock der Meisterin drückte sich durch die Hauspforte. Aber er hatte seitwärts gelugt, mit ein paar Schritten sie erreicht und führte sie nun an der Hand wie ein unartiges Kind in das Geheimstüblein Herrn Möhring’s selig, wo der Zahltisch stand und ein zwerghaft gebauter dickleibiger Schrank, sowie die mit Eisen beschlagene, mit Schlössern behangene Geldtruhe.

„Ich sage Euch, Meisterin: so kommt Ihr noch in Unehre und Verfall,“ hub er an. „Allezeit habt Ihr ein Gemunkel und Geflüster mit den Mägden, und verschwindet, so es Abend wird, aus Eurem Haus. Ich erachte Euch derowegen für einen Quirlequitsch. Wohin wolltet Ihr soeben, da ich Euch erwischte und wieder anher führte in sicheres Gewahrsam? Redet!“

Sie wand sich hin und her: aber seine scharfen rothbraunen Augen ließen sie nicht los. „Zu Isaak in die Judengasse,“ gestand sie endlich, verlegen an ihrer Schürze zupfend.

„Hattet Ihr schon wieder kein Geld?“ schalt er. „Warum kauftet Ihr Euch dann dieses Messer und die silberne Gürtelkette?“ Er strich prüfend über das Geschmeide, das ihre runde Gestalt umschlang, und hob das schöne verzierte Messer empor. „Ist formirt wie ein Türkensäbel und gänzlich ungeziemend für ein Frauenzimmer. Wollt Ihr die großmächtige Judith fürstellen? Laßt das unterwegen. Hab’ ich Euch nicht hundert Mal gesagt: drei Pfennige muß ein rechtschaffener Mensch haben, einen Zehrpfennig, einen Nothpfennig, einen Sparpfennig? Aber Ihr seid ein verthunliches Weib. Wollet Ihr Bankerott spielen? Gelüstet Euch darnach, daß Eure Sachen obrigkeitlich petschiret werden und die Gießerei im Aufstrich verkauft wird? Dann stellt Euch der Rath leichtsinniger Schuldenmacherei halber auf den Pranger, als welcher bei Euch ein absonderlich Spectakul ist, ein Vogelbäuerlein auf langer Stange.“

Sie faßte ihn erschrocken mit beiden Händen und sah ihn mit ihren großen harmlosen Augen hülflos an.

Er wurde dadurch besänftigt. „Nun, noch einmal will ich Euch von dem Pranger erlösen und mit meinem Sparpfennig aushelfen. Den Nothpfennig habt Ihr schon dahin. Doch müßt Ihr mir darüber eine Handschrift geben; denn von einem Weib kann man sich des Schlimmsten versehen.“ Er holte ein Säcklein aus seiner Truhe und zählte ein rundes Sümmchen aus.

„Es ist auch ein Kaisergüntherthaler dabei,“ rühmte er.

Sie kicherte schon wieder sorglos. „Ihr thut so wichtig, daß man meint, ein Arnstädter Thaler sei mehr, denn ein andrer.“

Er nickte mit vielsagendem Blick.

„Daran ist auch etwas. Zum mindesten hält der Thaler in Arnstadt länger vor, als bei Euch. Macht Eure drei Kreuze unter die Schrift. Weiter bringt Ihr Weibsvolk es doch nicht. So. Und nun gestehet, wohin Ihr gestern Abend gequitscht seid.“

Jetzt wandte sie sich gänzlich ab und begann an ihrem Trauring zu drehen.

Er hielt ihre runden Finger mit seiner thönernen Pfeife nieder. „Denkt nicht mir zu entschlüpfen. Wir Arnstädter wischen [807] über nichts mit dem Flederwisch weg, sondern kehren jegliche Ecke richtig aus und säubern sie von Spinnweben. Ich frage Euch als treuer Diener Eures weiland Ehegesponsen,“ fuhr er erhobenen Tones fort.

Sie schüttelte sich wie ein trotziges Kind.

„Waret Ihr einmal bei der Wahrsagerin an der Hirschlache?“

Sie nickte.

„Nun erzählt mir wenigstens,“ sprach er, und nahm einen ehrbaren väterlichen Ton an, „auf daß ich höre, ob Ihr auch nicht in die Fallstricke des Satans gerathen seid.“

„Da sei Gott für!“ rief sie. „Ich habe von ihr einen Traum auslegen lassen. Mir träumte von Rauch und Feuer: der Qualm bedeutet Unglück, die helle Flamme Glück; von Eiern und Geziefer: die Eier bringen Verdruß, das Geziefer Geld. Und wirklich, Ihr habt es mir geschafft. Nun fehlt der Verdruß noch, das Glück und das Unglück.“

„Und habt Ihr nicht nach einem neuen Ehegesponsen geforscht?“ fragte er und klopfte mit seiner Pfeife auf ihre Hand, in der fünf tiefe Grübchen standen.

Sie hielt sich die Augen zu.

„Könnet Ihr es nicht geduldig erwarten, bis Gott eine Verrückung Eures Wittwenstuhles verhängt?“

Sie lugte ihn ängstlich an.

„Nun?“ forschte er lachend, daß seine weißen Zahnreihen blitzten.

„Ach, vielwerther Obergesell,“ gestand sie und schaute schämig zur Seite. „Sie hat ein Ei ausgeschlagen, darin war eine Hochzeitskirche.“

„In einem Ei?“ lachte er auf. „Ihr Weiber seht immer, was Ihr Euch wünscht.“

„Sie meinte, es sei Einer mit hellem Haar.“

Das fuhr ihm vor den einst dunkellockigen Kopf. Aber dann machte er ein pfiffiges Gesicht.

„Kann schon sein. Hat Sie auch bedacht, daß weiß noch heller als gäl ist?“

Die alamode Anrede verwirrte sie gänzlich. „Hör Sie“ wurde nur die Stadtschultheißin genannt. Sie verstand darüber den Sinn der Worte nicht. So ergeht es zuweilen dem schwachen Geschlecht. Aber sie war bedacht, auch feine Lebensart zu zeigen. Ganz geschmeichelt verstauchte sie sich und sprach: „Wie es Ihm beliebt, Mosjö.“

So war es nach Eberhard’s Sinn.

„Und nun zeige Sie, daß Sie eine tüchtige Frau ist, und richte Sie eine ordentliche Mahlzeit zu. Für den deutschen Mann ist das Speisen ein ernstes Werk. Mit dem Taufschmaus wird er im Leben empfangen, mit dem Leichenschmaus heimgeleitet, und jegliches Fest, so zwischen diesen beiden Ereignissen liegt, muß gebührendermaßen durch ein Mahl gefeiert werden, soll es ein würdig begangenes heißen. Die Gans allein thut es nicht; es könnten wohl noch ein paar Schüsseln heute am Platz sein.“

„Eine Birntorte hab’ ich noch,“ sprach sie.

Er schüttelte den Kopf. „Süßes Geschlecke. Schicke Sie die Magd nach dem Fischersand. Ein Paar Karpfen können nicht schaden, und so Sie die Hühner, die draußen am Küchenhaken hängen, gleich in den Topf steckt, giebt es eine Suppe mit geröstetem Brod. In diesem Falle will ich Ihr durch die Finger sehen, so Sie nicht knickert.“

„Wie Er meint, Mosjö,“ stimmte sie zu.

„Wahrlich, Meisterin, Sie hat heute ein paar Backen, als ob sie im Gießofen geglüht wären,“ schmunzelte er. „Wie wär’s, wenn Sie mir als Vorkost ein Mäulchen gäbe?“

Sie hatte schon ihr „Wie Ihm beliebt“ auf der Zunge. Da klopfte es bescheiden. Die Meisterin schritt mit dem Leuchter von Glockenguß hin und öffnete. Da stand Hermann Zimmermann in dem braunen Rahmen der Thür. Frau Möhringin schrie auf und mußte den Leuchter hinsetzen, daß es klang wie ein Freudengeläut, und Eberhard’s Fingern entfiel die Pfeife und zerbrach.

Hermann merkte die Bestürzung nicht.

„Wollt Ihr mir noch einmal Arbeit geben?“ fragte er in so festem Tone, daß die Beiden meinten, er rede mit fremder Stimme. „Ich werde nicht wieder fortgehen. Ich bin dort ein unnützer Knecht worden.“

Die Meisterin machte nicht viel Worte; aber sie rannte nach den Schlüsseln von Keller und Speisekammer.

„Wie gut war es, daß Ihr eine herrliche Erkostung anordnetet, werther Obergesell,“ rief sie diesem eilig zu. „Ihr habt doch immer Recht. Und viel Dank, daß Ihr Euer Geld dazu gabt. Das ist einmal ein Festtag. Seht, der Traum geht aus. Nun ist auch das Glück da.“

Eberhard stampfte wüthend mit dem Fuße auf. „Und das Unglück und der Verdruß werden auch nicht ausbleiben. – Nehmt nur um Gotteswillen Eure fünf Sinne zusammen, daß der Karpfen wenigstens nicht mißräth,“ griesgramte er. „Denket daran: Essig, Wein, Ingwer, vier Loth gemeinen Pfeffer, zwei Loth langen Pfeffer, Zimmetröhren, Weinbeerlein, Mandeln habt Ihr an die Tunke zu spendiren.“

„Sorget nicht! Einen solchen Karpfen, wie ich heute schmore, habt Ihr noch niemals gespeist,“ tröstete sie. Beide hatten die alamode Anrede vergessen.

Verdrüßlich führte Eberhard seinen Vetter in seine Hinterstube. Als ihm dort Hermann seine bitteren Erfahrungen erzählte, kam er auf andere Gedanken. Er bedauerte seinen jungen Versippten; aber er that es auf seine Weise.

„Vermaledeites Weibsvolk!“ fluchte er. „Wir Männer müssen zusammenhalten. Wir sind jetzunder in der Minderzahl; es sind zu viele von uns in dem großen Kriege todtgeschlagen worden. Da nehmen die Weiber überhand. Nach dem Bauernkriege ist es ebenso gewesen. Dazumal sind sogar Gesetze gegen die Ueppigkeit des Weibsvolkes erlassen worden. Aber endlich haben sie doch zu Kreuze kriechen müssen, wie sich’s gebühret. Denn: Mannshand oben!“

„Sie soll oben bleiben,“ sprach Hermann. „Alsdann ist aber auch vonnöthen, daß wir selbst das Haus gegründet haben, darin wir das Regiment führen, und nicht Begehren tragen, uns in ein Nest zu setzen, welches das Weib gebaut hat.“


Eberhard nickte. „Bleibe bei diesem Grundsätze; ich kann ihm meinen Beifall nicht versagen, wiewohl ich für mich hierentgegen die Meinung hege, daß ein Weib Gott danken soll, so sich Einer findet, der ihr erbärmliches Nest regiert. Und sie danken zuletzt auch Alle Gott. „Aber“ – er blinzelte Hermann an – „es dürfen sich nicht Zwei dazu bereit erklären, sintemalen sie, so die Wahl ihnen zusteht, nicht wissen, wie sie am wohlsten thun wollen.“




In schweren Zeitläuften lernt der Mensch schnell mit dem Mißgeschicke fertig werden, bald wieder nutzbringenden Arbeiten, kleinen Freuden des Lebens sich zuwenden. Als in Arnstadt die Schneeflocken in stürmischem Getümmel herabtaumelten auf die welken Blätter der Gärten, das blanke spitze Kieselpflaster der Gassen, die schwarzen Erdhügel in der Pestilenzecke, da schallte von den Tennen der fröhliche Tact der Drescher, schnurrten in den Stuben lustig die Spinnräder, beehrten die Hausfrauen sich gegenseitig mit Schlachtschüsseln, ertönte das Jauchzen der Kinder, die sich im Schlitten fuhren und Schneemänner bauten.

In der Papiermühle fachte die Muhme Schmidtin das Fünklein Lebenslust wieder an. War es doch Erntemond, da die Heimsuchung hereinbrach, und nun befand man sich schon im Hornung. Sie redete so lange auf die Frau Henningin ein, bis diese eine Ausrichtung beschloß. Der Rathsbrunnenmeister war erbötig, als männlicher Beistand das junge Volk im Zaume zu halten; denn der fürsichtige Zacharias zögerte noch immer mit seiner Heimkehr, dieweil der Schnee des Winters die weite Reise gefährlich machte.

Eines Tages erschien Trine in allen befreundeten Häusern, wo es junge Gesellen und Jungfern gab, und brachte eine wohlgesetze Einladung zu der gütigen Fürliebnehmung einer Spinnstube mit möglichster Bedienung jetziger Zeit. Als der Abend kam, war die Stube festlich hergerichtet: der Boden mit Sand bestreut; der grüne Kachelofen geheizt; auf der braun gebeizten Kannerücke reihten die Bierkrüge sich an einander, die lange Tafel bedeckten Tücher, deren weißen Grund blaue und rothe Streifen durchzogen, und daraus standen wie Silber glänzende Zinnschüsseln, aus denen die Tractirung aufgetragen war.

Die Erste, welche ihren Einzug hielt, war die Muhme Schmidtin. Sie hatte sich bereit erklärt, den Gastgebern im [808] Nöthigen der Gäste beizustehen, wie das üblich war, und den Discurs zu wenden, so die Rede auf unliebsame Dinge kommen sollte.

Und sie erwies sogleich ihre gesprächsame Laune, „Ich wünsche allerseits einen gesegneten Abend,“ begann sie. „Das ist recht, daß Ihr aufhört, allezeit Trübsal zu blasen. Ei, welch fürtreffliche Wurst habt Ihr aufgetafelt! Wie hoch ist der Kuchen aufgegangen! Und wie schmuck sieht die Hanne wieder aus!“

Die Schmidtin hatte Recht. In der frischen Winterluft war Johanne auf’s Neue erblüht; ihre Wangen hatten die zarte Rundung, ihre warmen Farben den weichen Schmelz wieder erhalten. Sie konnte mit Fug abermals die schönste Jungfer in Arnstadt heißen. Aber es entging der Muhme, daß ein scharfer Zug um den kleinen Mund sich gelegt hatte, und die sonst leuchtenden rehbraunen Augen mit hartem Blicke um sich schauten. Johanne, welche beschäftigt war, die Lichter anzuzünden, achtete der Schmeichelei nicht. Die Muhme zwinkerte der Frau Henningin zu, die hinter ihrem weitläufigen Spinnrad saß, auf dessen Fuß die Weise mit befestigt war, und einen neuen Wocken anlegte. Dann hub sie wieder an: „Mühmchen, ich verhoffe, daß Du Deine holzböckische Art dem Nicolaus Fischer gegenüber endlich aufgiebst. Seit einem Jahre läuft er schon mit der Leimstange nach Dir. Ich fürchte, ich fürchte, er wird es endlich überdrüssig; denn die angesehensten Bürgersippen reißen sich um ihn.“

Frau Henningin steckte das Ende einer neuen Flachskaude in den Schürzenbund, breitete die gelben feinen Härchen über den Schooß und nörgelte mißmuthig: „Es wird doch nicht die Narrethei mit dem Hermann Zimmermann Ursache Deiner Weigerung sein? Seine Bravheit, sein getreues Herz in Ehren; aber Du wirst doch nicht vergessen, was Du Deiner Sippe und unserem angesehenen Namen schuldest?“

„Lieber gar!“ rief die Muhme, die Hände zusammenschlagend.

„Ei, Hermann ist viel größer als Nikel,“ ließ eine Stimme sich vernehmen, und Bastian kam hinter dem Ofen hervor.

„Und auch viel hübscher,“ ergänzte Christel, die ihm mit Benjaminlein folgte. „Was hat er für große blaue Augen! und was für schöne weiße Zähne!“

„Gott behüte Dich, Kind!“ rief die Schmidtin entsetzt. „Wie kannst Du also unziemlich sprechen? Ich werde es Deiner Schulmeisterin sagen. Sie soll Dich auf Erbsen knieen lassen, bis Du erkennst, daß alle Schönheit Würmerspeise ist. Und Dich, Bastian, muß der Lehrer mit dem Bakel Mores lehren.“

Christel wich erschrocken zurück. Aber Bastian schob trotzig seine kleine stämmige Gestalt vor die Muhme und, das pausbackige Gesicht in finstere Zornesfalten legend, stellte er sie zur Rede: „Ihr habt uns doch so oft erzählt, wie gern die Mutter den Vater gefreit hat. Warum wollt Ihr nun die Hanne dazu zwingen, den Nikel zu ehelichen? Nein, wir wollen auch heirathen, wen wir mögen, und dem Hermann gönnte ich unsere Hanne am liebsten.“

„Benjamin auch! Garstige Muhme!“ stimmte der Kleine bei und führte einen Streich nach ihrer steif gestärkten Schürze.

„Daß Gott erbarm! Ist das eine Rotte Korah!“ rief die Muhme. „Denkt an mich, Frau Henningin! Wenn die in die Höhe kommt, bleibt kein Stein auf dem andern stehen in der Papiermühle.“

Frau Henningin ließ verdrüßlich die Unterlippe hängen, wickelte ihren aufgebreiteten Flachs um den Wockenstab und steckte das veilchenblaue Band darum. Aber Bastian legte unbekümmert beide Arme breit auf den Tisch, stützte den Kopf aus die Hände und sprach: „Die Papiermühle gehört mir und nicht Euch, und wenn ich sie einreißen will, geht es Euch nichts an.“

Johanne führte die hülfreichen Geschwister wieder hinter den Ofen; aber sie gab jeglichem zum Trost ein Schlenkerwürstchen mit auf den Weg. Der Familienrath war damit zu Ende. Denn nun hub die Hausthür ein unaufhaltsames Geklingel an. Eine Jungfer nach der andern erschien, jede mit ihrem Spinnrad. Und die Muhme begann ihres Amtes zu walten wie der Hofmeister des Grafen in der Neidecke.

„Um Vergebung, liebes Mühmchen, wie befindet Ihr Euch?“

„Zu dienen, Frau Muhme, so so.“

„Freut uns sehr zu hören; wollet Platz nehmen.“

„Nein, Frau Muhme, nicht zu oberst, dazu bin ich zu gering.“

„Liebes Mühmchen, wer sollte oben sitzen, wenn nicht die Tochter vom größten Metzger der Stadt?“

„Ei, die Tuchmacher dünken sich noch mehr, der Bärbe Brotkorbin gebührt die Ehre.“

„Ich setze mich zu Hanne,“ sprach Barbara und rückte neben die Tochter des Hauses, die untenan saß und ihr freundlich Platz machte.

Zuerst mußte fleißig gesponnen werden. Die aus braun gebeiztem oder verschiedenfarbigem Holz gedrechselten Spinnräder waren festlich aufgeschmückt mit farbigen, golddurchwirkten Wockenbändern und gleißenden Netzbechern von Kupfer und Messing, die mit den Glöckchen und Ringen an den Spinnrädern um die Wette klirrten, als diese jetzt angedreht wurden. Gesang dazu war unerläßlich. Auch hierin war die Muhme, wie in allen Künsten, die dazu dienten, das Leben unterhaltsam zu machen, wohl erfahren. Wie sie in der Kirche sich allezeit beim Gesang wacker herfürthat mit Schnörkeln und langem Aushalten, so stimmte sie auch jetzt ein Lied an:

„Spinn, Mägdlein, spinn!
So hast du klugen Sinn,
Und triffst du das Rädlein ohne Ruh,
So schenk ich dir schöne Schnallenschuh.“

Die Jungfern antworteten im Chor:

„Schuh hin, Schuh her, stellt ein das Reden,
Ein plumper Platschfuß wächst vom Treten.“

Abermals hub die Muhme an:

„Ehr, Mägdlein, ehr
Die alte Spinnkunst sehr.
Und spinnst du heut deinen Wocken leer,
Ein Häublein von Seiden ich dir bescheer.“

Und wieder sangen die Jungfern:

„Was soll das Häublein? Müßt doch mich verstecken
Mit meiner Hängelippe vom Lecken.“

Eindringlicher noch stellte die Muhme vor:

„Preis, Mägdlein, preis
Der Spinnerinnen Fleiß.
Geschwinde spinne die Spule voll,
Ein Ringlein von Golde dein Lohn sein soll.“

Aber die Jungfern ließen sich nicht erweichen:

„Was Ringlein! Die Hände dürft Keiner doch sehn
Mit dem breiten Daumen vom Fadendrehn.“

Jetzt stieß die Muhme Johannen in die Seite und sang mit einer Stimme, die so mild klang, als sei sie mit Mehl bestreut:

„Spinn, Mägdlein, spinn
Du hast deß wohl Gewinn.
Hei! Hast du die Truhe voll schneeig Lein,
So wird dich der Nikel zu Ostern frein.“

Die Jungfern kicherten, Barbara’s Rad stockte, Johanne aber sang mit heller hoher Stimme:

„Hei! Habt Ihr das Bierfaß angeboten,
So mögt Ihr’s geruhig weiter schroten.“

Die Muhme begann dräuend mit dem Pfauenschweif auf sie los zu nicken, als sie weiter sang:

„Glaub, Mägdlein, glaub
Und sei dem Wort nicht taub:
Wenn du hienieden bist ledig geblieben,
So mußt du im Himmel die Wolken schieben.“

Die Jungfern, die überzeugt waren, daß keiner unter ihnen ein solches lächerliches Schicksal bevorstand, brachen in jubelndes Gelächter aus.

Dann sang Barbara wie ein Mäuslein zirpend:

„Dem Nikel kann Keine widerstehn,
Laßt uns treten und lecken und Faden drehn.“

Nun schnurrten die Rädlein eifrig, und Alle vereinigten sich zum Schlußvers:

„Dank, Mägdlein, dank
Dem Schöpfer, daß du nicht krank,
Auf daß du kannst fein oft und viel
Noch treiben dieses Wockenspiel.“

Da klingelte die Thür wieder. Herr Fischer an der Spitze der Junggesellen erschien:

„Guten Abend mit einander.“

Im Nu waren viele Fäden abgerissen, und im selben Augenblick hatten die jungen Männer den Jungfern die Wocken entwunden. Mit einem Kuß mußten sie dieselben lösen. Lautes Gelächter und Geschrei entstand; ein paar Räder fielen dabei um [810] und zerbrachen. Nikel schaute erpicht nach Johannens Faden; aber diese hatte vorsichtig das Rad angehalten, und der sonnenklare haarfeine Faden ruhte unverletzt in den feinen Fingerspitzen. Dagegen riß Barbara den ihrigen entzwei, da Nikel zwischen sie und Johannen trat. Wollte er nicht unhöflich sein, mußte er den Wocken nehmen. Sie löste ihn mit einem Kuß aus seine rothen Wangen aus.

Er wandte sich dann gereizt zu Johannen: „Die Jungfer Henningin hat für keinen Junggesellen einen Kuß mehr übrig, so viel hat sie ihren Flachs geküßt, geleckt und durch die Finger gezogen.“

„Mißgönnt es dem zermarterten Kräutlein nicht,“ antwortete die Muhme Schmidtin statt ihrer. „Denk, was es leiden muß mit rupfen und raffen, ertränkt werden, darnach auf der Haiden gedörret, von Neuem gedroschen und geschlagen, zerbrochen, umbgeschwungen und durch Stacheln und Spieße der Hecheln geschleift werden. Erst wenn es an dem Galgen des Wockens hänget, wird es mit Küssen herrlich tractiret.“

„Welche Wohlredenheit die Muhme besitzt!“ rühmten Alle.

Diese aber flüsterte hinter der vorgehaltenen Hand Herrn Fischer zu: „Also gehet es auch einem wackeren Freier, der um eine spröde Jungfer wirbt. Erst martert sie ihn; aber wer ausharrt, führt die Braut heim, und dann kommt die Zeit, wo der Mann schnapp! abhaspelt, was er vor der Hochzeit ausgewickelt hat. – Nun aber,“ erhob sie ihre Stimme, „wollet Platz nehmen.“

Die jungen Gesellen drängten sich in bunter Reihe zwischen die Jungfern. Das Schmausen und Trinken begann und damit die Hauptthätigkeit der Muhme.

„Ich bitte die ehrenwerte Kumpanei,“ begann sie zu nöthigen, „daß sie die liebe Gottesgabe nicht verachtet, wenn sie auch nicht zum Besten gerathen ist. Nehmt Euch noch ein Stück von dem gepreßten Schweinskopf, Vetter Rathsbrunnenmeister, kein Mensch kann auf einem Bein stehen. Jungfer Bärbe, tut nicht, als wäret Ihr ein Vöglein und hättet genug an einer Semmel, redet den Magenzipfel dazu an! Laßt Euch unsern Trunk gefallen, Herr Fischer, so gut wir ihn geben können. Freilich ist’s kein Fischer’sches Bier. Thut einen tapfern Zug, wackere Junggesellen! Betrübt es doch den Kurfürsten von Sachsen nicht, das Biergörgelein genannt zu werden, und ein Pfalzgraf soll sich gerühmt haben, seine Zechbrüder allezeit gen Bethlehem abzufertigen.“

Und die Frauen erwiderten: „Die Frau Muhme ist bewandert unter allen Potentaten.“

Und die Männer wehrten: „Wir werden uns eine keine Schwachheit ertrinken, wenn wir so dick und oftmals Gesundheit trinken.“

Dreimal ließen die Gäste sich nöthigen; erst als alle umständlichen Reden erschöpft waren und die Muhme ihre vom Sprechen schmerzende Brust hielt, griffen sie zu. Dann wurden die Tische abgeräumt; nur Nüsse und Bierkrüge blieben darauf stehen.

„Wollet Ihr nicht vor die Langeweile das Flachsorakel befragen?“ schlug die Muhme vor.

Die jungen Leute stimmten jubelnd zu. Jede Jungfer zupfte aus ihrem Wocken ein Bündelchen Flachs, die Junggesellen entliehen von ihren Herzgespielen sich auch eine Handvoll davon. Sie rollten ihn zu keinen Bällen zusammen, legten diese vor sich auf den Tisch und zündeten sie an. Der Flachs loderte auf und flog zur Decke empor. Wer zusammen sich erhob, dessen Ehe war im Himmel beschlossen. Es tönte Geschrei, Jubel, Scheltworte, und aus allem heraus das Klopfen der jungen Herzen.

Für Johanne und Nicolaus hatte die Muhme zwei Flachsbündelchen zusammengedreht und neben einander gesetzt. Vorsorglich zündete sie beide zugleich an. Aber waren sie zu fest gedreht? Sie hockten stöckisch schwälend auf dem Tisch. Da flog Bärbchens Flachshäuschen in einem kleinen feurigen Bogen empor und senke sich auf Fischer’s Bündelchen herab, das nach kurzem Bedenken aufflammte, während Johannens Bündelchen aus dem Tisch verglomm.

Die Muhme sah den Kuppelpelz, den ihr Fischer versprochen hatte, in Rauch aufgehen. Ihr Blut kam in Wallung. „Ich verhoffe,“ sagte sie, „daß dies ungebührliche Vorkommniß kein böses Zeichen sei. Werden hinfüro die Jungfern sich den Junggesellen an den Hals werfen?“

Barbara schaute sie erschreckt an.

Die Muhme kehrte ihr verächtlich den Pfauenschweif zu und reichte dem Fischer den Korb mit Nüssen. „Ich rate Euch, knacket eine Nuß. Je härter die Schale, je süßer der Kern.“

„Gebt uns ein Räthsel dazu auf!“ riefen die jungen Leute.

Und die Muhme sprach: „Was ist das?

Drunten im Grund
Steht ein bunter Hund;
Er ist von edler Art
Und hat einen blauen Bart.“

„Das wird Herr Fischer sein,“ riet Barbara, die sich wieder erholt hatte.

Die anderen Jungfern kreischten, Fischer horchte auf.

„Wie könnt Ihr so in den Tag hinein reden?“ rügte die Schmidtin.

Barbara warf den Kopf empfindlich auf. „Es paßt fürtrefflich auf ihn. Drunten auf dem Rieth wohnt er; sein Rock ist roth und grün, also bunt genug; wer wäre von edlerer Art als er, der größte Brauherr, dessen Vater das Weizenbier erfunden hat? Und einen blauen Bart hat er auch, wenn er von dem Balbierer kommt.“

Es fehlte der Muhme noch, daß Nicolaus geschmeichelt über seine roten, blauschwarz angehauchten Wangen strich.

„Daß Gott erbarm!“ schrie sie. „Seid Ihr eine also fürwitzige Jungfer, daß Ihr nach den Wangen der Männer schaut?“

Fischer legte sich in's Mittel. „Thut gemach,“ sagte er. „Warum sollen die Jungfern nicht nach den Junggesellen gucken? Ist doch Keiner zu verargen, wenn sie Begehren trägt, daß sich ein Gesponse darunter finden möge, und gern erführe, wie er ausschaut.“

„Ich weiß, wie der meinige ausschauen müßte,“ frohlockte Barbara, die merkte, daß das Zünglein der Wage auf ihre Seite sich neigte.

„Nun?“ fragte Nicolaus.

„Er müßte eine Gestalt haben rund und fest wie eine neugebundene Tonne, ein Antlitz, von Gesundheit und Kraft rötlich schimmernd wie eine kupferne Braupfanne, und er müßte alle Zecher unter den Tisch zu trinken vermögen.“

Nicolaus Fischer sah schmunzelnd an seiner Gestalt herunter; schon lange vermochte er nicht mehr seine großen Knieschleifen zu erschauen.

Aber das Zünglein der Muhme Schmidtin neigte sich nicht der Brotkorbin zu; heftig fuhr sie daher: „Sorget, daß Ihr nicht selbst unter dem Tisch lieget, Jungfer Bärbe; denn ich glaube, Euch ist – mit Respect zu vermelden – das Bier in die Krone gestiegen, also daß Ihr ausplaudert, was jegliche Jungfer verschweigen soll, wiewohl es auch darin zu weit gehen kann, indem jedes Ding seine Grenzen hat, auch die Ehrbarkeit und die Sprödigkeit und die Schweigsamkeit, mit der Du, Hanne, es heute so weit getrieben hast, als seiest Du von einem stummen Teufel besessen.“

„Ich schwieg,“ antwortete Johanne, „dieweil ich über Euer Rätsel nachsann. Ich habe es gelöst: es ist der Flachs.“

„Richtig!“ riefen Alle. „Die blaue Blüthe ist der blaue Bart.“

„Wie klug ist das liebe Herzchen!“ rühmte die Schmidtin. „Noch Keine hat das Räthsel gerathen, Herr Fischer. Wie bist Du nur darauf gekommen?“

Aber alle Anschläge der Muhme wurden heut zunichte. Johanne erwiderte: „Als Bärbchen sagte, wie ein Mann beschaffen sein müßte, den eine Jungfer gut leiden mag, ist es mir eingefallen. Denn ich meine, ein solcher muß sein hoch und schlank, wie der Flachs in den guten Jahren gerät, da um Lichtmeß das junge Volk im Sonnenschein tanzen kann; er muß Augen haben blau wie die Blüthe desselbigen und Haare hell und dick wie der Flachs, wenn er am Wocken hängt.“

„Da habt Ihr einen nippenläppischen Geschmack,“ polterte Nicolaus Fischer; „ich halte es für ein Strafgericht Gottes, wenn der menschliche Leib dünne bleibt. Jedem ehrlichen Christen segnet Gott sein Essen und Trinken und läßt ihn stattlich einhergehen, daß er die Augen durch seine Fülle erfreue.“

„Ich weiß, an wen sie denkt,“ rief Barbara. „So sah der Bursch aus, den Ihr damals beim Maienfest so siegreich bestanden habt, Herr Fischer.“

[811] „Siegreich?“ fuhr Johanne auf. „Hermann hat den Fischer in das Gesicht geschlagen, daß es ihm verging, Victoria zu rufen.“

Jetzt riß der Geduldsfaden der Muhme. „Daß Gott erbarm!“ zeterte sie. „Sind das züchtige Jungfern? Das Lerchenei schreit nach einem Zechbruder, die Henningin nach einem Riesen Goliath, und sie kratzen sich derowegen die Augen aus. Habt Ihr nicht gesehen, da die Liese Besser Kirchenbuße that, wie sie vor der Kirchthür lag, und Jegliches über sie hinwegschritt? Also ergehet es unehrbaren Weibspersonen.“

Barbara weinte laut, Johanne fuhr wie eine Flamme empor, und der Rathsbrunnenmeister gebot mit dröhnender Stimme: „Feierabend! Hört Ihr die Bierglocke läuten? Wir müssen uns heim begeben; sonst bringen uns die Scharwächter auf den Schub.“

Die Gäste brachen auf, tummelten sich durch einander, brachten ihren bestgeflissnen Dank dar, und wer mit einander an die Decke geflogen war, faßte sich bei der Hand und zog ab. Die Spinnstube war zu Ende.

Aber die Muhme Schmidtin noch lange nicht. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Man möchte erworgen und zerbersten. Das hat eine gutmüthige Seele, wie ich, für ihre Gefälligkeit.“

Der Rathsbrunnenmeister lachte mit seiner tiefen Stimme: „Danket Gott, wenn Ihr für Eure Gefälligkeit heut Abend nicht den Lästerstein tragen müßt,“ sagte er, indem er davon schritt.

„Den Lästerstein?“ zankte sie hinter ihm her. „Den will ich sehen, der mir ihn umhängt. Ein Schwarmgeist wie Ihr, der an kein rechtschaffnes Gespenst mehr glaubt, gewißlich nicht. Der soll froh sein, wenn er nicht in den Hexenthurm gesetzt wird, wegen gottlosen Unglaubens.“ Klingelnd schloß sie hinter ihm die Hausthür.

[821] Die Muhme Schmidtin trat in die Stube zurück. „Jetzt sind wir unter uns, und es ist am besten, die Sache wird gleich ordentlich ausgefochten. Hanne! was wird die Stadt dazu sagen, daß Du den größten Brauherrn ausschlägst und Dich an den Hermann Zimmermann hängst? Soll Dein Vater im Grabe sich umdrehen? Deine Mutter sich todt grämen?“

Frau Henningin führte den Zipfel ihrer blauen Schürze an die Augen; aber Johanne trat festen Schrittes zu ihr, und mit stahlharter Stimme sprach sie: „Ich werde niemals einen Ehebund zu schließen begehren, zu dem Ihr, liebwerthe Mutter, mir nicht freudig Euren Segen geben mögt. Aber ehenso wenig könnt Ihr mir befehlen, welchem Manne ich Lieb und Treue halten soll. Für mein Recht in dieser Sache habe ich einen Beistand zur Seite, gegen den auch die Muhme nicht wird mucken dürfen: unseren Herrn Doctor Luther. Der hat festgestellt: man soll Niemand zur Ehe zwingen, sondern sie soll Jedermann frei gelassen und seinem Gewissen heimgestellt werden zu verantworten; denn zur Brautliebe kann Niemand gezwungen und gedrungen werden. Das hat mir unser Herr Superintendent selber ausgelegt, da ich ihn nach dem letzten Katechismusexamen befragt habe, was einer christlichen Jungfrau in solch heiklem Handel gezieme. Daran werde ich festhalten, und wenn die ganze Papiermühle sich auf den Kopf stellt.“

Mit den letzten Worten drückte sie der Muhme ein Bündel Kuchen und Wurst in die Hand, und ob auch diese gegen ihre Rede rief: „Ich erachte dieses Alles für kauderwälsche Grillen,“ so schob Johanne sie doch hinaus und schnappte die Thür hinter ihr ab.

Frau Henningin hing den Kopf. Der Superintendent war die allerhöchste Behörde in Gewissenssachen, zu welchen dazumal die Ehe noch gezählt wurde.

Indessen zogen die andern Gäste vergnügt heimwärts. Das getreue Bier saß Allen zu Häupten, daß sie schnell vergaßen, welch stürmisches Ende die Spinnstube genommen hatte. Fischer geleitete die Brotkorbin. Die Bierglocke schallte mahnend vom Rathhausthurm und trieb die Bürger aus den Schenken, auf daß Ordnung und Ehrbarkeit in Kraft bestehen blieben.

„Es geht doch nichts über ein vernünftiges Maßhalten,“ lallte Nicolaus Fischer, wuchtig durch den Schnee stampfend.

„Nein, es geht nichts darüber,“ versicherte Barbara.

„So laßt uns noch ein Maß Bier zusammen halten,“ lachte Nicolaus. „Heda! eine Kanne Weizenbier!“ rief er in den Rathskeller hinein.

Der Trunk wurde gebracht. Er lugte ihn mit schwimmenden Augen zärtlich an. Mit glucksender Stimme sprach er den alten Biersegen:

„Nun grüß dich Gott, du liebes Pir,
Nun gesegne dich Gott, du liebe Weizenprüh!“

Dann tranken sie zusammen den brunnentiefen Krug in wenigen Zügen leer. Noch schwerfälliger ging es fürbaß.

„Wißt Ihr, liebe Jungfer, was noch besser ist als ein Trunk Bier?“ pustete er weitergehend. „Das ist ein wackrer Junggesell, an dem eine Jungfer eine rechte Stütze und einen Stab hat. Solches muß Euch heut klärlich in die Augen leuchten.“ Er stolperte dabei über die Stufen der steinernen Gallerie am Markt.

[822] Sie hielt ihn aufrecht. „Ja, Herr Fischer. Das ist ein standhafter Mann, der eine schwache Jungfer wohl zu leiten versteht.“ Sie lenkte seine Schritte dabei abwärts vom Rieth dem Hopfenbrunnen zu, wo ihre Eltern wohnten.

Im mondbeschienenen Giebelfelde des Rathhauses stand in Stein gehauen die Urmutter des Menschengeschlechtes, Frau Eva, mit ihrem Adam und schaute wohlgefällig herunter. Sie konnte sich freuen; heut noch wie vor sechstausend Jahren machten die Weiblein die Männer link und recht. Unter dem Läuten der Bierglocke gab Nicolaus der Barbara den Verlobungskuß. Dann führte die junge Braut ihren Bräutigam in das elterliche Haus, trommelte Vater und Mutter aus den hohen Betten, um ihnen die eben gethane Werbung des größten Brauherrn anzuzeigen, und dann wurde mit einem letzten Trunk der Bund besiegelt. Nikel hatte sich einen Rausch und eine Braut zugleich angehäugt, wie das vordem und nachdem manchmal im heiligen römischen Reich deutscher Nation geschehen sein soll.

Nun waltete Stille in Arnstadt. Auch die Bierglocke schwieg. Der Mond schaute in die schneebedeckten Straßen. Die spitzgiebeligen Häuser lagen wie ausgestorben, einzig bewacht von den alten Hütern, die in bunten Farben gemalt über den rundbogigen Hausthüren prangten.

Da ging die Muhme Schmidtin nach Haus. Jetzt kam sie auf den Markt. Das Rathhaus mit seinen zwei reich verzierten Giebeln, über denen sich die Thürme erheben, lag vor ihr, taghell von dem Vollmond beleuchtet. Scheu streifte ihr Blick hinüber. Da neben dem Halseisen dräute der Lästerstein, mit dem man sie allezeit zum Schweigen bringen wollte. Es war ein gräulicher Steinkopf mit herausgestreckter Zunge und der Inschrift:

„Zum Lästerstein bin ich genannt,
Den bösen Zungen wohl bekannt.
Wer Lust zu Zank und Hader hat,
Der muß mich tragen durch die Stadt.“

In mitternächtiger Stunde nehmen die Dinge eine andere Gestalt an in den Augen der Menschen. Die Muhme machte einen weiten Bogen um das gräuliche Bildniß, dem sie eben noch mit ihrer Zunge Trotz geboten hatte. Aber sie mußte doch hinüber blicken. Da war es ihr, als wanke der Lästerstein leise. Vielleicht machten das Bier und der Mond zusammen eine Conspiration gegen die Muhme. Ihr grauste. Wankte nicht auch das Richtschwert an seinem Haken, wenn ein in Zukunft ihm Verfallender davor trat? Sollte es ein Vorzeichen sein? Sie beeilte ihre Schritte. Es war ihr, als werde für und für ein Eimer Wasser über ihren Rücken hinab gegossen. Sie ging immer schneller – endlich lief sie. Sie rannte in’s Kranichhaus am Sperlingsberg und schlug die Thür der harrenden Magd fast vor die Nase. Hinauf ging’s in die Stube. Kaum hatte sie die Kleider vom Leibe gebracht, so stürzte sie in’s Bett und zog die dick aufgeblähte Bettdecke über den Kopf. Denn seit unvordenklichen Zeiten wird aus unerforschlichen Gründen das Deckbett als beste Schutzwehr gegen Gespenster erachtet.




Dieweil die Stadt höchlich sich verwunderte, daß der Nicolaus Fischer, als welcher für den fürnehmsten Hahn im Korbe galt, das Lerchenei freite, die Gefreunde im Brotkorb’schen Hause wie in einem Taubenschlage ein- und ausflogen und der Braut Glück anwünschen thäten, ging das Leben in der Papiermühle seinen stillen Gang. Zacharias vertröstete noch immer mit seiner Rückkehr auf spätere Zeit. Nun sollten erst die Löcher und Fahrgeleise der Landstraße von den Frühlingsregengüssen wieder austrocknen, auf daß er nicht auf selbiger den Hals bräche.

Johanne behielt nach wie vor die ganze Sorge um den Betrieb der Papiermühle auf dem Halse. Mit dem ersten Ruf des Morgenglöckchens war sie schon munter und paßte den Mühlknechten auf den Dienst. Am späten Abend, wenn Niemand mehr wachte als das Käuzlein auf dem Glockenthurm, stand sie noch in der Wohnstube und schabte aus fertigen Papierbogen mit einem feinen Messer die kleinen Fasern und Flecken. Das war die Stunde, wo sie Zeit fand aufzuschluchzen. Mutter und Geschwister schliefen. Dann mußte sie denken, welch frohes Arbeiten es gewesen war, da Hermann ihr noch zur Seite stand, und sie verhehlte sich nicht, daß sie so übel ohne ihn fuhr, wie er dereinst ohne sie gefahren war. In die rastlose Arbeit, in die Sorge um das nächste Tagewerk traf ein Brief von Zacharias. Er lautete:

„Frankfurt, im Wonnemonat des Jahres 1651.

Vielwerthe Frau Mutter, liebe Brüder und Schwestern.

Mit Freuden ergreife ich die Feder, um Euch zu vermelden, wie viel Glück und Ehre Ihr an Eurem Sohn und Bruder erlebt. Der gütige Gott hat es also wohl gefügt, daß mir die großehrenreiche Jungfer Marzibilla Emmel aus der Buchdruckerei, dahin mein Herr das Papier liefert, ihre Gunstbewogenheit geschenkt hat, und ich verhoffen darf, sie als mein Ehegemahl seiner Zeit heimzuführen in unsere Papiermühle. Obbemeldete Jungfer ist aus der Sippe des großmächtigen Herrn Egenolf Emmel, der eine Zeitung druckt und verlegt, welche jegliche Woche einmal pünktlich an demselben Tage die Menschheit in den Welthändeln unterweist. Die ganze Sippschaft steht groß da, und wird das kleine Arnstadt wohl die Augen aufsperren, wenn meine erkieste Gesponsin in ihrem plümerantnen Kleid alldorten ihren Einzug hält. Es würde mich ein Wunder dünken, so ihre Aussteuer Raum fände in unsrer Mühle. Item meine hochgeliebte Jungfer Braut hat das Ihrige. Solches könnt Ihr der guten Stadt Arnstadt derweilen unter die Nase reiben.

Derohalben thu ich Euch zu wissen, daß Ihr sofort Werkleute zu bestellen habt, um gebührenden Platz für uns zu schaffen. Die Frau Mutter muß in die Wasserstube übersiedeln, und für die jüngeren Geschwister sollen die Bodenkammern ausgebaut werden, davon in verwichnen Jahren Hermann die eine bewohnte. Hanne wird bis dahin unter die Haube sein, und ich gedenke ihr Erbtheil sofort auszuzahlen, auf daß Niemand sich unterfangen darf, fürder in mein Werk hineinzureden. Sorget, daß nach meinem Wort verfahren wird.

Denn gen Arnstadt zu ziehen vermag ich anjetzo noch nicht. Möchten sonst leicht neidische Gefreunde mir Pflöcklein stecken bei der großgeachten Jungfer Marzibilla, also, daß statt eines christlichen Ehestandes ein großer Unrath angestiftet würde. Ich gedenke auch noch firmer in meiner Kunst zu werden, habe diesen kostbaren Bogen nur derohalb spendiret, damit Ihr aus demselben ersehet, wie weit dahinten Ihr mit Eurem armseligen Machwerk geblieben seid.

Die Gnade Gottes, die mich sichtbarlich auf ebnem Pfade geführt hat, walte auch ferner über mir. Dieses wünscht

Euer lieber Sohn und Bruder Zacharias.“

Johanne sah die Mutter an, was sie zu dieser Epistel sagen würde.

Aber die gehörte zu denjenigen Frauen, welche an den Befehlen eines Mannes nie zu rütteln wagen, dieweil sie fest überzeugt sind, die Herren der Schöpfung seien mit besonderer Weisheit begabt worden. Sie vergaß in mütterlicher Opferwilligkeit ihre Verweisung in die ewig vom Mühlwerk schlitternde Wasserstube; sie sah ein: die Jugend braucht Platz, das Alter muß sich zurückziehen. Wie bald – und die anderen Kinder waren auch flügge und verließen das Nest, in dem sie dann reichlich Raum fand für ihren Lebensabend. Sie freute sich schon jetzt darauf, wie sie alsdann an dem wohlhabenden Haushalt sich erheben und erlaben wollte.

Johanne sah ein, daß die Zeit nahe beihanden war, da sie das fünfte Rad am Wagen wurde. Das war nun die fürnehme Familie, der sie ihre junge Kraft, ihr Glück geopfert hatte! Es dachte Niemand an sie, Niemand sagte ihr Dank. Und wieder mußte sie an ihn denken, von dem sie auch jedes Opfer angenommen und mit Undank gelohnt hatte. Mit dem Maße, mit dem sie gemessen, wurde ihr gemessen. Und dennoch! So bitter die Erkenntniß war, athmete sie doch auf. Sie sah die Zeit vor sich, da das schwere Joch der Pflicht, die sie ohne Freude that, von ihr genommen wurde, wo sie, wenn auch nicht zum Glück, doch zur Ruhe kommen durfte. Vor der Einsamkeit graute ihr nicht; seit Hermann für immer gegangen, blieb sie am liebsten allein.

Während die Mutter freudig der treuen Trine die frohe Botschaft mittheilte, die Geschwister auf die hopsende Wasserstube sich freuten, wie Kinder auf jegliche Veränderung, stahl sie sich davon. So gern, wie sie sonst nach den Linden des Maienfestes gegangen war, so gern wandelte sie heuer nach den Linden des Gottesackers, denn ihr Humor war gar melancholisch geworden. [823] Aechzend rollte das schwarze Thor auf. In langen Reihen lagen die Gräber vor ihr wie hingemähte Schwaden. Die Zweige der darauf gepflanzten Linden und Rosenstöcke schwankten in der milden Abendluft, daß blasse Schatten unter ihnen zu tanzen schienen. Hier und da ragte ein verwittertes Kreuz auf; seine goldene trostreiche Inschrift: „Wiedersehen“ hatte das Wetter halb verwischt. Prunkende Steinmonumente, welche die Würden und Thaten der darunter Ruhenden verkündigten, waren eingesunken, die Namen von bunten Flechten überzogen, und über namenlosen Gräbern wiegten sich zarte Maienglöcklein.

An dem Grabbaus ihrer Sippe ging sie langsam vorüber. Durch das schmiedeeiserne Thürgitter leuchtete das große Epitaphium mit seinen weißen Engeln, die goldene Posaunen trugen, des Rufes gewärtig, um zur Auferstehung zu blasen. Großvater und Vater konnten hier nicht ihre Urständ halten. Die lagen allein, abgeschieden durch eine starke Schutzwehr von Eichenbohlen in der Pestilenzecke. Niemand durfte die Hand an die Gräber legen, Niemand sie schmücken. Dennoch sproßten auf den einsamen Hügeln Gräser und Kräuter. Ihre Samenkörner waren im verloschenen Herbst auf kleinen Segeln und Fallschirmen über das für immer geschlossene Gitter geflogen und hatten die ihnen von der Natur zugetheilte Arbeit begonnen, aus der Verwesung Blüthen zu zaubern, den Moder in balsamische Düfte zu wandeln, den Tod in Leben zu verkehren.

Das hatte ein Jahr gethan. Was vermochten zehn, was hundert Jahre zu vollbringen? Was war alsdann von alledem noch da, das jetzt um sie lebte und webte? Von den Blumen, dem kleinen wimmelnden Gethier zu ihren Füßen, den singenden Vöglein in den Bäumen? Alles still, stumm, verstäubt. Wie lange noch – dann stand auch ihr Sarg unter den Wacht haltenden Engeln; ihr Herz hatte ausgeschlagen und sehnte sich nicht mehr hinweg über die Schranken des fürnehmen Standes, die so stark waren wie das Bollwerk an der Pestilenzecke.

Dann kam vielleicht einmal ein armer Wanderer nach Arnstadt und fragte: „In welchem großen Kaufhaus wohnt die, so man sonst die schöne Hanne benamsete?“ Und wenn die Leute antworteten: „Draußen in dem Erbbegräbniß der Hennings hat sie ein Plätzlein funden; denn sie ist als alte Jungfer gestorben,“ dann erhielt er das Beweisthum ihrer wahren Liebe, die ihm bis in den Tod treu geblieben war. Dann stand er wohl dort und schaute durch das vergoldete Gitter auf ihre Ruhestatt. Wie ein Hauch von Frieden zog es durch ihre Seele und sie sagte sich: „Ueber jeglichem Häuflein Unglück wölbt sich einmal die Erde, und dann blüht auch noch eine schöne Blume heraus; da aus dem Pestgrabe das goldgelbe Pfaffenröhrlein, das jetzo mit dem Sinken des Tagesgestirns die Sonnenaugen schließt, wie drunten die stillen Schläfer gethan, drüben aus dem Grabhaus dereinst – geliebt’s Gott – das Blümlein Vergißmeinnicht für den armen Hiob.“

Sie ging, ruhig geworden, heim. Als sie an den Hopfenmarkt kam, saß ein Kreis fröhlicher Menschen in Brotkorbs Hausthür. Wohlthuende Kühlung wehte von dem großen Brunnen her, über dessen stockwerktiefem Steinbecken das Standbild des streitbaren Grafen Günther von Schwarzburg mit goldig gleißendem Wappenschild sich erhob. Das Wasser sprudelte in starken Strahlen hervor, zur Zufriedenheit des Rathsbrunnenmeisters, der neue sichtene Wasserröhren für die Leitung gelegt hatte und sein Werk von der gastlichen Thürbank aus beaugenscheinigte.

Auch die sommersprossige Barbara sah anmuthiger aus denn sonst. Die frohe Geschäftigkeit und die feierlichen Vorbereitungen, die um eine Jungfrau walten, welche sich einem Manne verlobt hat, verbreiteten auch um das Lerchenei ihren Schimmer und verliehen ihm Gewicht. Sie ging Johanne entgegen und lud sie in den Kreis. Eben war der Kirchenanzug angelangt, den jede junge Bürgersfrau als Ausstattungsstück bekam: der schwarze Tuchrock, die Schuhe von sämischem Leder mit Silberschnallen, der dunkelblau Tuchmantel, dessen dreizackigen Kragen eine echte Goldborte einfaßte, und die ganz güldene Haube, welche Brabanter Kanten und ein Büschel weißseidener Bänder zierten. Auch das Gesangbuch fehlte nicht; mit silbernen Spangen war es verschlossen. Und Herr Fischer prodirte schäkernd, ob der Ehering paßte, in den er einen kostbaren Krötenstein hatte setzen lassen.

Zu Johannens Verwunderung hatte die Muhme Schmidtin auch hier den Ehrenplatz, einen sägebockförmigen Lehnstuhl, erobert und führte das große Wort.

„Setzet das christliche Ehren- und Freudenwerk auf Johanni fest. Da ist zunehmender Mond, es regiert weder Wassermann, der Thränen bedeutet, noch Widder, welcher um seiner Hörner willen gänzlich verpönt ist.“

„Frau Muhme,“ rügte der Rathsbrunnenmeister, „solche Ansichten sind nur ein sternguckerischer Aberglaube. Die Ehen fallen so aus, wie sie von den Menschen geführt werden.“

„Herr Vetter, Ihr seid ein Schwarmgeist und habt derohalb nicht mit zu reden,“ führte sie ihn ab. „Dann können Deine Gespielinnen, Bärbchen, auch die schönsten Rosenkränze flechten. Wie wird Euer volles Gesicht strahlen unter dem Kränzlein, Herr Fischer, gleich einem Vollmond! Ihr, Muhme Brotkorbin, nehmet beileibe keine Weizenbierhefe in den Hochzeitskuchen; die ist allezeit bitter, und dieweil der Hochzeitskuchen ein treues Fürbild wird vom zukünftigen Ehestand, so muß man sorglich Alles vorher bedenken.“

Barbara machte ein wichtiges Gesicht. „Wir werden uns gewißlich mit unserer Hochzeit einen guten Leumund machen, sintemalen wir etwas Erkleckliches darauf gehen lassen. Die Stadtpfeifer sollen uns zur Trauung blasen. Mein Vater richtet einen Schmaus aus, zu dem zwei Ochsen und sechs Schweine gemästet werden. Zwölf Frankenhammel kommen nächste Woche über den Wald. Ein Stückfaß Würzburger Wein liegt schon im Keller.“

„Das wird eine Hochzeit!“ rief die Muhme begeistert. „Da kann gewiß die Stadt auf keinem Beine mehr stehen.“

Alle blickten Johannen spöttisch von der Seite an, als wäre ihr ein Streich gespielt worden, nicht als habe sie einen Korb ausgetheilt. Sie ging heim. Sie gönnte Bärbchen ihr Glück und den Bräutigam mit dem rosenumkränzten Vollmondshaupt. Neid war ihr gänzlich fern geblieben. Dazu hatte ihr Hermann den Katechismus zu pünktlich eingeprägt. Aber sie bewegte den finsteren Gedanken hinter ihrer gesenkten Stirn: warum bescheert Gott dem Nikel und der Bärbe, dem Zacharias und der Marzibilla, was sie sich wünschen, die Gesponsen, die ihnen behagen, ja sogar den goldbortirten Mantel und das plümerantene Kleid, und sie stehen doch an getreulicher Pflichterfüllung und spröder Ehrbarkeit tief unter mir? Und mir thut er den Weg zum Glück nimmer auf. Und über dem Brüten ging ihr der Friede wieder verloren, den sie aus der Gewißheit geschöpft hatte, daß in hundert Jahren Alles überstanden sein würde. Denn diese waren noch lange nicht um. Sie mußten Minute für Minute durchlebt werden, und ihr Gefährte auf diesem öden Weg war der Liebeskummer, welcher sich durch kein Sinniren und Speculiren hinweg disputiren läßt.




Aber ob Johanne auch vermeinte, die traurigen Tage trügen Blei an den Füßen, wie sonst die fröhlichen Flüglein an den Schultern, sie gingen doch dahin, und der milde Herbstmond war da, ehvor sie sich dessen versah. Die Blätter, die im Lenz frisch grün herfür gesproßt waren, färbten sich falb, die Blüthen reiften zu Früchten.

Die Arnstädter schafften rüstig, daß sie die Ernte unter Dach und Fach brachten. In den Hopfengärten ertönten Zinken und Fiedeln, dieweil das würzige Kraut von den Stangen gestreift wurde, von den Feldern schallten Schnitterlieder zu dem Klang von Sense und Sichel.

Auch die Henning’sche Sippe heimste ihr Obst im Baumgarten ein. Bastian saß auf dem thurmhohen Grafgüntherbirnbaum und schüttelte, während Trine die herunterprasselnden goldgelben Birnen in ihre Schürze sammelte; von dem Pfersingbaum brach Christel die mit röthlichen flaumigen Bäckchen angehauchten Früchte. Und Benjaminlein las die braunen Maulbeeren auf, indem er das Sprüchlein sagte, das Hannchen ihm als Lehre gegeben hatte: „Die guten in’s Töpfchen, die schlechten in’s Kröpfchen;“ manchmal gerieth es dem kleinen Schelm auch umgekehrt. Frau Henningin aber schichtete in luftiger Kammer ihren Erntesegen auf.

Johanne hatte Niemand zur Hand, der den Abendtrunk holen konnte. Da nahm sie selbst die hölzerne Schleifkanne und ging nach dem Bier. Bei Nicolaus Fischer war es ausgethan. Um den großen Brunnen, der mitten auf dem Riethplatz rauschte, lagerten Fässer, die gespült wurden; im weiten Hof des Christophel-Hauses ertönte das Klopfen des Böttchers, hantirten die Bierschröter mit den Pechpfannen um riesige Tonnen. Die lange [824] Reihe der Bierheischenden, an die Johanne antreten mußte, stand bis auf das Rieth heraus. Nur langsam ging es fürbaß, durch die rundbogige Pforte, über den weiten Hausflur. Die Kellerthür hatte zwei Flügel wie der Eingang zu einem Staatsgemach, die Treppe Stufen, so breit wie an einer Kirchentreppe, der Keller ein hochgeschwungenes Kreuzgewölbe. Eine kupferne Hängelampe schwebte von der Decke und erleuchtete die lange Reihe der mächtigen Biertonnen, bis ihr Schein in der Ferne verdämmerte. Der Duft des Bieres, welches so stark war, daß es gar manchmal die Fässer zersprengte und mit seinem Dampf die Bierschröter zu ersticken drohte, war an sich schon vermögend, ein Räuschlein zu erzeugen.

Vor dem angestochenen Faß saß die vereidigte Bierzapferin, eine dicke Frau mit einem großen Kropfe, welchen sie sich bei dem rühmlichen Streben, ihr wichtiges Amt würdig für Augen zu stellen, erworben hatte. Sie maß das Weizenbier zu, das, eingegossen, mit weißer Schaumkrone aufperlte, und von dem jeder Tropfen schwer wie Honig herabrann. Und die Wartenden entlang flogen die Klatschereien der Stadt; die Bierreihe vertrat die Stelle eines Wochenblättchens, dessen Arnstadt sich noch nicht erfreute.

„Seht, die junge Frau Fischerin!“ kicherten die Mädchen, als Barbara mit ihrer Bierkanne die Treppe nach dem Wohngelaß hinaufging. „Welch einen dickgeschwollenen Backen sie hat! Da ist auch der Küßmond schnell vorüber geschwunden. Ja, der Herr Fischer darf sich eines gar beweglichen Handgelenks rühmen. Hat auch gesagt, er könne sich auf den Doctor Luther berufen, welcher jeglichem Weibe, das dem Mann über den Mund fährt, ein Maulschellium zudictiret habe.“

Ein Geschrei schallte aus dem Bierkeller herauf. „Horcht!“ ging es durch die Reihe: „das ist die Schmidtin aus dem Kranich.“

„Ich habe es gesehen,“ zeterte drunten die Schmidtin. „Ihr habt das Maß schief gehalten. Denket an die spukhafte Bierzapferin, als welche im Hopfengrunde umgehen muß, dieweil sie Wasser unter die Stadtbiere gemischt und die Leute bezwackt hat ihr Lebtage.“

Die dicke Bierzapferin erhob sich, stemmte beide Hände in die Seiten und erwiderte: „Denket Ihr lieber an den Klapperstein und hütet Euch, daß Ihr nicht nach Eurem Hinscheiden mit selbigem umgehen müßt, der Euch von Rechtswegen schon hienieden gebührte, Ihr friedhässiges Weib, Ihr!“

Den Lästerstein vermochte die Schmidtin seit jener denkwürdigen Nacht nicht mehr zu bestehen; sie bekam einen Stickfluß und eilte in’s Freie. Triumphirend kehrte die Bierzapferin auf ihren Holzschemel zurück. Als sie Johannen ein Stübchen Bier in die ausgepichte Holzkanne gemessen hatte, hing sie noch das Bemerken an: „Ihr müßt Euch doch recht über das Glück freuen, das der Zimmermann macht.“

„Was für ein Glück?“ fragte Johanne mit weit geöffneten Augen.

„Herr Fischer brachte es mit von Erfurt,“ erzählte die Zapferin. „Er hat Weizenbier dahin geliefert in die fürnehmste Herberge, zur ,Hohen Lilie’ benamset. Ja, der Hermann Zimmermann freit um seine Meisterin, welche die Glockengießerei von ihrem Manne ererbt hat. Es gilt Niemand alldorten etwas als er. – Wollet dem nächsten Weibe Platz machen. Guten Abend, Jungfer Hanne.“

Johanne war herauf gestiegen, heimwärts gegangen, hatte den Begegnenden Guten Abend geboten, daheim die Bierkanne in die Küche gesetzt und war dann in ihr Giebelstüblein gekommen, ohne daß sie von alledem etwas wußte, außer, daß sie die Füße wunderbar schleppen mußte. Sie sank auf die Truhe, die, mit einem Polster belegt, ihre Bank bildete, und verlor die Besinnung.

Am andern Morgen ging durch die Stadt die Rede: „die schöne Hanne ist sterbenskrank.“ Die Einen sagten: „sie ist in dem kalten Bierkeller verschlagen;“ die Andern: „sie grämt sich, daß der Fischer sie nicht gefreit hat;“ die Dritten: „in die Papiermühle ist ein Grabstein vom Liebfrauenkirchhof eingemauert worden, das zieht den Tod hinein.“ Die ganze Stadt kam in Aufruhr, denn die schöne Hanne war noch niemals in ihrem Leben krank gewesen, nicht einmal die Pest hatte ihr etwas anhaben können.

Am verwirrtesten ging es in der Papiermühle zu. Niemand konnte ergründen, woher der Anfall kam. Johanne lag fieberglühend in ihrer Giebelstube; aber sie biß die Zähne zusammen, daß sie nicht zu sprechen vermochte. Selbst über die Phantasiebilder des Fiebers triumphirte ihr starker Wille. Die Muhme Schmidtin wurde zur Frau Henningin gerufen und um Rath angefleht.

„Laßt nur den Medicus nicht über die Schwelle,“ warnte sie. „Der ist mit seinem Rohrstock und hohem Störcherhut viel zu fürnehm für uns, und seine Experimente sind zu gelahrt für Bürgersleute: daran mögen die Potentaten sich erlaben. Da der Nachbar Schlotfeger im hochgräflichen Rauchfang sich verbrannte, sprach er: ,Das seind Höllenflammen,’ und schnitt ihm alle zehn Finger ab; und als der Stadtwachtmeister von einem schwedischen Reiterbuben gestochen worden war, hat er die Wunde mit einem Meißel aus Enzianwurzel erweitert, auf daß die Heilung sich nicht überstürzte – Wir wollen sie schon selber wieder auf die Beine bringen. Du, Christel, geh zum Spittelvater und bitte, daß er das Fieber versagt.“

Christel enteilte. Aber es war schwer zu dem wichtigen Manne zu gelangen. Er stand in der Küche, wo am gemeinsamen Feuer viele kleine Töpfchen brodelten. Die Spittelweiber umringten ihn; nur seine hohe weiße Zipfelmütze ragte über sie hinweg, und er schlichtete den alltäglichen Streit, indem er sprach:

„Frau Leineweberin, unterfanget Euch nicht wieder, heimlich in das Töpfchen der Frau Muldenhauerin zu gucken, um zu sehen, was sie koche, dieweil selbiger sonst ihre Klöße vergället werden; und Ihr, ehrbare Jungfern, schämet Euch, daß Ihr sogar gerochen habet, wie die Wildemannswirthin Erbsen mit Speck kochet. Wer sich noch einmal unterstehet, einen Topfdeckel zu lupfen, den werde ich öffentlich einen Topfgucker benamsen.“ – Dann wandte er sich Christeln zu. „Nun, mein Kind, was hast Du fürzubringen?“

„Die Hanne liegt im Fieber,“ klagte Christel, „und sieht glühroth aus.“

Da nickte er gewichtig und antwortete: „Das Fieber wollen wir schon bestehen.“ Er wehrte der Weiberschaar, ihm zu folgen, ging in den Hof zu dem alten Hollunderbaum, der bis an das Dach hinauf reichte, faßte einen Zweig und sprach:

„Holdersaft, ich heb’ dich auf,
Fieber, setz’ dich d’rauf.“

Hierauf winkte er Christeln zu: „Gehe getrost heim; es ist geholfen.“

Dem ganzen Spittel schauderte vor Ehrfurcht bei seinem Gebahren. Sie waren strenge Lutheraner, welche katholische Bräuche als Abgötterei verdammten, und übten doch sonder Scheu uralten Heidendienst. Sie wußten nicht, daß die geheimnißvollen Kräfte des Holderbaumes längst gestürzten Göttern entstammten; aber sie erwiesen ihnen Vertrauen wie ihre Vorfahren vor einem Jahrtausend. Die alten Götter sind freilich aus dem germanischen Volksgeiste herausgewachsen, und wurzelechte Rosen dauern länger aus als aufgepfropfte, und seien diese auch viel edler als jene.

Derweilen kochte die Muhme einen Sud aus Chamillenblumen, verstopfte die Fenster, packte Betten über Betten auf die Kranke und heizte ein. Aber da sie einmal nach einer eingenommenen Stärkung, welche die Frau Henningin auftragen ließ, an den Schauplatz ihrer Thätigkeit zurückkehrte, lag der Berg von Betten vor der Thür, stand der Chamillensud daneben, floß ein Wasserstrom zischend aus dem Ofen. Die Thür war verschlossen und that sich nicht wieder auf. Christel sah von unten, daß die Fenster weit aufgeschoben waren. Da ging endlich die ganze Sippe schlafen und baute auf den Spittelvater und seinen Holderbaum.

Derweilen warf Johanne sich unruhig auf ihrem Lager hin und her. War es nur möglich, daß Hermann sein Herz an eine Andere gehangen, sie vergessen hatte? Und sie war doch allezeit seiner eingedenk gewesen, hatte von keinem anderen Freier hören wollen und mit der Treue sich getröstet, da die Liebe ihnen nicht zugetheilet werden konnte. Auch dieser schwache Trost, diese wehmüthige Labung sollte ihr nun entzogen werden. Wie hätte sie noch an ihn gedenken mögen, da sie wußte, seine Gedanken begegneten den ihren nicht mehr auf selbem Wege – die weilten alle bei der reichen Wittib. Jetzo wußte sie, was Neid war. Mochte sie noch so fest im Katechismus sein, es half nichts.

Dazwischen sang der Nachtwächter die Stunden ab. Für jedes Leid hatte er einen Trost: für Armuth, Krankheit, Tod; [825] nur für das Liebesleid, das an ihrem Herzen fraß, nicht. O, welch ein unvollkommenes Werk war das Gesangbuch, aus dem er schöpfte! Sie zersann sich den Kopf, wie die Gießerin beschaffen sein möchte. War dieselbige schöner als sie, die man doch die schöne Hanne nannte? Klüger? Sie galt für die klügste Jungfer der Stadt. Fürnehmer? Die Papiermühle war ein stolzes Haus, das nur für gelahrte Leute schaffte, und konnte es wohl mit der Glockengießerei aufnehmen. Aber was hatten dem Hermann alle ihre fürtrefflichen Gaben geholfen? Sie war geizig damit verfahren, hatte sie alle für sich allein behalten und ihn hoffärtig zurückgewiesen, dieweil er ein armer Hiob war. Die Gießerin hingegen theilte ihr Hab und Gut mit ihm. Wie [826] ein Stich traf sie die Erkenntniß: die Wittib hat ein tapferes Herz, und ihre Gedanken nehmen einen hohen Flug, daß arm und reich, fürnehm und gering vor ihr gleich sind, wie vor dem lieben Gott. Das war der Augenblick, den der alte Großvater vorausgesagt hatte, da sich erwies, daß ihre Kraft endlich, das Leid aber unendlich war.

Am andern Morgen stieg sie wie sonst aus ihrer Giebelstube herab. Sie wollte nichts hören von sorglichen Fragen und Warnungen und ging an ihre Arbeit. Aber es war ein ernstes, stilles Mädchen, das vom Krankenlager sich erhoben hatte.




So kam der Winter heran und deckte zum zweiten Mal sein weißes Leichlaken über das gemeinsame Grab, in dem die großen Bürger aus der Papiermühle ruhten. In ihrem hinterlassenen Heim aber regte sich wieder neues Leben. Mit dem Frühjahr sollte der Umbau begonnen werden. Derweilen räumte Frau Henningin die Bodenkammern aus und kramte und sichtete in Schränken und Truhen, die ihren alten Platz verlassen sollten.

„Ach Gott! Der Hausrock meines seligen Ehewirthes!“ schluchzte sie, das Gewand hervorziehend. Dann breitete sie das brokatene Taufzeug aus, das alle ihre Kinder bei der heiligen Handlung geschmückt hatte. „Ob es wohl auch meine Enkelchen noch tragen werden?“ und sie wischte die Thränen wieder ab. „Am Ende befindet es die Jungfer Marzibilla nicht alamode. – Was hängt da für ein grauer Haderlumpen? Wie kommt der daher? Hanne, wirf das alte Wämslein in die Lumpenkammer.“

Johanne nahm es über den Arm. Da erkannte sie es. Es war das ärmliche Kleid, in dem Hermann in die Mühle gekommen war. Seine Mutter mochte selbst das Garn dazu gesponnen haben, und auf der Brust hatte sie es mit einem blauen Läppchen geflickt. Unter diesem Lumpen hatte das Herz geschlagen, das ihr einst unverbrüchlich treu anhing, und das nun auf immer sich von ihr gewandt hatte. Mit zitternden Fingern zog sie den Faden heraus und barg das blaue Stückchen Zeug in dem verborgenen Fache ihres Nähkastens, darin schon eine blonde Haarlocke sich befand. Sie hatte, dieselbe einmal vom Boden aufgelesen, da die Mutter Hermann die Haare stutzte, weil ihr die goldig glänzenden Ringel gefielen. Es war ihr den ganzen Tag, als ginge ein Schmerz von den Fingerspitzen aus, die das Flickläppchen berührt hatten, und zöge zum Herzen und krampfe das zusammen.

Am Abend saß sie noch spät mit Trinen an der großen Küchentafel, und Beide lasen Linsen für den andern Tag. Es war ein traulicher Ort. Auf dem Herde, den der weite Schornstein überdachte, loderte ein helles Feuer und beleuchtete das gebräunte Fachwerk, welches die Wände überzog. In seinem Scheine glänzten rothe kupferne Kessel, goldig schimmerndes Messinggeräth und silbern gleißende zinnerne Schüsseln und Becher. Von dem rußigen Kreuzgewölbe der Decke schwebten Schinken und Speckseiten, und über dem mächtigen Hackklotze mit dem blank geschliffenen Beile hing der Salzbehälter, himmelblau bemalt und mit dem Spruche geziert: Habt Salz bei euch und habt Frieden unter einander. Aber an den beiden Frauen war kein Behagen zu verspüren. Johanne sah düster auf die unter ihren Fingern hinrollenden Körner, und kein Laut kam über ihre Lippen, als von Zeit zu Zeit ein tiefer Seufzer. Trine lugte sie von der Seite an und schüttelte dann das Haupt.

Endlich vermochte die treue Magd nicht länger zu schweigen. „Du bist krank, Jungfer Hannchen, Du hast Herzspann. Nein, laß mich reden. Das Weh hab’ ich gekannt, da Du noch im Wickelkissen lagst. Und da die Linsen gelesen sind, will ich Dir sagen, wie man dazu und davon kommt.“

Sie lehnte sich mit dem Rücken an den warmen Herd und erzählte geruhig, als sei es eine Historie aus alten Zeiten, die sie nichts anging:

„Wir waren Nachbarskinder drunten in Rudisleben und wollten uns heirathen. Er war gut, aber ein Sausewind, der lieber das Pferd des Schulzen in die Gera zur Schwemme ritt, als mit einer mageren Kuh sein Aeckerlein pflügte. Unsere Hochzeit stand nahe bevor. Da kam das Pappenheim’sche Volk vor Arnstadt, und dieweil die reichen Bürger sich loskauften, sengte und mordete es bei uns. Drei Tage hielten wir uns versteckt im Feldhölzchen. Wir hatten nichts zu essen, und des Morgens lag der Reif auf uns; denn es war zu Ende des Weinmondes. In der dritten Nacht sahen wir auf dem Thüringer Walde überall Feuer und im Dorfe war ein Blasen und Trappeln. Da der Tag graute, brach das Kriegsvolk auf; fort ging’s was hast du, was giebst du, nach Erfurt hin. Auch die scheckige Kuh sahen wir davon führen; eine Soldatendirne saß darauf.

Nun getrauten wir uns wieder gen Rudisleben. Das war nur noch eine Wüstenei. Die Bauern, die sich nicht geflüchtet hatten, lagen todt und verstümmelt auf ihren Misthaufen. Er stand wie erstarrt vor seinem Hause. Das hatte weder Thür noch Fenster; die Sonne schien hinein, denn das Strohdach war verbrannt. Das Geräth hatten sie zerbrochen und zerschlagen: was sie brauchen konnten, mitgenommen. Von den Hühnern fanden wir die Federn, von dem Schweine die Knochen. Der treue Haushund, der wohl gekläfft haben mochte, war aufgehangen. Da that er einen gräulichen Fluch, daß er es den Kaiserlichen heimzahlen wolle. Und in dem Augenblicke kam der Pfarrer gesprungen, barhaupt und barfuß – denn er hatte auch nur mit Mühe sein Leben geflüchtet – und rief: ,Der Gustavus Adolphus ist im Anzuge. Derohalb haben die Pappenheim’schen Reißaus gespielt.‘

Da lief er von meiner Seite fort. Ich dachte: er wird wieder kommen. Aber der Nachbar aus der Oelmühle, der mit ihm gegangen war, brachte mir von ihm die Botschaft, daß er unter das Volk des Königs sich habe anwerben lassen. Er finde keine Ruhe mehr, bis er der katholischen Soldateska ihre Schandthaten wett gemacht habe. Ich habe niemals wieder etwas von ihm gesehen und gehört.

Dazumal befiel mich das Herzspann, daß ich meinte sterben zu müssen. Aber da ich zu Euch in Dienst kam, that Deine Mutter dem vorigen Spittelvater, von dem der jetzige erst seine Kunst erlernt hat, mein Gebreste kund, und der sagte zu mir: ,Du mußt Deine Liebe verspünden in einen Baum; wie die Rinde verwächst, so verwächst die Liebe mit.‘ Da folgte ich seinem Rathe und kam mählich wieder zur Ruhe. Langsam geht es freilich; denn die Baumrinde wächst nur gemach. Aber endlich vernarbt Alles einmal. So sollst Du auch thun, Jungfer Hannchen, und ich will Dich die Kunst lehren. Es braucht auch kein Mensch zu erfahren, daß Du eine Liebe hast begraben müssen; denn in den großen Häusern haben die Mädchen auch noch das Kreuz, daß sie sich ob eines Herzeleids schämen müssen. Da hat es Unsereine noch besser.“

Und sie raunte Johannen leise in’s Ohr, und diese lauschte gespannt und prägte sich sorglich jedes Wort ein, auf daß sie keinen Fehler begehe.

Der nächste Tag war verschienen, die Mühle lag in tiefem Schlafe. Da rüstete sich Johanne zu dem ernsten Werke. Leise schlich sie dieselben Stufen hinab, die einst Hermann in bitterem Schmerze gegangen war. Durch das Hinterpförtchen schlüpfte sie hinaus. Der abnehmende Mond stand über dem Glockenthurme und leuchtete ihr. Scheu eilte sie in den Brunnengarten hinüber. Ihr Schatten glitt ihr voraus über die mit moderndem Laube bestreuten Wege; sie sah an ihm, wie sie unstät schwankte.

Zu der großen Weide, die neben dem grauen Wasserthurme stand, lenkte sie den Schritt. Der Unglücksbaum, wie das Volk die Weide nannte, war der rechte Gehülfe für ihr Vorhaben. Hatte nicht an einer Weide Judas, der Verräther, sich erhangen? Flicht man nicht aus ihrem falben Laube Kränze für treulos Verlassene? und aus ihren schwanken Zweigen dem unliebsamen Freier den Korb? Da stand er vor ihr, geborsten, krumm gebogen, gleich einem gichtbrüchigen Kobolde mit gesträubtem Haare. Die kalte Nachtluft zischte in seinen entlaubten Ruthen. Sie bohrte eine Höhlung in den morschen Stamm. Dann zog sie ein Papier hervor und wickelte daraus ein blaues Läppchen und einen goldblonden Haarringel. Sie hielt Beides in der Hand, und der Mond schien bleich darauf. In solch armem Gewande war er immer neben ihr hergegangen, demüthig, dankbar für die kläglichste Gabe, liebevoll nur darauf denkend, wie er dieselbe gut machen könne. Das verschabte Läppchen brannte ihr bis in die Seele; sie drückte es an die heißen Augen.

So wollte sie denn Abschied nehmen von dem letzten Angedenken an ihn. Selbst die Erinnerung wollte sie hingeben. Ihr Herz würde hinfüro nicht mehr ausschlagen, wenn sein Bild in ihr aufstieg, der zu ihren Jugenderinnerungen gehörte wie das Amen zum Vaterunser. Sie würde sich auch nicht mehr erfreuen können an dem Gedanken, wie lieb er sie einstmals gehabt hatte. Es [827] sollte Alles todt sein. Ein Grauen schüttelte sie. War ein schmerzvoll klopfendes Herz nicht noch besser, als ein gestorbenes? Ja – wenn auch das seine in gleichem Weh geschlagen hätte, dann hätte sie als Wonne erachtet, sich ihm nachzusehnen und zu grämen; aber er hatte sie vergessen, er freite eine Andere. Nein, auch sie wollte ihn vergessen, und wenn sie zu Stein darob erstarren mußte. Sie steckte Locke und Zeug sorgfältig in die Oeffnung am Weidenstamm, indem sie sprach:

„Liebe, ich hab’ dich,
Lieb’, ich vergrab’ dich,
Weich mir vom Herzen,
Mit Treue und Schmerzen.

Dann schlug sie den mitgebrachten eichenen Pflock darauf. Still ging sie heim.

Eins war gut und tröstlich für sie: sie brauchte nun nicht mehr mühselig gegen die Liebe zu Hermann anzukämpfen, nicht immer auf der Flucht zu sein vor der Erinnerung an ihn. Nun konnte sie getrost seiner denken, all der glücklichen Tage, da sie noch ein Herz und eine Seele waren – die Liebe verging ja von selbst. So that sie sich nimmer Zwang an im Denken und Sinnen. Aber besser wurde es nicht. Da ihr Schmerz sich stetig gleich blieb, die Sehnsucht nach dem Jugendgeliebten immer höher stieg, je mehr ihr Haus dem neuen Haupt der Sippe sich zuwandte und sie bei Seite stehen ließ, fragte sie angstvoll Trinen: „Wie lange währt es, bis begrabene Liebe stirbt?“

Die schüttelte den Kopf. „Nur Geduld, Jungfer Hannchen. Geduld ist die Hauptsache im Leben, im Herrschaftsdienst, in der Liebe und selbst bei unserem Herrgott. Auch da müssen wir geduldig harren, bis es ihm gefällt, unsere Wünsche zu erhören. Also mußt auch Du Dich gedulden, bis die alte Weide verwachsen ist.“

[838] Geduld pflegt sich gemeiniglich erst bei denjenigen Menschen einzustellen, deren Kraft gebrochen ist, und die nun aus der Noth noch eine Tugend machen. Dazu war Johanne von zu starker, fester Beschaffenheit. Das von Trinen empfohlene Mittel sollte und mußte helfen. Erst hoffte sie auf Fabian Sebastian, da fängt der Baum zu saften an. Nun würde doch die alte Weide ihre Schuldigkeit thun, färbten doch ihre Zweige sich schon röthlich. Als das nicht half, baute sie auf den Frühling. Endlich lugten die Schneeglöckchen aus der Erde, die grünen Blüthenhüllen wie Käpplein über die weißen Köpfchen gezogen. Dann grünte der Kranz von Linden um die rothen Ziegeldächer der Stadt der Aaren, daß man verstand, warum Luther sie einer Schüssel gesottner Krebse, mit Petersilie verziert, verglichen hatte.

Aber Johannens Herzspanne wollte nicht weichen. Da gedachte sie einmal nachzusehen, ob die Liebe noch nicht in die Weide verwachsen wolle. Sie wand sich durch die Himbeerbüsche, welche die feuchte Ecke am Brunnenhaus abschlossen, und spähte nach dem verspündeten Angedenken. Aber ein Schreck durchzuckte sie. Die angebohrte Stelle des alten Weidenbaumes war zerbröckelt im Laufe des Winters, der Pflock rollte seitwärts, und Läppchen und Locke waren verschwunden. Wie gelähmt stand sie und schaute auf den zerstörten Zauber. Da war es freilich kein Wunder, daß ihr Herzeleid nicht verging.

Es war so friedlich und still um sie. Nur leise und kühl, wie eine milde Hand, strich der Wind über ihre glühenden Wangen. Aus den säuselnden Weidenzweigen drang das süße Lied eines kleinen Vogels. Johanne blickte auf. Da droben saß ein Hänfling, und dort hing auch das Nest, dem er zusang. Aber was schimmerte da blau aus dem zierlichen Bau? Sie spähte todterschrocken hin. Ihre scharfen Augen erkannten das Läppchen. Die Hänflinge hatten es zu Nest getragen, und nun schaute die Hänflingin stolz darüber hinaus, wie Frauen über die Teppiche, die sie zur Zierrath bei Festen vor die Fenster hängen.

Johannens erster Gedanke war, nach einer Stange zu springen und ihr Eigenthum wieder zu erlangen. Aber dann hätte sie das Nest zerstören, das genügsame, glückliche Pärlein heimathlos machen müssen. Und hatten sie nicht richtig prophezeit? Vielleicht hielt Hermann in diesem Jahre Hochzeit? Mochten die Hänflinge geruhig weiter hinter dem blauen Angedenken wohnen.

„Mir soll einmal nicht geholfen werden,“ sprach sie trostlos und ging heim.

Der milde Abend hatte die Menschen herausgelockt. Ueberall saßen sie vor ihren Hausthüren, statteten sich gegenseitig Besuch allda ab und plauderten und lachten mit einander. Auch vor der Papiermühle hatte Frau Henningin mit dem Vormund und der Muhme auf der Bank Platz genommen und erholte sich von des Tages Last und Arbeit. Es gab jetzunder viel zu schaffen; denn in der Kürze wurde Zacharias erwartet, um Vorbereitungen für seinen zukünftigen Haushalt zu treffen. Die hochgeachtete Marzibilla hatte eingewilligt, im Herbst gen Arnstadt zu ziehen und allda mit Zacharias in den Stand der heiligen Ehe zu treten. Vor ihrem Vater, der sie in die Ehe gab, mußte Zacharias doch als großer Bürger bestehen können.

Es war dunkel geworden. Die Kinder, welche auf dem Liebfrauenkirchhof zwischen versunkenen Grabsteinen Verstecken gespielt hatten, kamen müde herbei. Benjaminlein stieg auf Johannens Schooß. Man hörte die helle Schloßthurmglocke die neunte Stunde schlagen.

„Heut haben sie auf der Neidecke den Filzreif von der silbernen Glocke genommen, die unser Bellicosus dort aufgehängt hat,“ meinte Bastian. „Für gewöhnlich ist er darum gelegt, auf daß unsere kleinen Kinder nicht aufwachen. Hermann hat es uns erzählt. Gelt, Hanne?“

Die Muhme wickelte die Daumen um einander. „Wärme ja nicht das Gedächtniß an den Kukuk auf, den Ihr in Eurem Nest groß gezogen habt. Der schlaue Bursch ist sein Schusterpech los geworden, inmaßen er die Glockengießerin freit; an der Hanne aber ist es hängen geblieben.“

Johanne antwortete nicht. Ihr Muth war so gänzlich darnieder geschlagen, daß sie wehrlos Kränkungen über sich ergehen ließ. Die Muhme schüttelte den Kopf.

Die Unterhaltung wollte auch gar nicht in Gang kommen. „Es ist anjetzo recht still in der Welt geworden,“ seufzte sie. „Sonst ging kein Tag vorüber, an dem nicht in der Flur ein Mensch von einer giftigen Kugel erschossen gefunden oder eine Jungfer beleidigt wurde. Und nun ereignet sich nichts mehr, was des Erlebens werth wäre.“

Da schlug plötzlich auf dem Glockenthurm eine Glocke in eiligen Schlägen an und erfüllte die Luft mit wirrem Geläut.

„Das ist Sturm!“ sprach der Rathsbrunnenmeister. „Ist die Kriegsfurie wieder los? Oder ist ein Feuer aufgegangen?“

„Ihr habt es beschrieen, Muhme,“ jammerte die Frau Henningin. „Nun haben wir das Unglück.“

„Am Erfurter Thor brennt es,“ rief die Schmidtin, nach Norden zeigend, wo den Himmel ein feuriges Roth überzog. „Gevatter Brunnenmeister, eilt, daß Ihr in Euer Haus kommt.“

Der Gevatter schaute sich ruhig um. „Mein Platz ist als Rathsbrunnenmeister auf dem Markte. Und wer ein Amt hat, der warte desselben.“ Damit schritt er von dannen.

Die Muhme folgte mit Frau Henningin nach. Nur Johanne [839] blieb. Sie rief die Geschwister zusammen und ging gelassen in das Haus. Tiefes Herzeleid macht gegen äußere Sorgen und Schrecknisse unempfindlich.

Auf dem Markte wogte eine dunkle Menschenmenge durch einander, nur von der ausgehängten Rathhauslaterne beleuchtet. Noch wußte Niemand, wo das Feuer aufgegangen war, aber Alle bereiteten sich zu seiner Bekämpfung vor. Die Schaarwächter schritten heran, die eisernen Pickelhauben auf den Köpfen, die Spieße über die Schultern gelegt. Die Zimmerleute und Maurer nahten eilig im Schurzfell mit Axt und Spitzhammer. Rathsknechte liefen nach den Feuerleitern im Leiterhäuschen, die Frauen ergriffen die Feuereimer, welche in langen Reihen im Rathhausflur hingen. Pferde trabten heran und wurden an die Wasserkufen gespannt, die um die mächtigen Brunnenbecken standen.

Und das Brausen der Menschen übertönend, wimmerte die Glocke in immer wilderen Schlägen. Da erschallte die Stimme des Bürgermeisters:

„Die Stadt wird nicht bedräut; fern von uns wüthet die Feuersbrunst. Droben vor dem Steigerwalde loht und qualmt es.“

Beruhigt schickten die Bürger sich an, heim zu gehen, als eine neue Hiobsbotschaft anlangte. Die Läuter hatten allzu eifrig ihrem Amte abgelegen und die Glocke war zersprungen. Daraus erwuchs eine große Ausgabe für die Stadtcasse. Im Groll hierüber fanden die Weiber ihren Muth wieder. Die Arme in die Seite gestemmt, traten sie, drohend mit den Pfauenschweifen nickend und ihre Meinung sagend, zusammen.

Allen voran zeterte die Muhme Schmidtin: „Daß Gott erbarm! Das ist ein sauberer Rath, der solche Himmelsstürmer zu Läutern bestellt hat! Und wer muß den Schaden tragen? Die Bürger, welche doch nichts für die Unfürsichtigkeit des Bürgermeisters können. Ihr braucht mich nicht anzustoßen, Frau Henningin. Eine Bürgers- und Meistersfrau läßt sich das Maul nicht zubinden.“

„Ei, seid doch ruhig, liebe Frau Nachbarin,“ begütigte der Rathskämmerer. „Es ist ja nur die Maria Magdalena, welche sprang. Und es ist an ihr nichts Erkleckliches verloren, da sie doch nur dazwischen quäkete wie ein altersschwaches Weib.“

„Eines alten Weibes Stimme ist auch nicht zu verachten,“ entgegnete zornig die Schmidtin; „denn obgleich der Herr sie also eingerichtet hat, daß sie quäket und zittert, so redet sie doch oft weiser und verständiger, als mancher Mann in Amt und Würden.“

Da trat der Rathsbrunnenmeister hinzu. „Liebe Nachbarinnen und Gevatterinnen, geht nur geruhig nach Haus. Es wird Alles auch ohne Euch genugsam erwogen und festgestellet werden. Und will ich doch verhoffen, daß unsere gute Stadt nicht zu arm sei, um ihre Glocke umgießen zu lassen, wenn selbiger etwas Menschliches begegnet.“

„Zu arm? Gott bewahre,“ lautete die Antwort. „Arnstadt ist wohl vermögend, also viele Glocken gießen zu lassen, wie ihm beliebt.“

Man zog stolz beruhigt ab.

In der Papiermühle rüstete die Familie sich zur Nachtruhe. Frau Henningin schaute wehmüthig nach dem Glockenthurm hinauf.

„So hat die alte Maria Magdalena ausgeklungen. Sie hat bei meiner Confirmation, Hochzeit, bei allen Taufen und Begräbnissen unserer Sippe geläutet. Auch diese Stimme werde ich nicht wieder hören.“

„Sie wird schöner wieder auferstehen,“ sprach Johanne. „Eine zersprungene Glocke läßt sich umgießen, ein zerbrochenes und zermürbtes Menschenherz nicht. Und wie viel Lärm wird um eine solche gemacht, und nach dem armen Herzen fragt Niemand.“




Droben am Steiger war es heißer hergegangen. Als die Feierabendstunde von den Dörfern nah und fern läutete, stellten auch die Holzhauer der Möhring’schen Gießhütte im Walde ihre Arbeit ein und rüsteten sich zur Heimkehr nach Erfurt. Nur hier und da waren noch Scheite aufzuschichten, noch ein paar Züge mit der Säge zu thun. Hermann Zimmermann schritt von einer Gruppe zur andern, ordnete an, was noch geschehen mußte, und schrieb die aufgebauten Klafter auf.

„Verzieht noch, bis Alle die Arbeit vollendet haben,“ befahl er. „Vereinzelt Euch nicht im Walde. Es scheint mir nicht ganz geheuer im Steiger zu sein. Es sollen unheimliche Gesellen sich hier und da gezeigt haben, und ich vernahm auch ferne Schüsse.“

Ein alter Holzhauer nickte bedeutungsvoll. „Ich habe im Rasen drunten an der Heerstraße einen frisch eingeschnittenen Gaunerzinken gefunden. Die Spitze des Pfeiles wies nach dem Steigerwalde. Da mögen die Heckenbrüder sich sammeln.“

Hermann schritt nach dem Waldhause hinüber, wo Eberhard seiner harrte. Er war ein schöner Mann geworden, der in den hohen Stiefeln, dem Schurzfell und mit der blinkenden Axt über der Schulter wie ein Bild kraftvoller Jugend erschien. Aber er schaute mit schwermüthigem Blicke um sich und schritt sonder Freude durch den Wald, ohne der Himmelschlüsseln zu achten, die aus dem Moospfühl emporblühten, ohne zu hören, was die Amseln und Drosseln von den mit jungem Laub bedeckten Birken und Buchen daherpfiffen.

Auch der Vetter, der auf der Bank neben der Thür des Holzhauses saß, sah unwirrsch aus. Er hatte Morcheln gefunden und schnitzte kleine hölzerne Spießchen, an denen die Schleckerbißlein gebraten werden sollten. Aber so zart auch die Schwämme erschienen, sie lockten kein Lächeln auf die feinschmeckenden Lippen des Obergesellen.

„Ich sage Dir, so geht es nicht weiter,“ sprach er finster. „Der Schlot mit seiner Zahnlücke ist noch immer nicht ausgeflickt. Aber sie“ – er deutete mit dem Daumen hinter sich – „will sich durchaus ein plümerantenes Kleid kaufen. Der liebe Gott weiß, was das für ein Ungethüm sein mag; denn da das ganze Weibsvolk jetzo darauf versessen ist, kann es nur etwas Verdrehtes sein. Da wird wieder das schöne Geld wie Rauch hinaus fliegen mit dem Versprechen, nimmermehr wieder zu kommen. Es ist eine klamme Zeit. Arbeit giebt es nicht viel; denn die Menschen mühen sich um das tägliche Brod. Da können sie nicht an ihre spolirten Kirchen denken. Das Geld ist rar, Auslagen müssen wir bei jeglichem Guß machen und den dürftigen Gemeinden Zeit zur Zahlung lassen. Dazu bimmelt das Steuerglöcklein unaufhörlich: Bringt Geld! bringt Geld! um die letzten Kriegscontributionen zu bezahlen. Ich habe sogar meinen Sparpfennig in die Gießhalle gesteckt. Und mein Tobak ist auch zu Ende,“ schloß er ärgerlich.

„Wir sind nicht die Einzigen, welche mit dem Elend ringen,“ tröstete Hermann. „Das ganze deutsche Volk ist unser Leidenscumpan. Was sollte aus unserem Vaterland werden, so Alle entmuthigt die Hände sinken ließen? Jetzo ist der Friede gekommen. Seht, wie viele Aecker sind wohl bestellt, und der gütige Gott verheißt reichen Erntesegen. Dann werden auch die Menschen dem himmlischen Vater danken wollen und die Kirchen, denen der grimme Kriegsbelial die Glocken entrissen hat, wieder mit solchen zieren. Ist es nicht ein schönes Tagewerk, dafür Sorge zu tragen, daß die ernste Stimme aus den Lüften allenthalben wieder der Menschheit zurufen kann: Nun ruhet aus vom Arbeiten und Sammeln irdischer Schätze und gedenket eurer besseren Heimath. Darum wollen wir nicht verzagen. Ein tüchtiger Mann überwindet ein widriges Geschick.“

Eberhard war gerührt, und da wurde er allezeit grob.

„Sind wir etwa tüchtige Männer?“ polterte er. „Pantoffelhelden sind wir, arbeiten nur, auf daß sie“ – sein Daumen fuhr über die Schulter – „die schönen Thaler durch ihre runden Finger fallen läßt wie durch ein Sieb. Gleich einer Glocke versenkt sie sich in einen Sumpf und klagt dann noch aus der Tiefe über das, was sie sich selbst angethan hat.“

Hermann hatte in die Ferne gelauscht, aus der ein schriller Pfiff tönte. Jetzt wandte er sich wieder dem Vetter zu. „Ihr thut ihr Unrecht; sie ist eine gute Frau.“

„Das ist wenig genug. Sie hat ein Herz so weich als ein Butterweck,“ schalt Eberhard.

Hermann’s Lippen zuckten. „Nein, es ist viel, schier möchte ich sagen Alles bei einem Weibe.“

Eberhard fuhr auf. „Thue mir die einzige Liebe und sei nicht so weichlich. Ich kann es nicht ersehen, wenn die Meisterin Dich so hätschelt, anäugelt und vollstopft. Es ekelt mich an. O, ich wäre schon längst fortgegangen, wenn die Glocken mir nicht so an’s Herz gewachsen wären. Die Weiber bedürfen eines starken Herrn, der ihren Thorheiten die Pässe verlegt. Denke daran: Manneshand oben.“

„Hätte Euer Gemüth sich todtwund gerieben an einem Kieselstein, Ihr würdet andere Meinung hegen von einem milden Frauenherzen,“ antwortete Hermann. „Aber Ihr habt Recht, sie bedürfte eines starken Herrn, und es will mich bedünken, als harre sie nur auf die feste Hand, unter welche sie sich zu beugen hat.“

[840] „Weißt Du etwa eine solche?“ fragte lauernd der Obergesell, und die Falte zwischen den dunklen Brauen wurde noch tiefer. „Laß Dich warnen, das Ehekreuz auf den Rücken zu nehmen und in den Wehestand zu treten. Es muß doch etwas an dem Elend sein; denn kein Stand auf der Welt hat so viele jämmerliche Namen bekommen als der heilige Ehestand.“

„Schämt Euch, Vetter!“ sprach Hermann ernst.

Es war dunkel geworden. Die Leute hatten sich versammelt und harrten des Befehls zum Aufbruch. Aber Hermann stand und spähte in die Weite. In Walthersleben huben plötzlich die Hunde ein wüthendes Gebell an. Dann tönte ein lauter Ruf durch die Nacht, wildes Schreien, dumpfe Schläge, wie gegen Thüren und Thore, und plötzlich krachten Schüsse.

„Das ist ein Ueberfall von Raubgesindel in Walthersleben,“ rief Hermann, seine Axt fassend. „Rasch folgt mir, daß wir zu Hülfe kommen.“

Die Holzhauer eilten ihm nach. Der Vetter zog das lange Messer und schloß sich der wehrhaften Schaar an. In großer Geschwinde trabten sie über frisch gepflügte Aecker und Wiesenraine hinüber, wo der Umriß des Kirchthurmes sich schwarz vom Himmel abzeichnete. Aengstliche Glockenschläge sandte er in die Nacht hinaus. Und jetzt stieg eine rothe Flamme mitten im Dorfe auf.

„Sie haben den Bauern den rothen Hahn auf das Dach gesetzt,“ riefen Hermann’s Leute und verdoppelten ihre Schritte.

Wirres Geschrei, Gebrüll, Gewimmer tönte ihnen entgegen, dazwischen das lustige Soldatenlied:

„Laßt uns uns’ren Tag genießen,
Gott weiß, wo wir morgen sein.“

Nun waren sie am Eingang. Die aufsteigende Flamme verbreitete Tageshelle. In der Dorfgasse kämpften die Bauern, mit Dreschflegel, Sense und Mistgabel bewaffnet, gegen das Raubgesindel: wilde bärtige Gesellen, aus deren verwitterter, zersetzter Kleidung die ehemaligen Kriegsknechte zu erkennen waren. Schiebochsen, wie die Pikeniere genannt wurden, rannten mit ihren Spießen an; zerlumpte Musketiere, denen von ihrer Bewaffnung nichts geblieben war als die Gabel, darauf die Muskete beim Feuern gelegt wurde, schlugen mit den metallenen Hörnern derselben drein; Arkebusiere, jetzo stolz zu Fuß, wie sonst hoch zu Roß, feuerten mit ihren Handrohren dazwischen. Die Bauern wehrten sich vereinzelt und mußten weichen.

Da drangen mit lautem Halloh die Erfurter in das Getümmel. Ihre Aexte und Beile fielen in wuchtigen Schlägen auf die verlotterten Martissöhne nieder, daß diese zu weichen begannen. Hermann sammelte mit lautem Zuruf seine Leute und folgte ihnen auf dem Fuße nach.

Unter der Tanzlinde hatte der Hauptmann der Bande sein Quartier aufgeschlagen. Karren und Lastthiere hielten hier, und die Schnapphähne schleppten heran, was sie zusammen geraubt hatten. Es war ein gräulicher Kerl, aus dessen wüstem Gesicht eine rothe Nase, groß wie eine Gurke, leuchtete. Stiefel, weit wie Bottiche, mit ellenlangen Sporen, schlotterten um seine Beine, ein riesiger Schlapphut war über das einzige Auge gedrückt, ein zweihändiges Schwert klirrte an seiner Seite und sein Gurt war mit Dolchen und Radpistolen gespickt. In den Ohren trug er große Silberringe, und um den Hals in vielen Windungen eine goldene Kette.

„Potz Blut! Schlagt Alles entzwei!“ scharmuzierte er. „Töpfe und Pfannen – das Fleisch mundet am besten am Spieß gebraten. Her mit dem Schnapsfäßchen! Gebt dem Schänkwirth dafür den Schwedentrunk! Der ist viel stärker als jeder Wein der Welt. Will der Bauer nicht sagen, wo er sein Geld versteckt hat, so schraubt seine Daumen statt des Steines auf die Pistole. Sperrt und ziert Euch nicht, ihr Dirnen!“ rief er ein paar Mädchen zu, die gebunden herbeigeschleppt wurden. „Ihr werdet brave Soldatenweiber, fahrt auf dem Wagen und eßt Brod, das Ihr nicht gebaut habt. Wenn’s wieder los geht, seid Ihr bald mit obenan. Die mit dem gelben Zopf behalte ich für mich.“

Um diese Bestie in Menschengestalt sammelten sich die Mausköpfe. Aber die mannhafte Erfurter Schaar focht das gar nicht an. Die Bauern hatten sich zu ihnen gesellt, und hauend und stechend drangen sie auf die Räuber ein. Mit wuchtigen Hieben bahnte Hermann sich den Weg zum Hauptmann.

„Daß Dich Gottes Element schände!“ kollerte das Scheusal. „Willst Du den Soldaten, der für Euch Stubenhocker sich hat todt schlagen lassen, hindern, sein Brod zu nehmen, das Ihr ihm weigert, so soll Dich der Donner sechs Klaftern tief in die Erde schlagen!“

Er richtete seinen Fäustling auf Hermann. Der Schuß fiel. In demselben Augenblicke aber sauste die Axt herab und zerbrach den Schädel des Hauptmanns, daß Blut und Hirn weit herum spritzte.

Ein Jubelruf der Erfurter antwortete auf Hermann’s That, und sein Häuflein, von den Bauern verstärkt, räumte mit den Räubern auf. Quartier wurde nicht gegeben. Das bis auf’s Blut gequälte Landvolk vertilgte das Ungeziefer. Noch eine kurze blutige Arbeit, dann verhallte der letzte Angstschrei, verstummte das letzte Todesröcheln. Der allergewaltigste Rumormeister Tod hatte die wilden Gesellen zahm gemacht.

Die Gemeinde und ihre nachbarlichen Beschützer eilten der Brandstätte zu. Hermann stand schon wieder auf dem Giebel eines lichterloh brennenden Hauses und schlug das qualmende Gebälk nieder.

Als der Morgen graute, war auch die Feuersgefahr getilgt, und nun berief der Schulze die Gemeinde auf den Platz unter der Linde. Einen Pfarrer gab es im Dörflein dermalen nicht. Der letzte war im Krieg umgekommen, ein neuer noch nicht eingesetzt. Aber der Schulmeister kletterte vom Glockenthurm herab, wo er gestürmt hatte. Die Weiber schlichen aus ihren Verstecken, aus dem Gehege, aus Gruben und Winkeln hervor. Die sieghaften Bauern traten in einen Ring. Es waren im Unglück hart gewordene Gestalten, mit finstern Gesichtern, wie aus bräunlichem Holz geschnitzt, mit Fäusten wie Eichenwurzeln.

Wegen der Leichen wurde nicht viel Federlesen gemacht. Wenn dazumal über jeden Erschlagenen ein Protokoll hätte aufgenommen werden sollen, so hätte die Menschheit in lauter Scribenten sich verwandeln müssen. Der Schulze ließ die Todten auflesen und befahl, sie draußen im Feld einzuscharren. Dann wurde die Beute herzu geschafft: Pferde, Wagen, Kleider, Waffen. Es sah aus wie auf einem Krempelmarkt. Da waren Armbänder aus Elenklauen; das entströmende Blut ihrer Träger zeigte, daß sie ihren Zweck, das Blut zu stillen, nicht zu erfüllen vermocht hatten; Medaillen, die als Amulette gegen Hieb und Schuß getragen worden waren, hatten nicht vor dem Dreschflegel geschützt; der Tod findet immer eine Lücke, auch in der festesten Verschanzung; auch Beutel mit Geld, Säcke, in denen geraubte Hühner, Speck und Würste staken.

Beim Schein der noch brennenden Schutthaufen suchten die geplünderten Leute ihr Eigenthum heraus, berieth der Schulze mit den Aeltesten, wie die Geschädigten zu befriedigen seien. Die Abgebrannten erhielten zusammengehämmerte Silbergeräthe; konnten leicht Abendmahlskelche gewesen sein, man fragte nicht darnach: „Noth kennt kein Gebot.“ Den Leuten aus der Gießhütte wurde mit Geld gelohnt. Auch dem Vetter wurde der gewünschte Antheil: ein großer Beutel voll Tobak. Hatte er doch grimmig um sich gestochen wie eine giftige Hornisse. Ein Ringlein mit dunklem Stein bat er sich noch aus.

„Der Achat schützt vor Liebestrunkenheit, ich will ihn einer vielwerthen Frau schenken,“ flüsterte er dem Schulzen zu, der einwilligend nickte.

Hermann saß auf einem verkohlten Pflug. Er war halb ohnmächtig. Die Kugel des Hauptmanns hatte ihn gestreift und das Blut rieselte an der Wange hernieder. Die gerettete Bauerndirne mit dem gelben Zopf band ihm ihr Tüchlein um die Wunde. Da trat der Schulze mit den Bauern zu ihm heran.

„Nehmt unsren Dank, wackrer Gesell,“ sprach er, „und diese güldne Kette von dem Räuberhauptmann als Beute-Antheil. Ihr habt sie redlich verdient, denn ohne Euer kräftiges Dreinschlagen möchte es itzo übel um uns bestellt sein.“

Hermann wollte sie abwehren, aber der Schulze bestand auf seinem Willen. „Es muß wieder Ordnung werden im deutschen Land und Jeder dazu thun, daß Gerechtigkeit geübt wird. Sie haben es in Erfurt nicht der Mühe werth gehalten, eine halbe Karthaune auf der Cyriaxburg zu lösen, da sie unser Feuerzeichen sahen, und auch aus dem sächsischen Amt unten sind uns auf unser Stürmen die Landreiter nicht zu Hülfe gekommen. Nun, wer nicht mit thatet, auch nicht mit rathet. Ihr aber nehmt den wohlverdienten Lohn, den Euch die ganze Gemeinde zubilligt.“

Hermann schaute schier bestürzt auf das Geschmeide, eine güldne Kette, an der allerhand kostbare Münzen hingen. Aber plötzlich blieb sein Blick starr an einem Goldstück haften. Er hob es zum Auge, seine Hand begann zu zittern.

[842] „Hilf du heilige Dreifaltigkeit!“ las er mit stockendem Athem, und da, wo die Jahreszahl stehen sollte, war ein Eckchen herausgeschlagen. Der Glücksducaten des armen Häusleins, das man das Sterbekleid benamst hatte, kehrte zu dem armen Sohn desselben zurück, und wie es sich für ihn geziemte, zog er das Glück am güldnen Bande nach und legte es in die brave tapfere Hand.

Sein Vetter stand neben ihm und konnte seine Erschütterung nicht deuten. „Graut Dir vor dem Kleinod des Merodebruders?“ fragte er.

Hermann schüttelte das Haupt. „Wenn wir Alles von uns thun wollten, was mit Thränen getränkt wurde, es bliebe wahrlich wenig übrig. An uns ist’s, den Unsegen in Segen zu verkehren.“

„Welchen Segen Du gewißlich der Gießhütte zu Gute kommen lassen wirst,“ sagte Eberhard und lugte ihn mißtrauisch an. „Nun kannst Du sie leicht in die Hände bekommen, ohne daß Du Dich in ein fremdes Nest setzest.“

Hermann sah auf. „Das soll auch geschehen,“ sprach er.




Der Wind wehte über die Weizenstoppeln, die Hopfengärten standen verödet, das gelbe Laub der Linden trieb in den Lustgärten um Arnstadt. Die Schwalben hatten längst ihre Reise angetreten. Mit flüchtigem Pfeifen strichen schon die Meisen durch das fallende Laub der Weide und des Grafgünther-Birnbaumes im Brunnengärtchen.

Auch Johanne war mit Auszug und Abschied beschäftigt; denn die Jungfer Marzibilla war im Anzug und Zacharias ihr entgegen gereist. In den nächsten Tagen wollte die Mutter in die Wasserstube übersiedeln. Johanne schaffte früh und spät, um den Haushalt wohlbeschickt der Schwäherin übergeben zu können. Obgleich der Abend nahte, stand sie noch in der Küche. Ueber dem Herdfeuer schwebte ein blanker Kessel, und der darin wallende Honig verbreitete einen süßen Duft, während sie ihn mit dem Feimlöffel abschäumte. Die kleinen Blumengeister, deren vergängliche Hüllen längst verblüht und verweht waren, hielten in der heißen Fluth eine flüchtige traumhafte Auferstehung, und die Erinnerungen des jungen Mädchens erhoben sich mit ihnen.

„Eitel Lindenblüthe,“ flüsterte sie für sich. „Also duftete es auf dem Maienfest, da ich zum letzten Mal dort tanzte. Die Finken und Grasmücken schmetterten in den Zweigen, der Zinkenist und der Fiedler spielten auf, die Sonne funkelte durch die blühenden Zweige. Jegliche sprang mit ihrem Liebsten auf dem Anger. Nur ich schloß mein Herz fest zu, ließ den armen Hermann einsam unter den finstren Ulmen stehen und achtete seiner traurigen Augen nicht. Nun zünden sie Alle die Flammen des eignen Herdes an, die damals mit mir tanzten. Bärbchen hat sich ihr Herzgespiel durch Geduld und Nachsicht erstritten. Und Hermann ist des Harrens überdrüssig worden, und hat sich eine Gesponsin erkieset. Nur ich bin einsam geblieben, und meine Jugendfreude ist zerstiebt wie die Lindenblüthe, darin der köstliche Honig wuchs.“

Sie ergriff ein Körbchen, das angefüllt war mit kleinen blau bedufteten Schlehen, und während sie dieselben wie Perlen in den siedenden Honig streute, begleitete sie ihr Thun weiter mit leisen Worten: „Ein harter Reif hat die Früchte schon getroffen und wohl vorbereitet; denn nicht die liebe Sonne, sondern der harte Frost vermag sie zu zeitigen. Also ergeht es auch einem herben Gemüth. Nicht die milde Liebe, sondern Trübsal und Leiden vermögen es mürbe zu machen und für ein holderes Dasein zu reifen – zu spät.“

„Hanne, sprich lieber mit uns als mit dem schwarzen Topf,“ ertönte Benjamin’s feine Stimme, und der Kleine kletterte an Christel’s Hand mühsam über die hohe Schwelle in die Küche.

„Wart, Du darfst den Kessel auslecken,“ versprach sie, goß die eingesottnen Früchte in eine Steinbüchse und stellte sie zum Abkühlen auf das Topfbret. Den Kessel aber setzte sie auf die Erde und gab dem Kleinen sein Löffelchen. Während er die Tröpfchen zusammen schabte und sich einen gelben Bart auf die Rosenwänglein malte, hielt Christel einen Korb voll grüner Zweige und bleicher Herbstblumen ihrer Schwester unter die Augen.

„Ich habe zusammen geschnitten, was noch im Garten grünte und blühte. In der Schule wird der Kranz gewunden, den unsre Glocke morgen beim Aufziehen tragen soll. Sieh, auch ein verspätetes Rosenknöspchen ist dabei. Ein Streifchen Roth leuchtet heraus.“

Eine Thräne trat in Johannens Auge. Solch ein Knöspchen hatte er ihr an dem Tage gegeben, der sie für immer trennte, und sie hatte ihn dafür gescholten.

„Ach Hanne,“ plauderte Christel, während sie Buxbaum, Minze und weiße Astern zierlich in dem Korbe ordnete, „wie ich mich auf das Fest morgen freue! So was ist noch nicht dagewesen. Sechs Bürgersöhne sind abgesandt, jeglicher mit zwei Pferden, und sind dazu die schönsten ausgesucht, und das stattlichste Geschirr ist aufgelegt worden. Der Herr Bürgermeister hat schon Nachricht, daß der liebe Gott die derowegen in allen Kirchen gethanen Fürbitten erhört hat, und das Werk wohl gerathen ist. Auch soll die Frau Glockengießerin sich also billig gezeigt haben, daß die Rathsmannen darob sehr zufrieden sind. – Hast Du auch gehört, was der Rathsbrunnenmeister erzählte? Er ist mit den andern Rathsmannen in Erfurt gewesen wegen des Glockengusses. Da die Meisterin ihre drei Kreuze unter die Geschrift gesetzt hat, ist sie sehr lustig gewesen und hat gemeint: ‚Will’s Gott, sind’s die letzten, die ich zeichne. Das nächste Mal unterschreibt eine geschicktere Hand.‘ Und draußen auf dem Hof hat unser Hermann befohlen wie ein Kriegsoberster, aber der Arnstädter Rathsmannen gar nicht geachtet. Mich nimmt es baß Wunder, daß er so stolz geworden ist. Freilich! Er freit die Frau Glockengießerin, wie sie sagen.“

Sie lugte Johannen bedenklich an. Doch diese starrte regungslos in die verglimmenden Kohlen.

„Die Glocke kommt!“ schrie Bastian in die Küche.

„Die Glocke kommt!“ wiederholte Christel und rannte mit ihm davon.

Benjaminlein aber kam herbei, faßte Johannen an Hand und Schürze und zog sie hinaus. Schon sammelten sich die Menschen um die Liebfrauenkirche, und von fernher tönte der Lärm der heranwälzenden Volkswelle, welche die ankommende Glocke begleitete. Die Kirchenpforte wurde aufgethan, die Tragen, Balken und Hebel wurden gebracht, die nöthig waren, um die Glocke in das Innere der Kirche zu schaffen, von wo aus sie am andern Tage in den Thurm empor gezogen werden sollte. Aus allen Häusern eilten die Insassen herbei; der Platz füllte sich an. Die Letzte hinter der Menschenmauer erwartete Johanne den Zug.

Endlich bog das erste Paar der ziehenden Pferde auf den Kirchplatz ein, und die andern folgten langsam nach. Sie waren alle geschmückt mit grünen Zweigen und die Bürgersöhne, welche sie leiteten, in kostbarem Putz. Gemachsam rollte der Wagen mit der wie helles Gold glänzenden Glocke in den Kreis, welchen die Menschenmenge gebildet hatte. Ein lautes: „Ah!“ ertönte, und Alt und Jung drängte herbei, um den neuen Ankömmling recht genau zu beschauen. Da gewahrte man zierliche Schrift auf der Glocke, und von allen Seiten rief es: „Seht da, welch ein Verslein schmückt unsere Glocke? Legt es uns aus, Herr Küster.“

Der Küster als Schriftkundiger trat herzu und las mit lauter Stimme:

„Von altem Metall bin ich,
Gut und recht wohl mich
Gießen that in Erfurt Hermann Zimmermann
Nun Gott zu Lob ich klingen kann.“

„Hermann Zimmermann?“ murmelte es ringsum. „Das ist ein Arnstädter Name.“

Da arbeitete sich der Rathskämmerer durch die Menschen in den Kreis hinein und rief mit vor Bewegung bebender Stimme: „Mitbürger, unsere Stadt hat Freude und Ehre erlebt an ihrem Kinde. Ja, der Hermann Zimmermann ist ein tüchtiger Glockengießer geworden, und das ist sein Meisterstück, so er für seine liebe Vaterstadt gegossen hat. Prüfet selbst, ob solches wohl gerathen ist.“

Eine Stille des Erstaunens hatte bislang auf Allen gelegen. Nun brach der Jubel los. „Hermann Zimmermann hoch! Allezeit Arnstadt hoch!“ brauste es durch die Luft.

Johanne stand starr und still.

Da gleißte die Glocke wie eitel Gold im Abendsonnenschein. Ihr Wort war wahr geworden. Schöner war sie auferstanden, und der Name des armen Hiob stand für alle Zeiten auf der Glocke, die Arnstadt zum Gottesdienst rief. Nun war es eine Ehre, mit diesem Namen zusammen genannt zu werden.

Jetzt kam mit glühenden Wangen Christel geflogen. „Er ist da, ich habe ihn gesehen, wie er mit dem Herrn Bürgermeister [843] vom Rathhaus herabschritt und alle die Rathmannen mit ihm. Ach, und wie stattlich und schön sah er aus! Ein feines braunes Wams mit so großen blauen Röslein besetzt hatte er an und einen stattlichen aufgeschlagenen Hut in der Hand; denn auf den Kopf brachte er ihn nicht, so viel mußte er grüßen und danken.“

„Hanne, Hanne,“ schrie von weitem athemlos Bastian, „unser Hermann ist da.“

Jetzt theilte sich die Menge, und die Väter der Stadt erschienen, in ihrer Mitte der Glockengießer. Die Hüte flogen ab vor den Rathmannen. Aber nur einen Augenblick wurde es ehrerbietig still; dann stürzte Alt und Jung, Männer und Frauen auf Hermann Zimmermann zu. Um ihn willkommen zu heißen. Johanne wurde gänzlich zurückgedrängt.

Da war er nun, den sie sonst als ihr Eigenthum betrachtet hatte; aber jeder Andere stand ihm näher als sie. Alle die Menschen, die ihn sonst verachtet hatten, drückten ihm nun die Hände, und er schüttelte sie allen. Dann wandte er sich und traf seine Anordnungen für das Abladen der Glocke.

Mit zitternden Knieen ging sie in das Haus. Aus dem Giebelstüblein lugte sie verstohlen hinab. Christel hatte Recht gehabt: er war viel tausendmal schöner geworden. Und würdig und ehrenhaft erschien sein Gebahren. Aber herüber schaute er nicht, und das Herz erstarrte ihr zuletzt zu Stein in der Brust. Und dazu ertönte die Stimme der Frau Henningin: „Hanne, hast Du auch die Hammelkeule schon mit Salbei gespickt, damit wir morgen nicht zu viel zu schaffen haben? Bastian, wo ist das Bier auf? Wenn nur die Bürger ein Einsehen haben und bei der großen Fremdeneinkehr gute Gebräude aufthun und nicht gedenken, die säuerlichen Biere loszuwerden.“

Da nahte ein Mann in langem blauem Mantel, einen mächtigen Hut auf dem Kopfe, trat auf den freien Platz vor der Mühle und schrie nach allen Himmelsrichtungen hin: „Weizenbier ist aufgethan beim Herrn Nicolaus Fischer im großen Christophel.“

„Was, Bierrufer?“ fragte Frau Henningin aus dem Fenster, „der Herr Fischer hat selbst Bier auf?“

„Ja,“ nickte der wichtige Mann, „sein bestes Gebräude hat er aufgethan und gesagt: ,für den morgenden Ehrentag unserer Stadt ist nichts zu gut.’“

Johanne traute ihren Ohren nicht. Auch der Nikel maßte sich an, ihm nahe zu stehen, Freundschaft zu erweisen. Sie allein blieb ausgeschlossen. Und jetzt kam die Muhme Schmidtin athemlos an, wie immer mit Hausschlüssel und Laternchen.

„Daß Gott erbarm! Hat man eine solche Historie je erlebt? Aus dem lumpigen Buben ist ein fürnehmer Glockengießer geworden. Ich sagte es immer: Denkt an mich! aus dem wird noch einmal Etwas! Aber Herr Henning – Gott hab ihn selig! – trug seine spitze Nase zu hoch. Gott verzeih mir die Sünde! Und die Hanne hat ihr Glück verscherzt. Das kommt davon, wenn man immer oben hinaus will.“

„Er wird es uns doch nicht nachtragen?“ klagte Frau Henningin. „Was sollte die Stadt dazu sagen, so er uns nicht beehrte?“

Johanne sah von Einer zur Andern. Und um solchen Geredes willen, dieser armen wandelbaren Menschen wegen hatte sie das brave Herz gekränkt und von sich gestoßen! Die Muhme schlug vor ihrem Blick heimlich ein Kreuz.

Dann fuhr sie fort, auf das Herz der Frau Henningin Sorge zu bürden. „Wenn nur Seine Hochehrwürden morgen nichts versteht bei der Weihe! Sonst bekommt der Teufel Macht über die Glocke und wirft sie beim ersten Läuten zum Thurmfenster hinaus in den nächsten Tümpfel. Dann läutet sie in der Christnacht um zwölf Uhr, und wer sie hört, stirbt in demselben Jahr. Daß Gott erbarm! Wenn sie der Teufel in den Jungfernbrunnen stürzte, und es auch noch hinter Euch spukte, dieweil es schon neben Euch nicht geheuer ist.“

Und so verschien der Tag, und eine sternenhelle Herbstnacht sank herab.

Da kam noch einmal Hermann mit dem älteren Glockengießer, der ihn begleitete, auf den Friedhof und ermahnte die Wachen an der großen Winde und sah nach, ob auch Kirchenpforte und Thurmthür wohl verwahrt seien. Dann sah Hannchen ihn langsam mit dem Anderen von dannen gehen. Nur noch die im Dämmerschein wunderlich wie ein gespenstisches Ungethüm sich gestaltende Winde zeigte sich ihren Augen. Von ihr hing morgen Hermann’s Leben mit ab.

Dem Brauche gemäß mußte der Glockengießer, auf der Glocke stehend, mit himmelan fahren, als einzige Stütze die schwankende Glocke, als einzigen Halt das Glockenseil, als einzigen Beistand seinen Mannesmuth und ein festes Gottvertrauen. Die Geschicklichkeit und die Kenntniß seines Faches allein machten nicht den Meister; er mußte auch ein Mann sein und der Gefahr kühn in das Auge zu sehen vermögen.

Drunten klingelte die Hausthür und die Muhme wandelte eilig den beiden Glockengießern nach. Sie holte sie noch am Weißebach ein. Die Männer wollten sich wohl verkühlen nach der Plage des Tages. Doch also war es nicht beschlossen im Rathe der Muhme.

„Wünsche einen gesegneten Abend! Wer hätte das gedacht? Welche Ehre erlebt die Stadt an Euch, Meister Hermann!“

Hermann gab ihr stumm die Hand. Der Andere aber schwenkte seinen Hut und sprach: „Wie befindet Sie sich, werthe Frau Schmidtin?“

Diese verstauchte sich tief. „Ist mir doch die neue Titulatur im Leibe hinunter gefahren! Das hätte ich nicht gedacht von einem Manne, der nur aus Bittscht gebürtig ist; aber die Welt stehet auf dem Kopf. Danke der gütigen Nachfrage: wohlauf. Und Gesundheit ist immer das Beste. Aber in der Papiermühle sieht es übler aus. Die Mannsleute sind todt, der Aelteste wirft die andere Brut aus dem Nest und setzt sich hinein, die Kinder sind Rangen, die Frau ist schwach wie ein Lappen aus ihrer Lumpenkammer, und die Hanne wird eine alte Jungfer.“

„Die schöne Hanne eine alte Jungfer?“ fragte Eberhard und schaute den jungen Meister mit langem Blick an. Der aber stand mit abgewandtem Gesicht.

„Was sonst?“ lachte die Muhme höhnisch. „Hat sie gehört, als ich ihr sagte: die Freier schüttelt man nicht von den Bäumen? Was hat Fischer’s Nicolaus sich für Mühe gegeben! Was habe ich mit ihrer Mutter auf sie hineingepredigt! Gott bewahre! Bis zum Herrn Superintendenten ist sie gestürmt, worauf dieser der Frau Henningin in der nächsten Beichtrede den Kopf gewaschen hat. Wie viele Andere sind noch abgezogen. Jeglicher mit seinem wohlgeflochtnen Korb, und ich habe von all meiner Mühsal nur Unmutherei gehabt, weiter nichts. Nun geschieht ihr recht für ihre überzwerche Sprödigkeit, daß sie sitzen bleibt. Euch aber, Meister Zimmermann, wünsche ich Glück und Segen zu dem Ehebund mit der Frau Gießerin.“

Eberhard schlug eine wilde Lache auf, daß die Enten, die am Weißebach schliefen, quakend emporfuhren. Selbst die Muhme erschrak.

„Daß Gott erbarm! Ihr brüllt wie ein Wehrwolf. Daran merkt man doch noch, daß Ihr aus Bittscht gebürtig seid. Wünsche den edelgebornen Meistern wohl zu ruhen.“

Sie verstauchte sich, und die Männer gingen nach ihrer Herberge.




In voller Pracht stieg der andere Tag herauf. Zu allen Thoren strömten Landleute herein, welche die Feierlichkeit mit genießen wollten. Auf dem Pfeiferstuhl am Rathhaus blies der Stadtzinkenist am frühen Morgen einen Choral und dann ein lustig Stücklein, und mit wichtiger Miene erzählten sich die frisch gewaschenen und geputzten Kinder, daß zu mehrerer Erlustigung der Rath das große Uhrwerk angelassen habe und Punkt zwölf Uhr das Wappenthier der Stadt, der Adler, der über der Rathhausuhr thronte, sein schwarz-goldenes Gefieder schütteln werde. Die wackeren Bürgers- und Meistersfrauen aber nahmen ihre wohlgerathenen Bretzeln und Kuchen im Backhaus in Empfang und vertrauten dem Ofen dafür den Festbraten an; denn heute wollte keine zu Hause bleiben, sondern jegliche das Aufziehen der Glocke mit ansehen und von der Festpredigt sich auferbauen lassen. Lange bevor zur Kirche geläutet wurde, strömten schon die Andächtigen hinein. Endlich riefen die ehernen Stimmen zum Hause des Herrn. Die drei Glocken schlugen fröhlich an. Noch fehlte eine Mittelstimme. Es klang wie eine Frage: kommst du endlich wieder, dich zu uns zu gesellen?

Die beiden Glockengießer schieden am Kirchenportal mit einem Händedruck. Eberhard nahm seinen Platz an der großen Winde ein. Hermann schritt durch die Pforte. Die Orgel stimmte den Choral an, der Gottesdienst begann. Die Kirche war zum Erdrücken gefüllt. In den Frauenstühlen reihten sich [844] die goldbordirten Kirchenmäntel, die gesteiften Bürgerhauben an einander. Von den Emporen schauten in vierfachen Reihen die runden, vollwangigen Gesichter der Männer herab. Um die Orgel hatte die Schuljugend sich geschaart, die Kolben aufgerieben, die Stumpfnäschen sauber geputzt und half mit hellen Stimmen dem Cantor den Kirchengesang leiten. In den Gängen drängte sich zusammen, was keinen Kirchenstuhl sein Eigenthum nennen durfte: die arme Tagelöhnerin im schwarzen Sergemantel, die Bäuerin in Tuchmieder und bebänderter Mütze.

Der Currendeschüler, der berufen war, das silberne Rauchfaß durch die Kirche zu schwenken, konnte nur um den Altar herum seinen Dienst verrichten. Die Kirchenväter, welche an langen Stangen den rothsammetnen silbergestickten Klingelbeutel herumtrugen, den Pfennig für den Gotteskasten zu heischen, mußten abstehen von ihrem Unternehmen.

In dem braunen Stuhl des einen Seitenschiffes schmiegte Johanne sich scheu an einen grauen Steinpfeiler. Manches Herz hatte wohl dort schon in banger Sorge geklopft, manches Auge war angstvoll zu der hohen Wölbung empor geflogen. In schwererer Pein kein Herz, kein Auge als das ihre. In der Mitte zwischen den Pfeilern, die den Glockenthurm trugen, erschaute sie die Glocke, von einem mächtigen Kranz umschlungen. Die Decke der Kirche war geöffnet, und die starken Seile, an denen die Glocke empor schweben sollte, liefen von der schwindelnden Höhe herab. Sie sah, daß alle Kirchgänger von der Stätte zurück drängten; an dieser Stelle allein war Platz gelassen in der Kirche.

Nur der junge Meister stand dort. Einmal ordnete er noch etwas an den Seilen, einmal noch flog sein Blick hinauf in die Thurmeshöhe, die er in wenigen Minuten durchmessen sollte. Dann sang er ruhig aus dem großen schwarzen Gesangbuch mit der Gemeinde.

Jetzt schwieg die Orgel. Die Priester in schwarzen Ornaten umgaben die Glocke. Der Superintendent erhob die Hände und flehte den Herrn an, daß er das Werk gelingen lassen möge. Dann segnete er die Glocke ein und bei jedem Segensspruche neigte sich die Versammlung; tief beugten sich die Häupter bei dem Zeichen des Kreuzes. Nun sang die Gemeinde einen letzten Vers. Unter den Klängen desselben bestieg Seine Hochehrwürden die Kanzel, um dort das Aufziehen der Glocke abzuwarten.

Das letzte Wort war gesungen. Die Orgel verstummte. Aller Augen wandten sich auf den jungen Meister. Einen Schritt war er vorgetreten; dann bedeckte er das Gesicht mit dem Hut, den er in den gefalteten Händen hielt. Er sprach ein letztes Vaterunser. Das war so Brauch bei jedem ernsten Beginnen. Lautlose Stille lagerte über der Versammlung. Sein leises Amen! tönte bis in den fernsten Winkel.

Jetzt schwang er sich auf die Glocke und gab das Zeichen zum Aufziehen. Die Winde begann zu knarren und zu ächzen, die Seile spannten sich an und langsam erhob sich die Glocke von der Erde. Leise schwebte sie himmelan.

Wie glänzte sie so goldig unter dem frischen grünen Kranze, der im Brunnengarten gepflückt war! Wie ruhig stand der junge Meister auf der schmalen Krone! Die rechte Hand nur hielt das Seil, an dem sein Leben hing, die linke hatte er mit dem Hute kühnlich in die Seite gestemmt. Höher und höher schwebte sie. Der Kreis unten wich angstvoll weiter zurück. Wenn sie stürzte, wollte Niemand mit zerschmettert sein.

Von Zeit zu Zeit tönte ein Commandowort von der Winde – sonst Todtenstille überall.

Die Hände krampfhaft um das Gesangbuch des Großvaters gefaltet, aus dem Hermann so oft vorgelesen hatte, saß Johanne. Ihre Augen hingen an dem Glockengießer. Das bunte Licht der Fenster wob einen Glorienschein um sein Haupt. Die Glocke schwankte leise; aber unbewegt stand er. Mit ruhigem Lächeln und festem Blicke in die Tiefe fuhr er empor. Warum schlug ihr nur das Herz so angstvoll um ihn? Für ihn war es ja die Fahrt auf dem glückhaftigen Schiffe zu Ehre und Wohlhabenheit, dieweil sie einsam dahinwelkte.

Da fiel sein Blick hoch von der Wölbung herab auf sie, in ihre düster starrenden Augen – und plötzlich – es rann ihr eiskalt durch die Adern – schien es, als male sich Bewegung in seinen Mienen. Hielt die Hand nicht mehr fest am Seile? Wollte die Glocke sich drehen? Erblaßte er nicht? Und ohne der wohlanständigen Nachbarin in der vollbürtigen Goldhaube zu achten, ohne daran zu denken, daß ihr Gebühren in der lutherischen Kirche auffällig war, stürzte sie auf den alten durch manchen Kniefall verwischten Grabstein nieder, und ihre Seele schrie zu Gott: „Halte Deine Hand gnädig über ihn, daß er sein Werk vollbringt, und ich will nimmer klagen.“

Auch der Superintendent hatte die Hände gefaltet und betete halblaut. Stoßweise flog ein leises, leises Flüstern über die Versammlung, wie wenn das Laub in der schwülen Luft vor dem Gewitter in sich selbst erbebt.

Jetzt verschwanden Glocke und Meister in der Wölbung des Thurmes. Und wieder lagerte sich Stille über die Gemeinde. Nur die Winde knarrte, die Seile ächzten, und Commandoworte schallten herauf und herab. – Und in heißem Flehen wand Johanne die Hände. „Halte Deine Hand über ihn und gieb ihm all das Glück, das Du mir nimmst.“

Minuten auf Minuten verstrichen in athemloser Spannung.

Da – plötzlich – tönte ein heller Glockenschlag vom Thurme. Noch einer folgte und ein dritter. Das waren die drei Schläge, mit denen der Meister sie einweihte zum Dienste des Herrn.

Das Werk war glücklich vollbracht. Der strenge Schicksalslenker hatte ihr Gelübde angenommen, ihr Gebet erhört. Brausend setzte die Orgel ein, Pauken und Posaunen dröhnten dazwischen; dankerfüllt stimmte die Gemeinde ein: Herr Gott, Dich loben wir! Auch sie wollte ein Dankgebet sprechen. Aber es kamen ihr nur die Worte in den Sinn: Dein Wille geschehe! Das arme Weib, seine Mutter, hatte Recht gehabt: Das war das einzige Gebet, das den armen Erdenwürmern zukam. Sie hörte nicht auf die Predigt; sie sah nicht, wie die Gemeinde eine Gasse bildete, um den Glockengießer noch einmal anzuschauen; sie schlich in ihr Giebelstüblein. Nun hatte sie nichts mehr zu fürchten und zu hoffen.

Da rauschte es noch einmal draußen auf. Er war es; er kam mit dem Herrn Bürgermeister aus der Kirche. Nun ging’s [845] zum Rathsschmause. Doch nein: er blieb stehen. Die Rathmannen gingen grüßend und lächelnd von dannen. Er wandte sich und schritt mit dem andern Glockengießer auf die Papiermühle zu. Sein dankbares Herz führte ihn an die alte Heimstätte, daß sie Zeuge seines Glückes sei. So blieb ihr auch das nicht erspart. Sie mußte ihm Heil und Segen wünschen, dieweil ihr das Herz brach. Sie hatte ja um nichts Anderes gefleht; sie wollte den Leidenskelch austrinken.

Drunten wurden Stimmen laut. Dann ging die Stubenthür. Es kam etwas die Treppe heraufgepoltert. Christel stürzte herein. Athemlos und feierlich zu gleicher Zeit stammelte sie den Befehl der Mutter, in die Stube hinab zu kommen. Zaghaft folgte Johanne.

Drunten waren Alle feierlich an den Wänden aufgestellt. Der Vormund neben dem Vetter Hermann’s hatte eine väterlich würdige Miene aufgesetzt; die Frau Henningin hatte geweint, und die Muhme Schmidtin stand ihr zur Seite mit leiser Rede und ermunterndem Ellenbogenstoße; die jüngeren Geschwister schauten gespannt aus dem Winkel hinter dem Ofen.

Und in der Mitte der Stube stand Hermann. Bei seinem Anblicke stockte Johannens Schritt. Ihre Füße trugen sie nicht weiter. Sie blieb stehen mit gesenkten Wimpern, ergeben gefalteten Händen, und jäh wechselten Röthe und Blässe auf ihrem lieblichen Gesichtchen. Eben hub die neue Glocke ihr Probegeläut an, und begleitet von ihren Klängen begann Hermann mit fester Stimme seine Anrede:

„Liebe Jungfer Johanne Henningin! Es ist Euch unverborgen, welche herzinnige Liebe ich je und allewege zu Euch gehegt; aber nur der liebe Gott weiß, welch schweres Herzeleid ich getragen habe, da ich vermeinte, Euer Herz sei so hart wie die Kieselsteine in der Gera. Diesen Glauben hat am verschienenen Tage Eure liebwerthe Frau Muhme – deren Rede Gott segnen wolle! – gar sehr erschüttert. Als ich nun vorhin zwischen Himmel und Erde hing, hab’ ich wahrgenommen, daß Ihr auf Eure Kniee stürztet in Angst um mich und zu unsrem Vater im Himmel riefet für mich, ob auch die Nachbarinnen und Gefreunde die Köpfe schüttelten und sich anstießen. Diese Anzeichen auf einen Ort gestellt, haben mir kund und zu wissen gethan, daß auch in Eurem Herzen ein Fünklein Liebe für mich verborgen ist, wie das Feuer im Kiesling schläft. Dieweil es mir nun unter Gottes gnädigem Beistand gelungen ist, aus einem armen Hiob ein Meister Glockengießer zu werden, habe ich in Ehren und Züchten, wie sich gebühret, bei Eurer liebwerthen Frau Mutter um Euch geworben, und mit ihrem Verlaub frage ich Euch, ob Ihr sothanen –“

Weiter kam er nicht. Johanne hatte aufgeschaut – einen Blick tauschten Beide – da breitete Hermann die Arme aus, und mit plötzlich gebrochener Stimme rief er: „Ach, liebste Hanne!“

Sie aber flog ihm an die Brust. Fest schlang sie beide Arme um seinen Nacken, und die Augen schließend, legte sie ihr schönes Haupt an sein treues Herz, als ginge sie damit für alle Zeit zur Ruhe. Tiefe Stille waltete in der Stube. Nur die hallende Stimme der Maria Magdalena rief fort und fort über die Stadt hinaus, „daß Gott zu Lob sie klingen kann“.

Endlich besann sich die Muhme Schmidtin auf das Schickliche und löste den Bann der Rührung mit einem wohlgesetzten Glückwunsche auf. Und der stattliche Meister Eberhard erklärte der Henning’schen Sippe, wie Gott noch Alles so wohl gemacht hatte. „Ja,“ schloß er, „da die männliche That meines Vetters das Gesindlein zu Boden warf, der Glücksducaten sich wieder bei ihm einstellte, ebneten sich alle Wege. Er trat als Cumpan in das Geschäft und that mir und der Meisterin eine bewegliche Fürstellung, nach welcher ich dieselbe freite. Nur der Glocken wegen; denn um ihre Kochkunst ist es übel bestellt, und mit Buffbohnen soll sie mir nicht wieder kommen. Die Gießhütte von Möhring’s selig Wittwe aber wollen wir in ihren Ehren wohl erhalten.“

„Das ist eine auserlesen feine Historie!“ rief die Schmidtin. „Die Stadt wird sich baß verwundern, so ich sie ihr verkündige. Aber hiebevor muß ich Dir sagen, Hanne: Du machst Alles nach Deinem Kopf, niemalen wie es Stylum ist. Eine Jungfer muß sich zureden lassen, Bedenkzeit erbitten, nimmermehr einem Manne sich an den Hals werfen.“

„Und,“ stimmte Eberhard ein, „ein Mann darf nicht weichherzig sein. Hermann, woher soll der Respect kommen, wenn Du jede Fürstellung, die Du Deiner Frau machst, damit beschließest, daß Du die Arme ausbreitest und rufest: Liebste Hanne! – Bedenke! Mannshand muß oben bleiben.“

Das junge Paar vernahm nichts. Sie sahen sich in die Augen und flüsterten sich zu. Und Johanne hatte dabei die Hände gefaltet wie Kinder, die Abbitte thun für schweres Vergehen. Da ließen die Andern ab von ihnen. Hatte doch Doctor Luther selbst gesagt: „Man soll Brautleute nicht vexiren, wenn sie auch nimmer müde werden, mit einander heimlich zu reden. Sie haben Briefe über alle Rechte und Gewohnheit.“