Gesundheitliche Winke für Bureauarbeiter und Stubengelehrte

Textdaten
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Autor: A. Kühner
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Titel: Gesundheitliche Winke für Bureauarbeiter und Stubengelehrte
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 18, S. 298–300
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Gesundheitliche Winke für Bureauarbeiter und Stubengelehrte.

Von Dr. A. Kühner.

Die Weisen aller Zeiten haben Arbeit und Mäßigkeit als die bewährtesten Mittel zur Erreichung eines hohen Alters erkannt. In der That ist Müßiggang nicht nur die Quelle aller Laster, sondern auch ein Erzfeind der Gesundheit; denn die lebendigen Kräfte, die der gesunde Körper entfaltet, erheischen Bethätigung, und Organe, die man nicht benutzt, nicht arbeiten läßt, verkümmern, werden schwach und siech. Selbstverständlich muß aber die Arbeit in vernünftiger, den Lebensgesetzen angepaßter Weise geregelt werden; thun wir es nicht, so bringt das Schaffen Schädlichkeiten mit sich, die schließlich auch die stärkste Gesundheit untergraben. Das gilt nicht nur für diejenigen Leute, die im Schweiß ihres Angesichtes durch körperliche Arbeit ihr Brot verdienen, sondern auch für die große Klasse der geistigen Arbeiter, die, während ihr Körper ruht, den Geist anstrengen. Unsere Kulturverhältnisse haben es mit sich gebracht, daß die Zahl der geistigen Arbeiter bedeutend gestiegen ist. Nicht nur die Schar der Gelehrten hat sich vergrößert, auch das Heer der Beamten ist gewachsen; Handel und Gewerbe fesseln Millionen Angestellter an die enge Bureaustube. Alle diese Menschen verrichten keine schweren körperlichen Arbeiten, sie sitzen oder stehen stundenlang an ihrem Schreibtisch und arbeiten vornehmlich mit dem Gehirn. Niemand behauptet heute, daß diese Arbeit eine „leichte“ wäre; die Erfahrung hat zur Genüge gelehrt, daß das Uebermaß geistiger Leistung aufreibend, zerrüttend auf den Körper einzuwirken vermag, und die medizinische Statistik zeigt, daß unter den geistigen Berufsarbeitern gewisse Nerven- und Gehirnkrankheiten, Geistesstörungen, Selbstmord zehnmal mehr Verwüstungen anrichten, als auf Rechnung der Professionen mit körperlicher Beschäftigung zu setzen ist. Es erscheint darum als eine wichtige Aufgabe der Aerzte, diesen Schattenseiten unseres Kulturlebens entgegenzutreten und der großen Anzahl der geistigen Arbeiter Ratschläge zu erteilen, wie sie die Schädlichkeiten ihrer Berufsthätigkeit nach Möglichkeit verringern können.

Schwierig ist es allerdings, für alle diese Menschen allgemein gültige Verhaltungsmaßregeln aufzustellen. Die geistige Leistung läßt sich nicht so genau abmessen und in Zahlen ausdrücken, wie dies bei der körperlichen der Fall ist. Wir wissen nicht, wie viel Stoff ein Gedanke im Gehirn verbraucht, welchen Ersatz wir für diese Ausgabe an Kraft dem Körper bieten müssen. Dabei ist das Maß geistiger Leistungsfähigkeit von den persönlichen Anlagen des Einzelnen abhängig. Spielend löst der eine die schwierige Aufgabe, welche dem andern Kopfzerbrechen und Müdigkeit bereitet; mit Lust und Freude füllt ein mit passender Begabung ausgerüsteter Mann eine Stellung aus, in der sein Vorgänger sich aufgerieben hat. Alltäglich können wir solche Erfahrungen machen und sie belehren uns, daß ein allgemein gültiges Maß geistiger Leistungsfähigkeit nicht gefunden werden kann, daß der Einzelne seine Kräfte selber prüfen muß, daß die Grenze der geistigen Ueberanstrengung für einzelne Menschen in verschiedenen Höhen gelegen ist.

Aber selbst das geschickteste Genie kann mit der Fülle der geistigen Kraft, die ihm zu Gebote steht, Mißbrauch treiben, und dann treten auch bei ihm die schädlichen Folgen der Ueberanstrengung ein. Niemals soll diese Grenze der geistigen Leistungsfähigkeit auf die Dauer überschritten werden! In der Erfüllung seines Berufs soll der Mensch Freude und Genugthuung empfinden, die Arbeit soll für ihn ein Lebensreiz, eine Quelle der Erstarkung bilden! Darum sind auch Unlustgefühle, Abspannung, Benommenheit, die sich zunächst leise, fast unmerkbar einstellen, Warnungszeichen, die dem geistigen Arbeiter melden, daß er seine Kräfte übermäßig angestrengt hat.

Wir müssen also bestrebt sein, den Eintritt dieser Erschlaffung zu verzögern, und sobald sie fühlbar wird, dem Geiste Ruhe und Erholung bieten. Wie dies durch passende Wahl des Berufes, durch weise Mäßigung in Uebernahme von Aufgaben, die für die vorhandenen Kräfte zu hoch sind, erreicht werden kann, soll hier nicht erörtert werden. Vergessen soll man aber nicht, daß eine gute Lebensmoral, eine frohe Lebensphilosophie einen der beachtenswertesten Grundpfeiler für die Hygieine der geistigen Arbeit bildet. Vom ärztlichen Standpunkte möchten wir vielmehr unsern Lesern einige Lehren über die gesundheitsgemäße Art geistigen Arbeitens erteilen, ihnen zeigen, wie man geistig schaffen kann, indem man das Gehirn schont. Denn stets müssen wir uns vergegenwärtigen, daß jede geistige Leistung mit körperlichen Vorgängen innig verbunden ist. Vielfache Beobachtungen an Menschen und Tieren haben ergeben, daß an der Oberfläche des Gehirns bei einem Erwachsenen in der Zahl von etwa fünf Millionen verbreitete mikroskopisch kleine Gebilde, sogen. Ganglienzellen, die großartige geistige Werkstätte bilden. Es unterliegt ferner keinem Zweifel, daß die verschiedenen Arten geistiger Leistung: Empfindung, Denken, Handeln, auf verschiedenen Bahnen und Verbindungen jener Zellen zu stande kommen, so daß das Gehirn als eine Stätte betrachtet werden kann, innerhalb welcher ein feines, viel verzweigtes Telegraphennetz sich verbreitet. Aus dieser Vorstellung erwächst die wichtige Weisung, daß nicht nur Ruhe für geistige Arbeit erwünschte Erholung gewähre, sondern daß dem angestrengten Denker für die ersehnte Ruhe eine Ablenkung der Gedanken notwendig ist. Geistesthätigkeit, in eine andere Bahn gelenkt, in eine andere Richtung geleitet, vermag bis zu einem gewissen Grade die Ruhe zu ersetzen. Jedermann weiß, daß eine noch so interessante Rede oder musikalische, theatralische Aufführung, wenn sie stundenlang andauert, den Zuhörer ungemein ermüdet, während ein Wechsel der Beschäftigung den betreffenden in Anspruch genommenen Gehirnbahnen eine Erholung gewährt. Diese ruhen, während andere in Thätigkeit treten, eine Lehre, die Voltaire ausnutzte, in dessen Arbeitszimmer fünf Pulte mit verschiedenen begonnenen Arbeiten standen, zwischen denen er wechselte.

Das Hinübergreifen innerhalb der centralen Werkstätte von einer Bahn auf die andere bietet bisweilen nicht geringe Schwierigkeiten. Das Unterbrechen einer gelehrten Arbeit gelingt nicht so leicht, wie dies bei einer körperlichen der Fall ist. Man kann das Buch weglegen, den Schreibtisch verlassen, aber nur langsam und allmählich kann man dem Gedankenspiel entrinnen, in das man sich vertieft hat. Diese Fertigkeit muß erlernt werden; sie zu erlernen, das Denken durch irgend eine poetische oder selbst prosaische Zwischenbeschäftigung zu unterbrechen, muß eine Hauptaufgabe des Stubengelehrten bilden. Der Bureauarbeiter ist in der Wahl des Arbeitsstoffes mehr beschränkt, das Arbeitspensum wird ihm zugetheilt oder durch den Geschäftsgang bestimmt; immerhin ist auch er oft in der Lage, eine Abwechslung in der Art der Beschäftigung herbeizuführen, und soll davon öfter Gebrauch machen.

Von großer Bedeutung für die Gesundheit des geistigen Arbeiters ist weiter, daß die geistige Centralstation des Gehirns in Verbindung steht mit unzähligen Endstationen, von denen jeder Eindruck, die leiseste Störung, der geringste Schmerz, selbst eine Unbehaglichkeit, ein unbestimmtes Uebelbefinden, dessen Begründung sich erst herausstellen soll, nach dem Centrum gemeldet wird. Dieses großartige, uns in seinem vielgestaltigen, verwickelten, wunderbaren Mechanismus nur zum Teil erschlossene Telegraphennetz, dessen Fäden jede Provinz unseres Organismus durchziehen, leitet nicht nur in Form der sogenannten Empfindungsnerven gewisse Eindrücke von außen zum Gehirn. Dieser Nervenapparat sendet vielmehr auf der Bahn der Bewegungsnerven auch gewisse Antriebe nach außen. Selbst das reine ruhige Denken ruft gewisse Veränderungen in körperlichen Vorgängen hervor, beeinflußt Herzschlag, Atmung, ist nicht gleichgültig für Aufnahme von Speise und Trank, Verdauung und Absonderung.

Diese Bahnen, welche von und zu der geistigen Werkstätte verlaufen, bilden für diese ein mächtiges Ableitungsgebiet, dessen Bethätigung wir beherrschen, nach Belieben steigern oder herabsetzen können. Wenn man bedenkt, daß zahllose feine Aeste der Empfindungsnerven sich in der uns umgebenden Haut verzweigen, wenn man die eigentümlichen Empfindungen des Angenehmen und Wohlbehagens, die geistige Erfrischung und Umänderung ermißt, welche durch die verschiedenen Anwendungsformen des Wassers, nach einem Spaziergang, insbesondere bei regnerischem, stürmischem Wetter, nach Wärmeverlusten oder Wärmezufuhr bedingt [299] werden, so wird es begreiflich, daß eine geeignete Pflege der Haut und der sich in ihr verbreitenden Gefühlsnerven von großer Wichtigkeit für geistiges und körperliches Wohlbefinden ist. Luft und Wasser, die bei ungeeigneter Einwirkung uns feindlich gegenübertreten, müssen in ihrer gehörigen Verwendung die besten Freunde des an die Stube gefesselten geistigen Arbeiters sein und bleiben.

Noch wichtiger für das geistige Leben sind dessen Beziehungen zu den Bewegungsnerven. Dem Stubenmenschen drohen in dieser Beziehung gewisse Nachteile der sitzenden Lebensweise überhaupt. Unvollkommenes Atmen, verlangsamte Herzthätigkeit mit allen ihren schädlichen Folgen für Blutbewegung und Blutverteilung in den verschiedensten Organen, namentlich des Unterleibs, kommen hier in Betracht. Geistige Ueberanstrengungen steigern diese Gefahren. Geordnete Körperbewegung trägt am sichersten dazu bei, jene Nachteile geistiger Arbeit zu begleichen und Gesundheitsbeschädigungen vorzubeugen. Wer hätte nicht an sich selbst nach ausgiebiger Körperbewegung das Gefühl von Wohlbehagen erfahren, die Schaffenslust, den leichten Fluß der Gedanken, die geistige Frische, Erquickung und Erstarkung! Die Art der Körperbewegung kann sehr verschieden und wird dem Einzelfall anzupassen sein. In erster Linie gehören hierher das Gehen, namentlich Bergsteigen, das Schwimmen, sowie insbesondere gewisse Freiübungen in Form der Zimmergymnastik. Des weiteren sind sehr geeignet Bewegungen unter Benützung besonderer Hilfsmittel oder mechanischer Vorrichtungen, das Reiten, Turnen, Schlittschuhlaufen, Rudern, Radfahren. Unter allen Umständen ist es von großem Wert, einzelne gymnastische Uebungen nach angespannter Gehirnarbeit einzuschieben. Gute gangbare Bücher enthalten in Menge Belehrungen über die allgemeinen Regeln für den Betrieb der Hausgymnastik bezüglich der Zeit der Vornahme, der Dauer, Regelmäßigkeit der Uebungen und anderer hierbei in Betracht zu ziehender Umstände. Selbstverständlich darf auch die körperliche Uebung nicht bis zur Uebermüdung getrieben werden, oder unmittelbar vor geistiger Beschäftigung stattfinden.

Sowie eine abwechselnde Uebung der geistigen und körperlichen Kräfte eine unerläßliche Bedingung zum Erhalten der Gesundheit, ebenso ist Abwechslung bei allen Körperbewegungen von größter Wichtigkeit, wenn solche den Zweck erfüllen sollen, der beabsichtigt wird. Für alle Einflüsse, die auf den Menschen wirken, gilt das Gesetz der Angewöhnung. Derselbe Lebensreiz, welcher in einem Fall eine entschieden günstige und – ungünstige Wirkung entfaltet, bleibt bei öfterer Wiederholung ohne wesentliche Wirkung, ist oft von ganz geringem Erfolg. Uebung kommt hier namentlich in Betracht. Besteigen wir eine bestimmte Anhöhe, einen Turm, so erreichen die Wirkungen der Körperbewegung auf Atmung, Blutumlauf, Muskelanstrengung, Ermüdung, Absonderung etc. einen gewissen Grad, der bei häufiger und gewohnter Uebung weit geringer ausfällt, oder der beabsichtigte Erfolg bleibt bei fortgesetzter Gewohnheit gänzlich aus. Der Stubengelehrte oder Bureauarbeiter kann diesem Gesetz durch geeignete Auswahl und Abwechslung der Körperbewegungen entsprechen.

Ein weiteres Gesetz ist ganz neuerdings von Lagrange in einem hochinteressanten wissenschaftlichen Werk erwiesen worden. Nach diesem läßt sich im allgemeinen sagen, daß der Mensch vom vierzigsten Jahre an sich aller körperlichen Uebungen, welche Atemlosigkeit herbeiführen, enthalten und sich dafür den Ausdauerübungen zuwenden soll, für welche er noch vollkommen befähigt ist. Pferde, die nicht mehr an Wettrennen teilnehmen können, sind noch viele Jahre für langsamere Gangarten zu gebrauchen. Auch der Mensch kann bis ins späte Alter stundenlang ganz erhebliche körperliche Arbeit leisten, vorausgesetzt, daß dieselbe mit einer gewissen Langsamkeit ausgeführt werde. Unter den besten Bergführern befinden sich Leute, welche fast das sechzigste Jahr erreicht haben und im Steigen die jüngsten Touristen übertreffen. Aber es ist auch allgemein bekannt, daß die erfahrensten unter ihnen sehr langsam steigen, und daß unter dieser Bedingung ihre Leistungsfähigkeit eine außerordentliche ist. Sie vermeiden durch ihr langsames Gehen die übermäßige Beschleunigung des Pulses und Belastung der Herzthätigkeit. Lagrange konnte in dieser Beziehung sehr lehrreiche Beobachtungen machen während des Krieges von 1870/71, als man in Frankreich überall Reserve-Nationalgarden errichtete, in welche Leute von verschiedensten Altersstufen eintraten. Es befanden sich darunter viele Vierziger, welche indes bei den längsten Uebungsmärschen nicht hinter ihren jüngeren Gefährten zurückblicken, im allgemeinen sogar eine größere Ausdauer bewiesen. Dies änderte sich jedoch bezüglich der Schnelligkeitsübungen. Der „Laufschritt“ war der Schrecken der vom besten Willen beseelten Alten. Schon nach wenigen Minuten traten sie aus den Reihen, erschöpft und atemlos, während die Jugend die Laufübung noch lange Zeit ohne Ätembeschwerden fortsetzte. Es ereigneten sich bei diesen Uebungen sogar schwere Unfälle, wenn die befehlenden Offiziere im Uebereifer ihre Leute zwangen, trotz Atemlosigkeit die rasche Gangart fortzusetzen. Unfälle ähnlicher Art werden von den Tagesblättern häufig gemeldet.

In größeren Städten bietet sich immer mehr Gelegenheit, in vortrefflich eingerichteten medico-mechanischen Instituten an der Hand von Apparaten und unter Ueberwachung von Aerzten geeignete Körperübungen vorzunehmen, um geistige Anstrengungen zu begleichen.

Eine sehr förderliche und wichtige Folgeerscheinung der Bethätigung der Bewegungsnerven und der ihr folgenden Muskelübungen ist ein gesunder ruhiger stärkender Schlaf, der seinerseits einen ungemein günstigen Einfluß aus das gesamte körperliche Befinden und mit ihm auf die Energie des geistigen Lebens ausübt. Wenn Uebungen der Bewegungsnerven ebenso wie der Gefühlsnerven gewissermaßen das Gegengewicht bilden, um den ruhigen Fortgang geistiger Arbeit zu begleichen, so ist der Schlaf die Spannkraft, die das Ganze in Gang bringt und hält. Ausgiebiger Schlaf muß der treueste Freund eines jeden sein, der geistig arbeitet, denn im Schlaf ruht das Gehirn und andauernde Schlaflosigkeit ruft in diesem hochwichtigen Organe die schlimmsten Verwüstungen hervor.

Um einen angemessenen Wechsel zwischen geistiger und körperlicher Thätigkeit einerseits, sowie Schlaf auf der andern Seite zu erzielen, ist eine geeignete Wahl der Zeit zum Schlaf von nicht geringem Einfluß. Diese Wahl in ihrer Ausführung wirkt begünstigend oder störend. Es ist durchaus nicht ein Zufall, wenn in dem tierischen Leben zumeist das Wachen mit der Tageszeit, das Schlafen aber mit der Nacht zusammenfällt. Was die Nacht im ganzen Erdenleben, das bedeutet der Schlaf beim Einzelnen, gleichwie im Gegensatz hierzu der Tag der großen Natur auch für die tierischen Wesen die Zeit des Wachens ist. Dieser Wechsel der Vorgänge bei allen Geschöpfen und in der Schöpfung überhaupt, der Zusammenhang des Schlafes mit der Achsendrehung der Erde bedingt ein inniges Abhängigkeitsverhältnis von: Nervensystem zum Sonnensystem insgemein. Die Spannkraft der Jugend mag die Nacht zum Tag, den Tag zur Nacht vielleicht ohne auffällige Nachteile machen. Mit zunehmendem Alter, erwächst die Erfahrung, daß jene naturgemäße Ordnung sich nicht so leicht durchbrechen läßt, sowie, daß, wenn sie durchbrochen wird, nachteilige Folgen namentlich auch für einen heilsamen Schlaf unausbleiblich sind.

Aus diesen Betrachtungen erhellt, daß nur durch naturgemäße Mittel eine nach geistiger Berufsthätigkeit eintretende Ermüdung wirksam und ohne Gesundheitsschädigung beglichen werden kann. Der geistige Arbeiter hat sich vor allem jedes Reizmittels zu enthalten, das dazu dienen soll, die verlorene Spannkraft oder die erschütterte Gemütsruhe wieder herzustellen. Alle Reizmittel, so mannigfach sie auch sonst wirken mögen, stimmen darin überein, daß sie das Nervensystem befähigen, mehr zu leisten, beziehungsweise zu erdulden, als die gewöhnliche Lebensweise zu leisten vermag. Der Kulturmensch hat es verstanden, sich eine Menge von Stoffen für den Genuß dienstbar zu machen, Lebensreize, welche, am rechten Ort, zu rechter Zeit und in richtigem Maße verwendet, manches Gute äußern, aber bei unzeitiger und unmäßiger Anwendung nur zu leicht die nachteiligsten Wirkungen hervorbringen. Beim geistigen Arbeiter finden in zweifacher Weise derartige Reizmittel eine Verwendung, als Arbeitsmittel und als Schlafmittel. Da jedoch die durch den Genuß derselben, in welcher Form sie auch gebraucht werden mögen, bewirkte Erregung immer kürzer anhält, je fortgesetzter der Gebrauch ist, und da die zunehmende Erschöpfung des Nervensystems immer stärkerer Reizmittel bedarf, so werden durch deren gewohnheitsmäßigen Genuß leicht die verderblichsten Folgen für Körper und Geist hervorgerufen. Dies gilt vor allem von dem Alkohol und gewissen Betäubungsmitteln. Wer nach anstrengender Geistesarbeit den Gedankenfluß stocken, das Urteil ermatten fühlt, sollte daraus entnehmen, daß er die Zinsen [300] seines Kapitals an Nervenkraft verbraucht hat und nun der Erholung, Ablenkung, Ruhe oder des Schlafes, kurz, naturgemäßer Mittel bedarf, um den Zinsverlust zu decken. Nimmt er so lange und so viel Reizmittel, bis er die volle Frische, vielleicht noch belebt durch das trügerische Gefühl einer behaglichen Angeregtheit, wieder erlangt hat, so lebt er vom Kapital der Nerven. Ein solches Kapital, eine gewisse Summe von Nervenkräften, groß oder klein, bringt jeder Mensch mit sich, als ererbt von seinen Eltern und Voreltern. Mit diesem Kapital muß er wirtschaften das ganze Leben hindurch. Er kann es vermehren und vergrößern durch Einnahmequellen kleiner und größerer, aber sämtlich natürlicher Art, wie wir sie vorgezeichnet. Er kann es verkleinern, ja erschöpfen durch Ausgaben künstlicher Art. Wer mehr von seinen Nervenkräften ausgiebt, als er einnimmt, der ist auf der schiefen Ebene angelangt, die zur Erschöpfung führt, und wer seine Nervenkräfte dauernd erschöpft, der ist bankerott, und wenn er auch ein Millionär wäre.

Die besten Genuß- und Stärkungsmittel für geistig arbeitende und mehr oder weniger an die sitzende Lebensweise gebundene Menschen sind geeignete Nahrungsmittel. Angestrengtes Denken, selbst die geistigen Genüsse bewirken ebensosehr Ermüdung, erfordern ebenso reichlich die Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses wie körperliche Arbeit. Nur muß dieselbe in zweckmäßiger Weise erfolgen. Als man einen berühmten englischen Dichter fragte, warum er nichts mehr schaffe, antwortete er: „Ich bin zu fett geworden.“ Dies giebt uns eine Lehre. Wir müssen unsere Einnahme von Nahrung mit unseren Ausgaben vor allem an Körperbewegung in Einklang bringen, wenn nicht ein für geistige und – körperliche Leistung, für geistiges und körperliches Wohlbefinden nachteiliger Ueberschuß sich in unserem Körper anhäufen soll. Darum sind für den Stubenhocker die leicht verdaulichen Nährmittel empfehlenswert. Gut ausgebackenes Brot, die leichteren und fettärmeren Fleischspeisen, vermischt mit den an Nährsalzen reichen und leicht bekömmlichen jungen Wurzel- und Stengelgemüsen, sind angestrengten Denkern zuträglich, während fettes Fleisch, fette Mehlspeisen, schweres, an Kleie reiches Brot ihm weniger dienlich sind und von ihm weniger gut vertragen werden. Zusatz von Früchten, Kompott ist sehr zu empfehlen. Man hüte sich vor künstlichen Reizmitteln bei träger Verdauung. Natur verlangt nur Natur.