Geschichten aus der Geschichte

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Autor: Friedrich Hofmann
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Titel: Geschichten aus der Geschichte
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aus: Die Gartenlaube, Heft 15, 16, 25, S. 255–257, 275–278, 412–416
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Geschichten aus der Geschichte.


1. „Sie maintenirte ihren Posten“.


Anfang des Wasunger Kriegs.
Originalzeichnung von A. Langhammer.

I. Der Hofkrieg.

An einem schönen Octobertag des Jahres 1746 nach Christi Geburt ereignete sich im Vorzimmer zum Speisesaal des herzoglichen Residenzschlosses Elisabethenburg in Meiningen etwas so Ungeheuerliches, daß darob zwei Frauenköpfe in Brand geriethen und einen Reichs-Executionskrieg entzündeten, dessen Flammen erst ein Friedrich der Große von Preußen völlig zu löschen vermochte.

Es war für den gesammten Hofstaat ein hochwichtiger Augenblick, denn man versammelte sich zur Feier des Geburtstages [256] einer kleinen Prinzessin des Fürstenhauses und harrte so eben auf die Eröffnung des erhabensten Festactes, der Festtafel. Nun galt es seit Decennien als unantastbares Gebot des Ceremoniels, daß von allen Damen des Hofes nach den Prinzessinnen die Frau Landjägermeisterin Christiane Auguste von Gleichen den ersten Rang einnahm. Hatte doch selbst der Herr von Buttlar, als er vom Stallmeister zum Oberstallmeister avancirt war, für sich und seine Gemahlin vergeblich den Rang über Landjägermeisters einzunehmen gestrebt: die Frau von Gleichen behauptete ihren Platz, sie „maintenirte ihren Posten“, wie sie sich ausdrückte, und selbst der regierende Herzog, welcher außerhalb des Landes residirte, ließ es beim Alten bewenden. Der Herr von Buttlar aber kochte Rache, und schon heute gewährte sein Nebenamt als „Hof-Stabs-Commandant“ ihm die Genugthuung, dieselbe auf das Glänzendste auszuüben.

Schon stand im Saale die Festmahlzeit auf dem Tisch und der zum Gebet befohlene Page bereit, da trat der Herr Oberstallmeister von Buttlar als Hof-Stabs-Commandant mit dienstwonnigster Grandezza vor Frau von Gleichen hin, und mit der Stimme der triumphirenden Unterthänigkeit verkündete er ihr das Unglaubliche:

„Serenissimus haben befohlen, daß die Frau von Pfaffenrath den Rang vor allen Damens haben solle.“

Blieb auch unbegreiflicher Weise die Welt stehen vor diesem Gräuel, so stand doch eine Gestalt wie von einem Blitz getroffen da, dessen Feuer ihr aus den Augen sprühte, sodaß der Herr Hof-Stabs-Commandant erschrocken davor zurückwich. Ja, mit frisurerschütternder Energie protestirte die Frau Landjägermeisterin sofort gegen diesen Frevel an ihrer „Honneur“ und versuchte spornstreichs durch die in diesem Augenblick sich öffnende Thür zuerst in den Saal zu dringen. Aber teufelische List hatte sich gegen sie verschworen. Längst zum Sprunge bereit stand Frau von Pfaffenrath vor dem Thürspalt, und sobald die Flügel auseinanderschlugen, schlüpfte sie hinein, und Frau von Gleichen betrat wirklich erst als die Zweite den Festraum.

Das Entsetzliche ist geschehen. Die Säule heiliger Ordnung liegt im Staube. Eris schüttelt ihre Schlangen, – denn mit diesem Ereigniß stehen wir am Anfang des Wasunger Kriegs. – Soll ich schildern, mit welcher Andacht beide „Damens“ dem Gebete des Pagen gelauscht und mit welchen Gefühlen sie die Freuden der Festtafel genossen? Ich beichte vor aller Welt: Das ist mir zu schwer! Steht mir doch außerdem im Schildern noch fast Unbeschreibliches bevor, zumal die Frau Landjägermeisterin nach aufgehobener Tafel es nicht versäumte, die Erste an der Thür zu sein und wenigstens beim Ausgang aus dem Saale ihren „Posten“ als erste Dame des Hofs zu „mainteniren“. Diese kühne That war jedoch Missethat gegen „Serenissimum“. Frau von Gleichen war mit diesem Augenblick eine Majestätsbeleidigerin geworden, und die hochfürstliche Ungnade brach sofort über sie und über ihren Gemahl, den ganz unschuldigen Landjägermeister, furchtbar und unerbittlich herein.

War der Zorn des regierenden Herrn Herzogs, der in dieser großen Zeit zu Frankfurt am Main wohnte, nicht ein gerechter? War nicht wirklich die jüngere Schwester der Frau von Pfaffenrath eine hübsche Erscheinung, und wenn der liebreiche Mund derselben die unterthänigste Bitte vorbrachte, daß Durchlaucht gnädigst geruhen möchten, der Schwester um ihrer gräflichen Abstammung willen den ersten Damen-Rang am Meininger Hofe zu verleihen, – durfte der ritterliche Fürst eine solche Bitte abschlagen?

Allerdings kann nicht verborgen bleiben, daß besagte Meininger Schwester, als sie noch als Comtesse Wilhelmine Amalie von Solms-Lich bei den hochgräflichen Eltern auf Hohen-Solms lebte, sich in einen Diener des Hauses, den Messerschmiedssohn Justus Hermann Pfaffenrath, der als gräflicher Hofmeister und Secretär fungirte, ernstlichst verliebt hatte; – aber ist denn Lieben ein Verbrechen? Die Festigkeit dieser Liebe mußte sogar das höchste Wohlgefallen des Herzogs erregen, der ebenfalls, dem frivol-fürstlichen Grundsatz, daß es standesgemäßer sei, ein Dutzend edle Bürgermädchen zu Maitressen zu erniedrigen, als eine Bürgerliche zur Gemahlin zu erheben, schnurgerade entgegen, selbst eine Bürgerliche treu und ehrlich geheirathet hatte.[1] Als daher die junge Comtesse dem 1743 von Hohen-Solms vertriebenen Pfaffenrath unerschütterlich treu geblieben, sogar, nach ihres Vaters Tode, dem Flüchtling in hochromantischer Irrfahrt, „ziemlich abgerissen, nur mit einer Contouche bekleidet“ gen Wien nachgefolgt und schließlich, von der gerührten Mutter gesegnet, zu Oedenburg in Ungarn im Mai 1746 durch einen evangelischen Geistlichen mit ihm ehelich verbunden und Pfaffenrath noch obendrein geadelt war, nahm der Herzog sich des Paares an, ernannte den nunmehrigen Herrn von Pfaffenrath zum Hof- und Regierungsrath in Meiningen und gestattete der Gemahlin desselben den Hofrang nach ihrem Geburtsrang.

Für unsern beschränkten Unterthanenverstand wäre damit Alles in der Ordnung gewesen. Anders aber gestaltet in des Adels Häuptern sich die Welt. Frau von Gleichen, die ihr Leben lang „niemalen sensibler gewesen, als mit dem point d’honneur“, unterwand sich, selbst gegen den Herzog unerschrocken zu protestiren und ihren Posten zu mainteniren, erwirkte aber nichts als das höchste Rescriptum: „daß denen hoffärthigen und geschwülsichtigen Damen bedeutet werden solle, der Frau von Pfaffenrath ohne Anstand den Rang zu geben oder den Hof zu meiden.“

Den Hof zu meiden! Wer ermißt, was Das für eine alte Hofdame bedeutet? Athmen ohne Lebensluft. Und doch vermochte die tapfere Landjägermeisterin auch dies über sich zu bringen. Aber nun war das Rachekochen an ihr. Die voreheliche Romantik der Frau von Pfaffenrath wurde von einem alten Freunde der Frau von Gleichen einer ungeschminkten Schilderung unterzogen und von dieser gewissenhaft verbreitet, um ihren blanken Ehrenschild neben dem beschmutzten der „Pfaffenräthin“ aller Welt zu zeigen. Sie ahnte nicht, daß dieses „Pasquill oder libellum famosum“, als welches es dem Herzog zugesandt worden, ihr und des Landes schwarzes Verhängniß nur beschleunigte. Am letzten November dieses schicksalreichen Jahres wurde das alte Gleichen’sche Ehepaar zur Verantwortung vor die herzogliche Regierung geführt. Hier traf die Frau von Gleichen der herzogliche Befehl, sofort zur Pfaffenräthin zu gehen und derselben knieend und fußfällig Abbitte zu thun. Weil aber die selbstbewußte Frau, eher zum Tode entschlossen, sich dieses Schrittes weigerte und ihr Mann sie nicht dazu zu bewegen vermochte, so wurde dieser in ein ungesundes Gefängniß, das „Rosenthal“, eingesperrt, jene aber auf dem Rathhaus in Arrest gesetzt und dem täglichen Zuspruch der Geistlichen überliefert, die ihr das in Trotz verhärtete Gemüth erweichen sollten. Dies geschah ebenso eifrig als vergeblich; sogar ein Arzt, Dr. Koch, wurde den Herren Pfarrern zu Hülfe geschickt, aber auch jeden seiner Angriffe schlug die tapfere Frau zurück, ja es regte der landjägermeisterliche Geist sich so heftig in ihr, daß sie betheuerte: sie werde sich eher eine Kugel vor den Kopf schießen, als die ihr angesonnene Infamie begehen. Auf diese Rede hin erklärte der Herr Doctor sie kurzweg für verrückt. Offenbar dieser Diagnose zu Ehren wurden der Gefangenen zwei Mann Wache in’s Zimmer gestellt, Gabel, Messer und Scheere als zu gefährliche Waffen weggenommen und die Speisen gleich zugeschnitten gereicht. Diese Maßregel dauerte zwar nur vierundzwanzig Stunden, aber immerhin bewies sie, daß der Doctor besser, als die Geistlichen, es verstanden hatte, auch die „honneur“ seines Standes „zu mainteniren“.

Hatte Frau von Gleichen immer noch gehofft, daß der Herzog ihrer schriftlich eingereichten Bitte willfahren und ihr gestatten werde: „um ihre Ehre zu conserviren, ihre Defension gegen die Pfaffenräthin führen zu dürfen“, so mußte sie nun das Gegentheil erfahren. Der Herzog bestand nicht nur auf der „knieenden und fußfälligen Abbitte“, sondern er fügte die Drohung hinzu: „wofern dies nicht geschehe, solle ihr ein terribler Schimpf widerfahren, daß sie auf ewig prostituirt wäre“.

Wäre ich gewohnt, mit dem Hute auf dem Kopfe zu schreiben, jetzt nähme ich ihn herunter, denn alle Achtung verdient eine Frau, deren „point d’honneur“ selbst vor einer so fürchterlichen Drohung unerschüttert bleibt. Noch zweimal wurde das treue Ehepaar vor die Regierungsräthe geführt, noch zweimal vernahmen diese das standhafte „Non possumus“ desselben, dann [257] kam der Tag, wo die volle Schale des durchlauchtigsten Zornes sich über die Frau Landjägermeisterin allein und in einer Weise ergoß, daß ich’s bedaure, die Berichterstattung darüber als gewissenhafter Geschichtenschreiber nicht vermeiden zu können.

Am letzten Tage des Jahres war die Frau von Gleichen wiederum vor die Regierung geführt und dort abermals aufgefordert worden, das herzogliche Gebot zu erfüllen. Jedenfalls hatte der Scharfsinn der Herren Regierungsräthe die Antwort der Frau Landjägermeisterin vorausgesehen, denn kaum hatte sie ihre nochmalige Weigerung ausgesprochen, als eine fürstliche Kutsche vorfuhr, in welche die Gefangene mit Gewalt gebracht wurde; vier „Commandirte“ begleiteten sie und führten sie vor die Pfaffenräthische Wohnung. Hier sollte sie aussteigen, und da sie auch dies verweigerte, so wurde sie von zwei Musketieren aus dem Wagen gezogen, die Treppe hinauf in die Stube der Frau von Pfaffenrath getragen und hier auf einen Stuhl gesetzt. Auch die Herren Räthe waren bereits da; sie wiederholten Auftrag und Drohung ihres fürstlichen Herrn genau wie vorher auf der Regierung und erhielten genau dieselbe Antwort, doch fügte diesmal Frau von Gleichen hinzu: „Wenn die Frau von Pfaffenrath sich als unschuldig legitimiren kann, so will ich es aller Welt kund machen, eher aber durchaus nicht abbitten.“

Nach diesem Bescheide wurde die Frau Landjägermeisterin auf Befehl der Herren Räthe von den Musketieren wieder aus der Stube und in die fürstliche Kutsche hineingetragen, worauf die Fahrt weiter, und zwar bis auf die Mitte des Marktplatzes ging. Hatte man die Procedur, welche die Welt nun erleben sollte, absichtlich für einen Wochenmarkttag aufgespart, um für das seltsame Schauspiel eines ausgiebigen Publicums sicher zu sein? Die Kutsche fuhr in einen großen, von Soldaten geschlossenen Kreis, in welchem außerdem sich nur zwei Personen befanden. Die eine derselben war der Landrichter, welcher der Frau von Gleichen auszusteigen und, weil sie das verweigerte, sich wenigstens in den Schlag zu setzen befahl, was sie auch that, worauf er ein fürstliches Mandat ablas, kraft dessen das Pasquill auf die Frau von Pfaffenrath, weilen es nur Unwahrheit enthalte, durch den Schinder öffentlich verbrannt werden sollte. Die andere Person des Kreises war der Schinder, der das Papier sogleich in Empfang nahm, um es den vernichtenden Flammen zu übergeben. Dies Alles geschah so nahe an der Kutsche, daß die Kleider der Frau von Gleichen fast Feuer gefangen hätten. Dabei ereignete sich noch ein „curiöser Vorfall“. Man wird zugestehen müssen, daß an der exemplarischen Bestrafung der Frau Landjägermeisterin, nach der Frau von Pfaffenrath, Niemand mehr Interesse zu nehmen hatte, als der Herr Oberstallmeister und Hof-Stabs-Commandant von Buttlar. Diesem vollkommen entsprechend bog er in seinem Hause am Markte sich nach seiner Möglichkeit zum Fenster heraus, und da fügte es ein bedeutsamer Windzug, daß ein Fetzen des brennenden Papiers in die Höhe flog und sich in der Luft herumdrehte, bis er gerade vor dem Fenster niedersank, wo Herr von Buttlar herauslag – „welches sehr viele Leute gesehen und besondere remarques darüber gemachet“ – wie Frau von Gleichen selbst schriftlich hinterlassen hat.

Nach diesem Actus eines in der That „terriblen Schimpfs“ für eine so hochgestellte Dame wurde dieselbe in ihr Gefängniß zurückgebracht und beschloß auf diese Weise das alte Jahr. Schwerlich haben die beiden Thürme der Stadtkirche schon auf Terribleres herabgeschaut, als an diesem Sylvester; wer weiß, ob der heilige Kaiser Heinrich der Zweite sie überhaupt gebaut hätte, wäre ihm prophezeit worden, daß sie einst als die grauen Zeugen eines solchen hochfürstlichen Rechtsverfahrens dastehen müßten. Das Gewissen Seiner Durchlaucht befand sich jedoch bei diesen Anstrengungen ganz wohl, denn die Maßregeln wurden genau den Berichten angepaßt, welche der Herzog von seiner Regierung (Herr von Pfaffenrath) und vom Hofe (Herr von Buttlar) empfing.

Es darf nicht ungemeldet bleiben, daß man nach der Pasquill-Verbrennung allem Volke noch des Herzogs Befehl verlas: „daß es bei hundert Thaler Strafe oder sechs Wochen Gefängniß jedermänniglich verboten sei, von dieser Sache zu sprechen.“ – Zehn Jahre früher hatte schon der Herzog Ernst von Weimar „das Raisonniren derer Unterthanen“ bei Zuchthausstrafe verboten.

Solche Verbote hielten den Gang der Weltgeschichte nicht auf. Jenseits der Meininger Grenzen erhob sich die Gleichen’sche Freundschaft, und je härter die Gefangenen in Meiningen bedrückt wurden, desto lauter schrieen die Freunde das Reichskammergericht in Wetzlar um Hülfe an. Und das hohe Gericht des Reiches erhörte sie. Schon am 11. Januar 1747 erließ dasselbe an den Meininger Herzog und dessen Regierung den Befehl, die Gleichen’schen Eheleute sofort des Arrestes zu entlassen und allen Schaden und die Kosten zu ersetzen. Ganz natürlich ließ der Herzog auf dieses kaiserliche Mandatum den Arrest der Frau von Gleichen gebührendlich verschärfen, worauf ein zweites und drittes Mandat die Forderungen des Reichskammergerichts ebenfalls in verschärfter Gestalt wiederholte. Die Sache wurde um so bedrohlicher, als diesmal wirklich wieder einmal keine Partei nachgeben konnte. Denn wäre es nicht geradezu unerhört gewesen, wenn der regierende Herr einem Adel gegenüber, welcher des Empörenden sich vermessen, Seine hochfürstliche Durchlaucht beim kaiserlichen Gericht zu verklagen, sich nachgiebig hätte erweisen wollen? Durfte der Herzog solche Widerspenstigkeit seines Adels in Gnaden ignoriren? Unmöglich! Aber ebenso gefährdet war das Ansehen von „Kaiser und Reich“, und da man in Wien dies überraschend schnell erkannte, so gelangte schon am 10. Februar ein kaiserliches „Commissariale“ an den Herzog Friedrich den Dritten von Sachsen-Gotha und Altenburg, in welchem das Reichskammergericht ihn verpflichtete und bevollmächtigte, das mißachtete kaiserliche Mandat in Meinungen im Nothfall mit Gewalt zur Anerkennung und Ausführung zu bringen.

Der geneigte Leser kann nun eigentlich schon von selbst wissen, woran er jetzt hier ist; die Ereignisse setzen sich in Galopp. Der Herzog von Meiningen wirft in Frankfurt den Reichkammergerichtsboten mit sammt seinem kaiserlichen Mandat zur Thür hinaus, – und in Meiningen wird die Gothaische Gesandtschaft mit ihrem „Commissariale“ gar nicht in die Stadt gelassen; ja, mit drohender Faust ruft man ihr nach: Wenn es Gotha nach Gewalt gelüste, werde man auch in Meiningen noch Pulver und Blei haben.

So ziehen ahnungsgrauend die Wetter auf. Die Trommel geht durch das Gothaer Land, und das Zeughaus voll Kanonen wird gelüftet, denn der Herzog ist ein allzeit kriegsbereiter Herr, der im tiefsten Reichsfrieden nicht unter 3000 Mann Soldaten aller Waffengattungen hält und auch mit sogenannten Subsidien-Regimentern, die er für den Kaiser und für die Holländer geworben, schon manch profitables Geschäftchen gemacht hat. Dazu übertrifft die Größe seines Landes und seiner Macht die Meiningens fast um das Dreifache. Indeß führt er nur sanfte Thüringer zum Kampfe, während dort die trotzigen „stolzen Franken“ stehen, und im ganzen Reiche weiß man, was „fränkisch“ zu bedeuten, hat.

Auch dort wird gerüstet; die Städte Meiningen und Wasungen sehen ihre Mauern und Wallgräben an und verrammeln ihre Thore; die Landmiliz setzt die „Salzmetzen“ (die Kopfbedeckung, wegen der hochaufregenden Stirnseite so genannt) auf und steckt neue Feuersteine in die alten Gewehrschlösser, – kurz, Vater Homer’s fliegendes Wort: „das Eisen ziehet den Mann an“ will sich abermals bewähren. – „Schön ist der Friede, ein lächelnder Knabe“ –, aber er ist entflohen den zweien Landen, die vergeblich der Thüringerwald mit granitenem Rücken trennt, – die Schwerter fahren aus den Scheiden, die Völker schauen zagend zum Himmel, Blitze zucken näher und näher –

„und des Donnrers Wolken hangen
Schwer herab auf Ilion.“

[275]
II. Der Feldzug.

Pechfackelflammen spiegeln sich unheimlich in den blanken Waffen und Monturstücken einer nächtlichen Heerschaar und werfen ihren rothen Schimmer auf die bereiften Tannen des Hochwalds und die schneebedeckten Hohlwege und Bergstraßen, auf welchen Roß und Mann in tiefem Schweigen langsam vorrücken. Seit ein Uhr nach Mitternacht marschirt alle Mannschaft in die Finsterniß hinein, und Niemand weiß wohin. Nur Einer, der oberste Führer, ist in das Geheimniß eingeweiht, aber Das weiß er auch nicht, daß die Thaten, die durch sie von heute an zu verrichten sind, einst in der Geschichte ewig prangen sollen als „der Wasunger Krieg“.

Unsere Leser haben es leicht, sofort zu ahnen, daß wir hier dem Reichs-Executions-Corps begegnen, welches der Herzog von Gotha-Altenburg gegen den Herzog von Meiningen in’s Feld gestellt hat und das nun über dem eisumstarrten „Rosengarten“ des Thüringerwaldes gegen das Feindesland heranzieht. Der Tag dieses Nachtzuges war der 13. Februar 1747.

Als Herzog Friedrich am 11. Februar die gegen Meiningen bestimmten Executionstruppen auf dem Schloßhofe des Friedenssteins in Gotha musterte, betrugen dieselben 29 Officiere und 891 Mann, darunter 6 Officiere, ein Feldscheer und 123 Mann Cavallerie, ferner 10 Stück Geschütze, einen Mörser und 18 Bombarden, sowie einen Rüst-, einen Munitions- und drei Compagniewagen. Diese gesammte Macht marschirte jedoch nicht auf einmal aus, sondern in Abtheilungen, die durch Dragoner-Relais [276] verbunden waren und im Nothfalle zu Hülfe herbeigeholt werden konnten. Die erste Abtheilung bestand aus einem Commando der fürstlichen Leibgarde zu Pferde, zwei Officieren und 50 Husaren als Avantgarde, commandirt vom Major von Benckendorf, ferner aus der Schloß-Grenadier-Garde, zwei Officieren und 77 Grenadieren, commandirt vom Major von Voß, endlich aus einem Commando vom Erbprinz-Friedrich-Regiment, drei Officieren und 122 Mann, commandirt vom Capitain Richter und bei ihm der Lieutenant Rauch als Adjutant. Dazu ein Munitionskarren und ein Wagen, in welchem drei „Geschwindstücke“ (Regimentskanonen, welche eine dreipfündige Kugel oder Traubenhagel von 30 zweilöthigen Kartätschkugeln schossen) verdeckt lagen. Das Obercommando führte ein Oberstlieutenant, welchen der herrliche Name Goldacker schmückte, und ihm waren zur diplomatischen Vertretung des Executionszuges als „kaiserliche Subdelegirte“ der Geheimerath Flörke, der Hofrath Buddeus und der geheime Secretär Schneider beigegeben, die, vom Militär mit altberechtigtem Selbstgefühl als „Schreiber“ über die Achsel angesehen, in einer besonders bedeckten Kutsche mitfuhren.

Einen andern Anblick gewähren die Meininger Rüstungen. Die Fürsten dieses Landes waren nicht, wie die Gothaer, bis zum Soldatenhandel hinaufcultivirt. Ihr Reichscontingent bestand aus neunundzwanzig Kürassieren und einer Grenadier-Compagnie, die beide zum fränkischen Kreis-Contingent gehörten, und einer Musketier-Compagnie, die Meiningen, wohl wegen des Oberlandes, zum Obersächsischen Kreis-Contingent zu stellen hatte. Die Grenadier-Compagnie war im besten Stand und etwa achtzig bis hundert Mann stark; von der Musketier-Compagnie existirte nur der Hauptmann.

Außer dem Reichs-Contingent standen unter der „Kriegscommission“, der obersten Militärbehörde, noch das sogenannte Defensionswerk, das heißt die Landtruppen (Miliz), die in den engen und in den weiten oder alten Ausschuß zerfielen. Jener zählte zwei Landbataillone, das des Unter- und das des Oberlandes (jetzt Kreis Sonneberg), jedes zu vier Compagnien, zu fünfzig bis sechszig Mann; – dieser bestand nur im Unterland und zwar aus sogenannten „Amts-Compagnien“, die zu Polizeidiensten bestimmt waren und vom Volk als „Heppenfänger“ bezeichnet wurden. Dazu kamen noch zwei Bürger-Compagnien der Stadt Meiningen. Wenn diese gesammte Macht beisammen war, mochte sie dreizehn- bis vierzehnhundert Mann zählen.

Die neunundzwanzig Kürassiere waren nicht etwa ein hochfürstlicher Luxus, sondern sie bildeten einen Theil einer Schwadron des „Tresconischen Regiments“ des fränkischen Kreis-Contingents, die von acht Reichsständen in folgender Weise zusammengestellt wurde:

von Meiningen der Rittmeister und 18  Mann.
von Römhild (früher eigenes Herzogthum,
     dazumal schon zu Meiningen gehörig) der
     Unterlieutenant und
11 
von Schleusingen (Kursachsen) der
     Oberlieutenant und
16 
von Schmalkalden (Kurhessen)
von Themar und Mehlis (Gotha)
von Behrungen (Hildburghausen)
von Ilmenau und Kaltennordheim (Weimar)
von der Grafschaft Löwenstein
von der Grafschaft Castell
 Ganze Schwadron:  71  Mann.

Davon nahm Meiningen seine neunundzwanzig Mann nebst Rittmeister und Unterlieutenant, rief die Meininger Bürger-Compagnie und das Unterländer Landbataillon in die Waffen, befestigte die Hauptstadt, armirte sie mit Kanonen, verstärkte die Besatzung durch zwei Compagnien des Landbataillons und detachirte die beiden anderen nach dem Städtchen Wasungen und den Dörfern Schwallungen und Nieder-Schmalkalden, von wo der Weg über die hessische Grenze und nach Gotha führte.

So sind wir nun historisch und geographisch genugsam gesattelt, um vom hohen Rosse der Gegenwart auf den Kleinkrieg jener guten alten Zeit hinabschauen zu können.

Zu den besonderen Kennzeichen dieses Feldzugs gehört es, daß dem Obercommandirenden auf die Seele gebunden war, nicht zu schießen, es sei denn, daß die Meininger zuerst schössen. Er sollte, wo möglich, Meiningen mit List nehmen, die Thore besetzen und Herrn und Frau von Gleichen aus der Haft befreien. In zweifelhaften Fällen war er an den Beirath der kaiserlichen Subdelegirten gewiesen, deren Autorität in Meiningen zur Geltung zu bringen der Hauptzweck des Unternehmens war. Anders hatte es der Kriegsgott beschlossen. Der verhängnißvolle erste Schuß war bereits geladen.

Als die Truppen, die vom gothaischen Tambach über die Höhe des Rennstiegs, der Rosengarten genannt, durch die Nacht marschirt waren, im ersten hessischen Dorfe, Flohe, ankamen, begrüßte sie ausnehmend freundlich der heitere Tag; nur über den Zweck ihres Zuges beherrschte sie noch das alte schwermüthige Dunkel auch auf ihrem ferneren Zuge durch die Stadt Schmalkalden und bis zum Dorfe Mittel-Schmalkalden. Hier befahl der Oberstlieutenant scharfe Munition auszugeben und scharf zu laden, und nun ging plötzlich ein allgemeines Licht auf. Nach zweistündiger Rast setzte die Reichstruppe sich wieder in Bewegung, voraus Benckendorf mit den Husaren, hundert Schritt davon als zweites Corps die Grenadiere, sodann in gleicher Distanz die „Schreiber“-Kutsche und dahinter als drittes Corps die Mannschaft des Erbprinz-Regiments. So, in wohlgefügter Ordnung, rückte man auf die Meininger Grenze los, und kaum war sie überschritten, so stand der Feind schon da.

Vor dem ersten Meiningischen Dorfe, Nieder-Schmalkalden, stellte eine Miliz-Abtheilung von etwa 30 Mann unter einem alten Lieutenant, Namens Zimmermann, sich quer über die Landstraße den gothaischen Reitern in den Weg. Und nun erhebt uns die Seele ein Spiegelbild der streitbaren Helden vor Troja. Wie dort die erzumschienten Männer erst in herrlichen Reden der Wahrheit gegenseitig alle Ehre anthaten, ehe sie mit Speer und Schwert gegen einander rannten, ebenso wechseln auch hier auf althenneberger Boden die Männer in Wehr Rede und Gegenrede. Eingedenk der herzoglichen Friedensmissions-Ordre reitet Major von Benckendorf zum alten Lieutenant hinan und fragt ihn verständig: „Was soll das heißen, daß Ihr uns nicht passiren lassen wollt? Ist dieses hier nicht eine offene Landstraße?“ – Siehe, da antwortet der Alte: „Eine Landstraße ist’s, aber ich habe meines Herrn Befehl, Euch nicht passiren zu lassen.“ – Sagt darauf der Major: „Wenn Ihr mich mit meinem Volke nicht durchlasset, so werde ich durchsetzen,“ worauf der Lieutenant kurz erwidert: „Das könnet Ihr thun. Vor Gewalt kann ich nicht.“ Nun läßt der Major der Garde das Seitengewehr ziehen, rückt vor und fragt, den großen Augenblick wohl bedenkend, noch einmal: „Wollt Ihr Feld geben, oder nicht?“ Der Alte aber rief: „Nicht von der Stelle! Ich habe Befehl von meinem Herrn.“ Nun erfolgt das Commando: „Marsch!“ Rechts und links fliegt die Miliz auseinander, die Garde durch. So ging’s los, und nun begann der Krieg, denn nun reißt der alte Lieutenant sein Officiersgewehr von der Schulter und schießt dem letzten Reiter, einem Wachtmeister, eine solche Ladung von gehacktem Blei und Laufkugeln in das Sitzfleisch, daß die Curirung desselben in Schmalkalden, wohin man ihn schaffte, dem Staate 86 Thaler 15 Groschen gekostet hat. Der Alte wollte nach dem Schuß sich davon machen. Aber ein Reiter setzte ihm mit geschwungenem Säbel nach, und ein Grenadier schoß ihn hinter das rechte Ohr. Er war todt.

Als die Miliz ihren Führer hingestreckt sah auf das Bett, der Ehre und sogar einige Granaten unter sie flogen, eilte sie von dannen, und die Schreckenskunde, die sie auf der Flucht ausschrie, daß die „Gothischen“ nicht blos schössen, sondern gleich todtschössen, räumte allen Widerstand von Barrikaden und Defensionern in Nieder-Schmalkalden und in Schwallungen aus dem Wege bis gen Wasungen, der ersten feindlichen Stadt.

Vor dem untern Thore von Wasungen ist die denkmalwürdige Stätte, wo noch einmal die Heldenscenen von Troja aufgeführt wurden, denn hier wiederholte sich derselbe Friedensversuch, wie vor Nieder-Schmalkalden, und er endete ebenso feindlich, nur weniger tragisch. Die Thore waren verschlossen und verrammelt, aber eine Schildwache stand außen davor. Major von Benckendorf beehrte auch diesen Mann der Miliz mit der gütigen Frage: „Ist dies nicht eine offene Landstraße und der Weg nach Nürnberg?“ Die Schildwache bejahte das freundlich, aber auf sein Verlangen: „Nun, so öffnet die Thore und [277] lasset mein Volk passiren!“ vernahm er dieselbe Antwort sowohl von der Schildwache, als von dem herbeigerufenen Lieutenant, wie endlich von den citirten Rathsherren: „Es ist der Befehl unserer gnädigsten Herrschaft, kein fremdes Volk hier durchzulassen, und darum müssen wir unsere Thore zuhalten.“ Obwohl der Bürgermeister offenbar direct aus seiner landwirthschaftlichen Goldgrube daherkam, denn die Spuren davon reichten ungenirt bis in die Kniekehlen herauf, so bedeutete er doch trotziglich den Herrn: „Wenn Ihr weiter marschiren wollet, so führt auch ein Weg hinten um die Stadt herum nach Nürnberg.“ – Da commandirte der Major alle Zimmerleute herbei und rief nochmals den Rathsherren zu: „Wollt Ihr Eure Thore ganz behalten, so macht auf!“ Der Bürgermeister jedoch sprach: „Thut was Ihr wollt! Wir machen nicht auf.“ So wurden denn die Thore mit Ach und Krach eingehauen, und mit Trompeten, Trommeln und Pfeifen marschirten alle drei Corps in die Stadt hinein; drinnen aber standen die von Nieder-Schmalkalden und Schwallungen ausgerissenen Milizen, commandirt von einem Barbier als Lieutenant und einem Schuster als Fähndrich, und präsentirten vor den einziehenden Siegern das Gewehr.

Wasungen war erobert. Der Trotz der Bürger jedoch blieb ungebrochen. Stundenlang noch wehrten sie sich gegen jede Einquartierung, bis das Donnern und Wettern der hungernden und frierenden Soldaten auf dem Markt und in den Gassen ihre eigenen Officiere erschreckte und das Versprechen des Commandanten, am Morgen wieder abzuziehen, die Rathsherren vermochte, den alten Steuerfuß hervorzusuchen und die Quartierzettel darnach zu schreiben. So kam man endlich zu äußerlicher Ruhe. Die Sieger fühlten sich gleichwohl noch unbehaglicher als die Besiegten. Ist es nicht echter Helden Art, den Gegner niemals zu unterschätzen? Also war es auch hier. Obwohl schon am folgenden Tage (den 14.) frische Verstärkungen von Gotha das Executionscorps auf nahe an 500 Mann brachten und der Beschluß feststand, am nächsten Tage (den 15.) einstweilen zur Blokade von Meiningen vorzugehen, um nach Ankunft des schweren Geschützes die Belagerung um so ernstlicher beginnen zu können, so richtete sich doch vor dem oberen Thore mancher nachdenkliche Blick gen Süden, denn die Kunde war rasch von Ohr zu Ohr gedrungen, daß in Meiningen eine todesmuthige Bürgerschaft, eine kampflustige Soldateska und mit schwerem Geschütz gespickte Thore und Wälle den Tanz mit den „Gothischen“ kaum erwarten könnten.

Offenbar in Erwiderung dieses ritterlichen Compliments war in Meiningen ebenfalls der Respect vor dem Feinde durch dessen Thaten vom todten Lieutenant von Nieder-Schmalkalden bis zu den eingehauenen Thoren von Wasungen zum Durchbruch gekommen. Kriegs- und andere Räthe erkannten in ihrer Tapferkeit es als das Klügste, die Frau von Gleichen nebst Gemahl ihrer Haft zu entledigen und dies sofort nach Wasungen zu vermelden. Und so geschah’s. Zwar „maintenirte“ die Frau Landjägermeisterin nun auch im Gefängniß ihren Posten und wollte nicht daraus weichen, ohne vollste Genugthuung empfangen zu haben, aber endlich gab sie doch nach und feierte daheim das Wiedersehen der Ihrigen.

Die Meininger Botschaft betrachtete der Herr Oberstlieutenant in Wasungen mit Augen voll Entrüstung als ein „Halt!“ in seiner Siegesbahn; auch vermißten die Herren Räthe ihre Anerkennung als kaiserliche Commission. Demgemäß marschirte am folgenden Mittage (den 15.) ein Commando von dreißig Pferden und zweihundert Mann vor dem Herrn Oberstlieutenant auf dem Markte auf und sollte soeben gegen Meiningen abrücken, als Punkt zwölf Uhr „die Braut, um die man tanzte“, in eigener Person zum Thore hereinfuhr: die Frau von Gleichen.

Sie kam, um sich unter den Schutz der Commission und Execution zu stellen. Ungeschickter hätte sie den Augenblick zu dieser Vorstellung nicht wählen können. „Die so unvermuthete Ankunft der Frau von Gleichen hat uns nicht wenig surpriniret und in große embarras gesetzet“ – sagten die Herren Räthe; der Oberstlieutenant grollte: „Sie hätte abwarten sollen, bis man sie abgeholt habe,“ – und schließlich folgte sie der unverblümten Weisung, wieder heimzukehren, um sich gebührendlich seinerzeit mit einnehmen und erobern zu lassen.

Daß kleine Ursachen oft große Wirkungen haben, wird hier abermals offenbar. Als Herzog Friedrich in Gotha den Bericht der Räthe und Goldacker’s über diese Thaten und Geschichten gelesen, erkannte er, daß er, bei dem durch die Freilassung der Gleichen’schen Eheleute gezeigten guten Willen Meiningens zum Nachgeben, nunmehr von jedem Angriffe auf die Hauptstadt Meinungen absehen, dagegen Wasungen besetzt halten müsse, bis die volle Anerkennung der kaiserlichen Commissions-Autorität und die Bezahlung der Reichs-Executions-Unkosten erlangt sei.

Alle Heldenseelen versanken in Trauer. Am 15. Februar Abends war die gesammte Executionsmacht, wie sie im Friedenstein vor dem Herzog gestanden, bis auf die Artillerie, in Wasungen und Schwallungen vereinigt. Und nun gebot der Kriegsherr statt der siegesfreudigen Offensive die traurige Defensive und zog fast die Hälfte der Truppen wieder nach Gotha zurück. Doch tröstet Euch, Helden von Gotha! Euch winkt nach schwerem Leid noch ein Tag der Gloire. Auch Euren Kanonen ist’s bestimmt, das Echo dieser Berge zu wecken.

Weniger friedliebend als der Herzog von Gotha, zeigte sich der Meininger in Frankfurt. Er rief den fränkischen Kreis um Hülfe an, verklagte den Gothaer beim Reichstage zu Regensburg und befahl den Wasungern, die Gothischen auszuhungern. Alles vergebens, auch das Letztere, denn als Speise und Trank, welches die Wasunger den Soldaten verweigern mußten, desto reichlicher aus dem Hessischen herübergeschafft wurde, war bald auch den Wasungern wieder Alles feil. Folgewichtiger stellte sich das rastlose Rüsten und Entrüsten in Meiningen heraus. „Jede Zusammenziehung der dortigen Miliz zog neue Verstärkung in Wasungen nach sich, und ebenso schwächte man die Besatzung, wenn in Meiningen die Miliz wieder entlassen wurde.“ Die Soldaten gewöhnten sich an dieses Spiel des Hin- und Herziehens, und in Gotha verlor man die Schärfe der Aufmerksamkeit. Als aber auch die beiden besten höheren Officiere, Goldacker und Benckendorf, nach Gotha heimberufen und durch einen ehemaligen Cavallerie-Officier von ungewissen Verdiensten, Major Schütz, ersetzt wurden, faßten die Meininger frischen Muth, entschlossen, den Wunsch ihres Herzogs endlich zu erfüllen, das heißt die Gothischen mit Verlust ihrer Geschütze und Bagage aus dem Lande hinauszujagen.

Zwar sandte der Gothaer seinen kriegserfahrenen General von Rautenkranz nach Wasungen, um den Major Schütz für etwaige Angriffsfälle zu instruiren, aber die Besatzung blieb kaum dreihundert Mann stark. Erst als das Gerücht immer drohender mit in den Kampf zog, als für die zweite Pfingstnacht vom 22. auf den 23. Mai der Angriff der Meininger vorausgesagt und ihre Stärke von der Fama immer mächtiger aufgeblasen wurde, brach Benckendorf mit einem Hülfscorps für die Besatzung in Wasungen von Gotha auf.

Mit dieser schwarzen Wetterwolke im Hintergrunde stellen wir endlich unseren Lesern den Mann vor, dessen Name schon oben gesperrt gedruckt wurde, der von jetzt an eine wichtige Rolle in den nächsten Kämpfen spielt und dem wir die genauen Nachrichten über den Wasunger Krieg verdanken, denn er ist der Verfasser einer „Gründlichen Relation“ über denselben: Lieutenant und Adjutant Rauch, ein alter ehrlicher Haudegen mit scharfem Auge und noch schärferer Zunge. Er bemerkte schon vom frühen Morgen des 22. Mai an, daß im Hauptquartiere nicht Alles richtig war. Zwischen dem Major und den Räthen flogen die Boten hin und her, Officiere kamen und gingen, Reisewagen wurden gepackt – denn die Officiere hatten ihre Familien bei sich – und diese eilten plötzlich aus der Stadt. „Das Fahren und Postillonblasen ging tapfer auf Stadt Schmalkalden los.“ Da steckten auch die Bürger die Köpfe zusammen, denn das Gerücht war für sie so thätig, wie für die Gothischen. Alles verkündete Sturm. Die Leute, die aus der Kirche kamen, sahen das Rennen und Laufen und konnten kaum den Jubel ihrer Gesichter verbergen. Nur zwei der gothaischen Officiere blieben Männer: Hauptmann Brandis und Rauch. Alle übrigen hatten mit den Geheimen Räthen einen schreckensbleichen Kriegsrath gepflogen und einen Beschluß gefaßt, der vor jenen beiden verborgen gehalten wurde.

Am Nachmittag ertheilte Major Schütz dem Adjutanten Rauch den Auftrag, seine Disposition zu machen, wie zur Vertheidigung der Stadt alle Thore und Posten besetzt werden sollten. Rauch setzt sofort die Vertheilung der Mannschaft für die Thorwachen, deren Verstärkung und Piquets und für die Reserve in der Stadt auf, [278] und der Major prüft sie und spricht: „Sie ist recht nach Proportion der Repartition und nach der Anciennetät der Herren Officiere gemacht.“ – Rauch ist beruhigt, auch alle seine übrigen Vertheidigungsvorschläge werden auf das Bereitwilligste genehmigt, namentlich der, daß der Zapfenstreich heute schon um halb Neune geschlagen, somit eine halbe Stunde früher, als gewöhnlich, das ganze Commando auf dem Markt versammelt werden und dann die Vertheilung der Truppen nach Rauch’s Disposition geschehen solle.

Die Zeit ist da, das Corps, soweit es nicht auf Posten und Außenposten steht, versammelt, Rauch commandirt: „Richt Euch und alles Plaudern hab’ ein End’!“ – Aber kaum hat er mit dem Richten begonnen, so erhält er vom Major den Befehl, mit 30 Dragonern den Wagen der Herren kaiserlichen Commissäre nach Schwallungen in Sicherheit zu bringen. Nach hartem Sträuben gehorcht er, und nun enthüllt sich der Beschluß des Kriegsraths. Kaum wußte der Major die Räthe in Sicherheit, so befahl er der Mannschaft, die Gewehre zusammenzustellen, ihr Gepäck aus den Quartieren zu holen und die Thorposten abzurufen. Er vergaß die Vorposten, die kranken Officiere und Soldaten, ihre Weiber und Kinder und sogar die Artillerie, und noch ehe die Mannschaft vollzählig war, und ohne sie in Ordnung aufzustellen, commandirte er: ‚Marsch! Marsch!‘ und so lief Alles durcheinander, ‚wie der Hirt das Vieh austreibt‘, zum Thore hinaus. Den Nachzüglern, darunter auch Hauptmann Brandis und Andere, die der Lärm erst herbeigerufen, jubelten die Bürger aus allen Fenstern höhnend nach: „Da laufen sie wie die Spitzbuben! Am Tage sind sie hereinmarschirt und des Nachts laufen sie wieder fort wie Schelmen und Diebe.“

Wo blieben aber die gefürchteten Meininger? Hatte das Gerücht ihnen zu viel Ehre angethan? Sie beeilten sich nicht. Konnten doch die gothaischen Kanoniere ihre Geschwindstücke noch eigenhändig zur Stadt hinausbringen und unbedeckt den Ausreißern nachziehen. Erst als das Nest leer war, kamen die Adler und eroberten es. Sie erwischten noch einen vergessenen Vorposten und ließen ihn als Siegestrophäe nach Meiningen abführen, dann besetzten sie die Stadt, nahmen alle Kranken, Weiber und Kinder gefangen, besorgten die Thorwachen und ergaben sich mit den Bürgern dem Jubel des Sieges, bis sie triumphirend die Betten suchten, während es draußen in eine Stockfinsterniß hinein regnete, was vom Himmel ging.

Rauch hatte erst in Schwallungen von den Räthen erfahren, warum er nicht nach Wasungen zurückzukehren brauche, wo er Frau, Kind und „sein Bißchen Lumpen“ zurückgelassen hatte. Wir müssen es uns versagen, zu schildern, wie er die Räthe und die Officiere bediente, die nun ankamen, um bei einer Flasche Wein ihren Kriegsrath fortzusetzen, und wie der Major vor ihm stand, als um Mitternacht ein Eilbote von Gotha den Befehl des Herzogs brachte, Wasungen bis auf den letzten Mann zu halten. Mit schlotterndem Gebein beauftragte er Rauch, die Mannschaft in Ordre de bataille zu stellen.

Drunten aber war’s fürchterlich. Roß und Mann rannte in der stockfinstern Regennacht durcheinander, Trüppchen um Trüppchen kam fluchend und wetternd an, die Kanonen staken in einem Hohlwege, nirgends ließ sich ein Officier blicken. Während nun Rauch, endlich von Brandis unterstützt, Ordnung zu schaffen suchte, rief eine Stimme ihn an, deren Klang ihm däuchte „wie die Jakob’s den Kindern in der Wüste“. Es war Major von Benckendorf, der seinem Hülfscorps vorausgeeilt war und der nun den von Rauch an- und ausgeführten Zurückmarsch nach Wasungen anordnete. Die Wiedereroberung der Stadt, in welcher die Sieger in allzu großer Sicherheit schlummerten und zu spät erwachten und zu den Waffen griffen, gelang nach einem kurzen Straßengefechte, und nachdem die glücklich mit hereingeschafften Kanonen am Mittel- und am oberen Thore gegen herandringende Milizen und Reiterei ihr kräftiges Wort gesprochen. Als die Sonne am Himmel stand, hielten auch die Herren Subdelegirten wieder ihren Einzug in die Stadt, die nun im ungestörten Besitze der Gothaer blieb, bis nach fast endlosen Verhandlungen, und zwar erst am 4. August 1748, mit dem Abzuge der Besatzung der Wasunger Krieg sein Ende erreichte.

Wir sind es unseren Lesern noch schuldig, zu berichten, wie Friedrich der Große von Preußen in diesen Handel verwickelt wurde. Der König neigte sich, wie die meisten übrigen Reichsfürsten, der Partei des Herzogs von Meiningen zu, indem er es dem Gothaer verargte, so bereitwillig dem Reichskammergerichte gegen einen Fürsten gehorcht zu haben. Der Ausspruch des Reichstags war jedenfalls für Gotha unsicher. Da starb am 29. Januar 1748 Herzog Ernst August von Weimar mit Hinterlassung eines einzigen unmündigen Prinzen, und sowohl Herzog Friedrich, wie die Herzöge von Meiningen und Coburg-Saalfeld erhoben Anspruch auf das Recht der Vormundschaft. Dieses neue Streit schob die Gleichen’sche Angelegenheit fast bei Seite. Nun bestand in Weimar eine 200 Mann starke, besonders schöne Garde, die dem „alten Fritz“ stark in’s Auge stach. Mit diplomatischer Feinheit wurde dem Gothaer beigebracht, daß der König einen ihm nicht ungünstigen Vergleich mit dem Meininger hinsichtlich der Gleichen’schen Sache und mit diesem und dem Coburger hinsichtlich der Vormundschaft durchführen wolle, wenn er ihm diese Weimarische Garde zuweise. Herzog Friedrich erfüllte diesen Wunsch, die Vergleiche kamen zu Stande, die Gothaische Besatzung zog von Wasungen nach Gotha und die Weimarische Garde von Weimar nach Berlin ab – und der Friede war verbrieft und besiegelt.

Der Herzog von Meiningen, dessen Namen wir noch nicht genannt, war Anton Ulrich, nach dem Ausspruch des landes- und geschichtskundigen G. Brückner „ein Mensch und Fürst aus einem Guß“. Als dritter Prinz seines Hauses ohne Anwartschaft auf die Allein-Regierung des Landes hatte er eine reine Herzensehe geschlossen mit Philippine Elisabeth, der Tochter eines hessischen Hauptmanns David Cäsar. Brachte diese Ehe seine beiden Brüder und den gesammten meiningischen Adel gegen ihn auf, so verbanden sich mit diesen auch noch die ernestinischen Agnaten gegen ihn, als er es durchsetzte, daß Kaiser Karl der Sechste seine Gemahlin und Kinder in den Fürstenstand erhob und letztere mit allen fürstlichen ernestinischen Hausrechten belieh. Die Kränkungen, ja persönlichen Beleidigungen, welche er und die Seinen am meiningischen Hofe von den Verwandten und dem Adel zu erdulden hatten, bewogen ihn, meist im Ausland zu leben und, als er selbst regierender Herr geworden war, den Hofadel seine Strenge spüren zu lassen. Hierin liegt wohl auch der eigentliche Beweggrund seines Verfahrens gegen die Gleichen’schen Eheleute und der Bevorzugung der Frau von Pfaffenrath, die, wie er, ihre freie Liebe einem Bürgerlichen geschenkt hatte. Uebrigens trat der Tod als Friedensstifter zwischen ihn und die Agnaten. Seine Gattin und ihre Kinder starben, er aber entriß den Agnaten, die sich bereits in der Stille in sein Land getheilt hatten, die Erbschaft dadurch, daß er noch im dreiundsechzigsten Jahre eine Prinzessin von Hessen-Philippsthal heirathete und eine zahlreiche nun legitime Nachkommenschaft hinterließ.

Die Gleichen’schen Eheleute hatten schon im April 1747 Meiningen verlassen und sich nach Römhild zurückgezogen, wo beide, durch die ausgestandenen Leiden doch innerlich gebrochen, schon im folgenden Jahre kurz nach einander starben. Es war ihr letzter und ein verzeihlicher Stolz, mit dem die ehrenfeste und tapfere Landjägermeisterin noch auf dem Sterbebett sagte: „Ich maintenirte meinen Posten.“

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2. Im Hungerthurme.

Als mit Konradin von Schwaben der Stamm der Hohenstaufen in seiner schönsten Blüthe unterging, starben mit ihm auch zwei Grafen Gherardesca auf dem Blutgerüste in Neapel. Wie diese stand ihr ganzes Geschlecht treu im Lager der Ghibellinen, der Kaiserpartei. Reich begütert, im Besitze der Grafschaften Gherardesca, Donoratico und Montescudaio in den Maremmen zwischen Pisa und Piombino, schloß es sich in dem verheerenden italienischen Bürgerkriege der Ghibellinen und Guelphen der Republik Pisa an, wo es, an der Spitze der Conti (Grafen) die Visconti (Vicegrafen) sich gegenüber sah.

Die Visconti von Pisa dürfen nicht mit dem gleichnamigen Geschlechts von Mailand zusammengestellt werden, das die Herzogswürde erlangte und bis in die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts blühte. Die Visconti von Pisa sahen sich genöthigt, sich dem Papste in die Arme zu werfen, um dessen Schutz gegen die übermächtigen Geschlechter Pisa’s zu genießen. Nur zu diesem Behufe gab Ubaldo Visconti den Kampf gegen die päpstlichen Ansprüche auf die Oberherrschaft über die von den Pisanern damals eroberte Insel Sardinien auf, heirathete eine Verwandte des Papstes Gregor des Neunten, Adelheid, Erbin von Gallura und Torre, und nahm diese Besitzungen vom Papste in Lehn. So wurden die Visconti Richter von Gallura und Häupter der guelphischen Partei, die jedoch in Pisa nur schwer Boden fand, da die Stadt eifrig und treu ghibellinisch war.

Um so auffälliger ist es, daß Ugolino della Gherardesca, der gegen das Ende des dreizehnten Jahrhunderts an der Spitze der Ghibellinen in Pisa stand, es seinen Zwecken entsprechend finden konnte, sich den Guelphen dadurch zu nähern, daß er dem damaligen Haupte derselben, Giovanni Visconti, seine Schwester zur Gemahlin gab. Diese plötzliche Eintracht der feindlichen Parteien erregte das Mißtrauen der Pisaner so, daß sie beide Häupter aus ihrer Stadt verbannten. Beide zögerten jetzt keinen Augenblick, gegen ihre Vaterstadt als Feinde aufzutreten. In Verbindung mit den guelphischen Städten

[413]

Ugolino im Hungerthurme von Pisa.
Originalzeichnung von Professor H. Jenny.

[414] Toscanas zwangen sie Pisa im Jahre 1276 zu einem Frieden, dessen Hauptbedingung die Zurückberufung der Verbannten war. Giovanni war gestorben, dafür kehrte dessen Sohn, Nino Visconti, mit Ugolino in die Heimath zurück.

Während die Visconti ihrer Partei treu geblieben waren, hatte Ugolino das Vertrauen beider Parteien verloren und war für die Erreichung seiner Pläne fortan auf die Handhabung von List und Gewalt angewiesen. Die Gelegenheit zu beiden ließ nicht lange auf sich warten. Im Jahre 1282 brach zwischen Pisa und Genua ein Krieg aus, der nach zweijährigem Schwanken des Sieges für Pisa mit einer Niederlage endete, welche die Bedeutung der Stadt als Seemacht für immer zerstörte. Oberto Doria kam mit einhundertunddreißig genuesischen Galeeren gegen Pisa heran; dreißig Galeeren hatte er unter der Führung des Benedetto Zacharia bei der Insel Meloria in einen Hinterhalt gelegt. Die Pisaner hatten ihre einhundertunddrei Schiffe in drei Treffen aufgestellt, von denen das erste Oberto Morosini aus Venedig, Podesta von Pisa und General-Capitano des Kriegs, das zweite Andreotto Saracino, das dritte Graf Ugolino führte. Erschien es schon als ein schlimmes Zeichen, daß dem Erzbischof, der am Morgen des Kampftages, des 6. August 1284, vom Ponte vecchio aus die Flotte segnen, wollte, das Crucifix in’s Wasser fiel und der Uebermuth der Pisaner sich das Scherzwort erlaubte: „Mag Christus für die Genueser sein, wenn nur der Wind für uns ist“ – so war es noch schlimmer, daß die Pisaner die Uebermacht der Feinde erst erkannten, als es zu spät war, die Schlacht noch zu vermeiden. Der Angriff Zacharia’s aus seinem Hinterhalt bei der Insel Meloria war von erschütternder Wirkung auf die Pisaner, das Admiralsschiff, das Pisa’s Fahne und Führer, den Morosini trug, fiel zuerst in des Feindes Gewalt. Vielleicht wäre es aber dennoch der Tapferkeit der Pisaner gelungen, die Niederlage, wenn auch nicht, zu vermeiden, doch nicht so folgenschwer werden zu lassen, hätte nicht Ugolino mit seiner Flottenabtheilung die Flucht ergriffen. In der wahren Absicht dieser Flucht liegt nun die ihm vorgeworfene schwerste Schuld oder seine Unschuld. Seine Feinde behaupten, seine Absicht sei gewesen, das nun geschwächte Pisa mit Hülfe seiner guelphischen Freunde in Florenz und Lucca sich zu unterwerfen. Seine Freunde dagegen schieben ihm den guten Willen zu, seine Vaterstadt durch seinen guelphischen Einfluß gegen Genueser und andere Feinde derselben zu retten. Die schwere Anklage erhebt nun zwar kein gleichzeitiger Schriftsteller, sondern erst ein Chronist von Pisa aus dem sechszehnten Jahrhundert; dabei giebt derselbe noch an, daß er dies nach Dante erzähle, der jedoch bekanntlich kein Wort davon sagt. Dennoch spricht die Folge der Geschichte nicht gegen diese Behauptung; Ugolino selbst hat es seinen Freunden schwer gemacht, ihn zu vertheidigen.

Die Niederlage der Pisaner war so vollständig und so groß, daß man zu ihrer Erklärung die Rache Gottes citiren mußte: sie soll eine Strafe dafür gewesen sein, daß die Pisaner jene Bischöfe, welche auf genuesischen Schiffen zu dem gegen Kaiser Friedrich den Zweiten bestimmten Concilium nach Rom segeln wollten, auf derselben Stelle gefangen genommen hatten. Von ihren Galeeren hatten sie sechsunddreißig, von ihrer Mannschaft sechszehntausend an Todten und Gefangenen verloren. „Wer Pisa sehen will, muß nach Genua gehen“ – so höhnte der Spott der Sieger. Und welches Schicksal bestimmten sie für die etwa elftausend Gefangenen? Man müsse sie so lange wie möglich zurückbehalten, um die Frauen derselben an der Wiederverheirathung zu verhindern, dadurch manches mächtige Geschlecht aussterben zu lassen und Pisa auf das Nachhaltigste zu schwächen. Wirklich sind auch nach achtzehnjähriger Gefangenschaft nur etwa tausend Pisaner in ihre Vaterstadt zurückgekommen.

In Pisa erfolgte sofort, was Ugolino gewollt zu haben schien. Die Kunde von dem Schlage, der die ghibellinische Stadt und ihre edelsten Geschlechter getroffen hatte, rief die Rachegelüste aller guelphischen Nachbarn wach, und so sahen die Pisaner sich jetzt gezwungen, den Ugolino gerade wegen seiner guelphischen Verbindungen augenblicklich mit ihrer höchsten Macht zu bekleiden. Noch im Oktober 1284 ernannten sie ihn zum Capitano und Podesta erst auf ein Jahr, aber schon im Februar 1285 auf zehn Jahre. – Es hatte den Anschein, daß er mit Geschick und Glück das Beste der Stadt vertrete, denn den glücklichen Umstand, daß die Feinde Pisas ihre neuen Angriffe bis zum Frühling des nächsten Jahres verschoben, benutzte Ugolino, um den Bund der Gegner durch Unterhandlungen mit den Einzelnen zu trennen. Dies gelang ihm bei den Florentinern, freilich um den Preis der Vertreibung von zehn der angesehensten Ghibellinen aus Pisa und eines ansehnlichen Goldgeschenkes an besonders einflußreiche Häupter von Florenz. In Genua widersetzten die gefangenen Pisaner selbst sich Ugolino’s Vorschlag, ihre Befreiung um die Abtretung der wichtigen Veste Castro in Sardinien zu erkaufen; sie drohten vielmehr, nach ihrer Heimkehr einst Jeden als Feind zu behandeln, der sich solchen Verraths an der Vaterstadt schuldig gemacht habe. Nicht besser gelang die Unterhandlung mit den Lucchesen, denn diese ließen sich wohl im Februar 1285 die festen Schlösser Ripafratta und Liareggio abtreten, begannen aber trotzalledem im Verein mit den Genuesen den Krieg gegen Pisa von Neuem und eroberten die Vesten Cuosa und Avane an demselben 8. Juli, wo die Genuesen den Wachtthurm am Hafen von Pisa besetzten und damit der ehedem so mächtigen Seestadt die Kehle zuschnürten.

Jetzt zeigte Ugolino’s Vertrag mit Florenz sich erst in seinem ganzen Werth; nur der Umstand, daß die Florentiner Pisa nun in Ruhe ließen, rettete damals noch den Schein seiner Selbstständigkeit, freilich wiederum auf Kosten seines ghibellinischen Charakters. Gezwungen, sich fortan, wenn er seine Macht behaupten wollte, ganz auf die Guelphen zu stützen, berief er seinen Neffen Nino Visconti als Theilhaber seiner Amtsgewalten an seine Seite. Die Eintracht Beider war jedoch nicht von langer Dauer, da Jeder nach der Alleinherrschaft trachtete. Nino ergriff sogar das Mittel, sich plötzlich den Ghibellinen zuzuneigen und, als um diese Zeit ein Anhänger der Visconti von einem Enkel Ugolino’s, Brigata, ermordet worden war, durch die Straßen zu rufen: „Tod Allen, die keinen Frieden mit Genua wollen!“ Das Volk blieb jedoch ruhig; es erkannte zu gut, daß Nino’s einzige Absicht der Sturz seines Nebenbuhlers sei, und da die Pisaner Ursache genug hatten, dem Einen so wenig wie dem Andern zu trauen, so bewogen „die Consuln des Meeres“ und „die Vorsteher der Zünfte“ beide, ihre Aemter niederzulegen und die Amtspaläste zu verlassen. Ihr Nachfolger war ein gewisser Guidoccino di Bongi.

„Als sich beide Parteihäupter so das Heft aus den Händen, gerissen sahen, vereinigten sie sich schnell zur Wiedererlangung der früheren Macht.“ So erzählt Philalethes (König Johann von Sachsen) in einer seiner metrischen Uebersetzung von Dante’s „Göttlicher Komödie“, Bd. 1, S. 283 ff. eingefügten trefflichen „Historischen Skizze“, die wir dieser Darstellung zu Grunde gelegt haben. Ihr Unternehmen muß wohl den beiden Parteihäuptern bei der damaligen Verwirrung, Trauer und Ohnmacht in der Bürgerschaft nicht schwer gefallen sein, denn sie fanden ihren Vorgänger Guidoccino mit Geld ab, veranlaßten ihn, die Stadt zu verlassen, und bezogen Beide wieder die Amtspaläste, Ugolino den Palazzo del Popolo (den Volkspalast, das Stadthaus), Nino den Palazzo del Commune (den Gemeindepalast, das Gerichtshaus), also anscheinlich jener als Capitano, dieser als Podesta. Da aber letzteres Amt weniger Einfluß gewährte, so scheint Ugolino jetzt mehr als je im Vollgefühl seiner Macht geschwelgt zu haben, denn um diese Zeit war es, wo er bei einem Festgelage an einen der Gäste, Marco Lambardi, die herausfordernde Frage richtete: „Was sagst Du, Marco, zu meinem Staate?“ – Der aber antwortete: „Graf, Dir fehlt nichts als Gottes Zorn.

Ob Marco eine Ahnung oder einen Wunsch ausgesprochen: die Erfüllung kam. Ugolino und Nino konnten nicht neben einander stehen, ohne sich zu vernichten. Als im April 1286 eine Botschaft der gefangenen Pisaner von Genua kam, um einen von ihnen selbst vermittelten Friedensabschluß in Pisa genehmigen zu lassen, erklärte sich Ugolino gegen, Nino für diesen Frieden; und als der Friede beschlossen wurde, suchte Ugolino ihn dadurch zu verhindern, daß er, im Mai, während der Frist des beiderseits eingegangenen Waffenstillstandes, Corsaren gegen die Genueser auslaufen ließ. Da er in den aus der Gefangenschaft heimkehrenden ghibellinischen Edlen seine erbittertsten [415] Feinde erkennen mußte, so kann über seine eigentliche Absicht bei diesem Gewaltstreiche kein Zweifel herrschen.

Während die Parteien Ugolino’s und Nino’s wie zwei sich bedrohende Flammen über Pisa aufloderten, erhob sich plötzlich dazwischen eine dritte, beide überragende in der endlich zur That erwachten Partei, der alten echten Ghibellinen. Zu ihr gehörten die Gualandi, Sismondi und Lanfranchi und an ihrer Spitze stand der schon genannte Erzbischof von Pisa, Roger degli Ubaldini, von einem ghibellinischen Hause aus der Gegend von Arezzo. Dieser neuen Macht suchte nun Ugolino sich sofort anzuschließen, um durch sie Nino zu stürzen. Mitten in die Unterhandlungen Ugolino’s und des Erzbischofs fiel folgendes Ereigniß. Eine Hungersnoth oder wenigstens außerordentliche Theuerung erregte die Erbitterung des Volkes in Pisa gegen die auf die ersten Lebensbedürfnisse gelegten Zölle und dadurch gegen Ugolino selbst. Als ihm einer seiner Enkel und ein anderer Verwandter, der zugleich ein Neffe des Erzbischofs war, Vorstellungen darüber zu machen wagten, gerieth er in so tobende Wuth, daß er seinen Enkel mit dem Vorwurfe: „Ha, Verräther, Du willst mir meine Macht rauben?“ mit dem Dolche am Arme verwundete und den Andern mit einem Schlage todt niederstreckte. Ghibellinen trugen die Leiche zum Erzbischof und sprachen: „Hier ist Dein Neffe, vom Grafen Ugolino erschlagen.“ Und der Priester: „Tragt ihn hinweg!“ rief er, „das ist mein Neffe nicht. Ich weiß nicht, daß der Graf irgend eine Ursache hätte, meinen Neffen zu tödten. Hat er ihn doch immer als einen Verwandten gut behandelt. Man rede mir kein Wort mehr davon!“

So bezähmte die Arglist den glühenden Haß, um die Rache desto kälter zu genießen. Wirklich hatten die Unterhandlungen zwischen dem Erzbischof und Ugolino ihren ruhigen Fortgang und führten zum geheimen Beschlusse einer gemeinsamen Unternehmung gegen Nino. Als Tag der Ausführung war der 30. Juni bestimmt. Jetzt fand die Doppelzüngigkeit ihren Fallstrick. Um es nicht mit den Guelphen ganz und gar zu verderben, blieb Ugolino am bestimmten Tage auf seinem Landgute Settimo, während die Ghibellinen schon am Morgen gegen Nino sich zusammenschaarten, und dieser, von Ugolino verlassen und von dessen Verrath gegen ihn überzeugt, verließ um Mittag mit seinem Anhang die Stadt und warf sich in seine festen Schlösser. Die Ghibellinen aber besetzten sofort den Palazzo del Commune und traten, als Ugolino endlich gegen Abend in die Stadt kam, nun vor ihn mit dem Anspruche, um in Pisa das ghibellinische Element wieder zu Ehren zu bringen: dem Erzbischof oder einem anderen ihrer Häupter an Nino’s Stelle neben sich den Platz einzuräumen. Ugolino wußte, daß dies die Oberherrschaft der Ghibellinen, die Heimkehr der Gefangenen und seinen Sturz bedeuten würde, und suchte Zeit dagegen zu gewinnen. Auf den nächsten Morgen war eine Besprechung darüber in der Kirche San Bastiano bestimmt. Während oder kurz nach derselben drang zu dem Erzbischof die Kunde, daß Ugolino’s Enkel Brigata mit einer Schaar von tausend Kriegern die Stadt bedrohe. Sofort ließ er die Sturmglocke des Palazzo del Commune ziehen und den Ruf: „Zu den Waffen!“ erschallen. Aber auch Ugolino’s Partei gehorchte dem Rufe der Sturmglocke des Palazzo del Popolo, und so entbrannte nun ein Kampf in den Straßen, der auf und ab wogte, bis der Palast die letzte Zuflucht Ugolino’s wurde, in welchem, nachdem man denselben in Brand gesteckt hatte, er mit seinen Söhnen Gaddo und Uguccione und seinen Enkeln Nino Brigata und Anselmuccio (Einige nennen noch einen dritten, Heinrich), in die Gefangenschaft seiner Feinde fiel.

Man brachte die Gefangenen zuerst in den Palazzo del Commune, wo sie zwanzig Tage verwahrt blieben; von da kamen sie in den Thurm der Gualandi, genannt alle Settevie, nach den „sieben Wegen“, welche dahin führten. Hier blieben sie bis zum März 1289. Dann geschah das Entsetzliche, das unsere Abbildung darzustellen sucht. Man verschloß plötzlich den Thurm, warf den Schlüssel in den Arno und übergab Vater, Söhne und Enkel dem Hungertode.

Dieses Ende der Unglücklichen ist es, was Dante im dreiunddreißigsten Gesange der „Hölle“ schildert. Nachdem Ugolino, – den er auf seiner Höllenfahrt mit Virgil im Zustande der Verdammniß und an des Erzbischofs Schädel nagend gefunden – ihm den Traum erzählt hat, der ihn und seine mitgefangenen Söhne und Enkel gepeinigt, als ihnen zum ersten Male der Kerkermeister die bisherige Kost nicht gebracht hatte, fährt er, nach der Uebersetzung des Königs Johann, fort:

Als ich vor Tagesanbruch d’rauf erwachte,
      Hört’ ich die Söhnlein, die mit mir hier waren,
      Im Schlafe weinen und nach Brod verlangen.
Wohl hart bist Du, wenn Du bei dem Gedanken
      Deß, was mein Herz jetzt ahnte, nicht schon trauerst.
      Und weinst Du nicht, weshalb pflegst Du zu weinen?
Wir waren wach jetzt, und die Stunde nahte,
      Wo man uns Speise sonst zu bringen pflegte;
      Doch Jeder zweifelte ob seines Traumes,
Als unter uns des grausen Thurmes Thor ich
      Zuschließen hörte, drob ich meinen Söhnen
      In’s Antlitz schaute, ohn’ ein Wort zu sprechen.
Nicht weint’ ich; so erstarrt war ich im Innern,
      Doch Jene weinten, und mein Anselmuccio
      Sprach: „Blickst mich ja so an, was hast Du, Vater?“
Doch keine Thrän’ entfiel mir, und nicht gab ich
      Den ganzen Tag ihm, noch die Nacht d’rauf Antwort,
      Bis sich der Welt zeigt’ eine neue Sonne.
Als nun ein schwacher Strahl in’s schmerzenvolle
      Gefängniß drang und auf vier Angesichtern
      Das Ausseh’n ich des eigenen gewahrte,
Biß ich vor Schmerz mich selbst in beide Hände;
      Doch Jene, glaubend, daß ich’s aus Begierde
      Nach Speise thät, erhoben sich behende
Und sprachen: „Vater, minder schmerzlich wär’s uns,
      Wenn Du von uns jetzt äßest. Du umgabst uns
      Mit diesem Jammerfleisch – nimm es uns wieder!“
Da ward ich still, sie mehr nicht zu betrüben,
      Stumm blieben wir den Tag all’ und den nächsten.
      O harte Erde, daß Du Dich nicht aufthatst!
Doch als wir bis zum vierten Tag’ nun kamen.
      Fiel Gaddo ausgestreckt zu meinen Füßen
      Und rief: „Mein Vater, ach, was hilfst Du mir nicht?“
Dort starb er, und wie Du mich hier erblickest.
      Sah ich die Drei, Eins nach dem Andern, fallen
      Vom fünften Tag’ zum sechsten, d’rauf ich blind schon
Begann herum zu tappen über Jeden
      Und sie drei Tage rief nach ihrem Tode,
Bis Hunger that, was nicht der Schmerz vermochte.

Ein Pisamscher Commmtator des Dante, Francesco di Butt, erzählt, daß man des Jammergeschreis der Verhungernden so wenig geachtet habe, wie ihres Flehens um einen geistlichen Beistand. Acht Tage nach dem Verschlusse des Thurmes öffnete man ihn wieder und begrub die Verhungerten mit den Eisen, an ihren Füßen in dem Franziskanerkloster, wo Buti die Fußeisen, als man sie ausgrub, selbst noch gesehen haben will.

Dante ist von den „Frommen“ seines Landes, hart dafür getadelt worden, daß er diese Gräuelthat ohne Weiteres dem Erzbischof allein und nicht anderen gleichzeitigen Gewalthabern aufbürdet. Es ist aber nicht widerlegt, daß derselbe, als Haupt der herrschenden Partei, nicht den mächtigsten Einfluß gehabt habe. Ueberdies schreibt, nach König Johann, eine ältere „Cronika di Pisa“, welche wahrscheinlich gegen das Ende des vierzehnten Jahrhunderts verfaßt und also fast den Zeitgenossen beizurechnen ist, den Tod des Grafen dem Erzbischof und den anderen Häuptern der Ghibellinen ausdrücklich zu; ja, Uberto Folietta, ein gründlicher, wenn auch ungleich späterer genuesischer Geschichtschreiber, berichtet, Roger habe jene schreckliche Todesart für Ugolino und die Seinen deshalb gewählt, um dem Buchstaben der Vorschrift nachzukommen, daß ein Geistlicher kein Blut vergießen dürfe.

Die Stätte dieser Unthat, jener Thurm von Gualandi, hieß seitdem „Torre di fame“, der Hungerthurm. Der Unterbau desselben ist noch bis heute erhalten, da auf ihm der Palast mit der Uhr errichtet ist, welcher neben dem Palaste der Ritter des heiligen Stephanus steht.

  1. Näheres am Schluß des zweiten Artikels.