Geschichte einer Pariser Nätherin

Textdaten
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Titel: Geschichte einer Pariser Nätherin
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aus: Die Gartenlaube, Heft 47, S. 651–652
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[651] Geschichte einer Pariser Nähterin. Ich befand mich vor neun Jahren in Paris und mit mir die sehr befreundete Familie. W., die sich in die Hauptstadt der Moden begeben hatte, um die Ausstattung ihrer liebenswürdigen Tochter Elise zu besorgen. Da waren denn auch eine Menge Stickereien nöthig, zu deren Ausführung große Sorgfalt und Geschicklichkeit gehörte. Nun war die Frau des Portiers eine ausgezeichnete Stickerin. Da sie mich oft gebeten, sie meinen Freunden und Bekannten hierfür zu empfehlen, so unterließ ich nicht, sie den W.’s vorzuschlagen. Nachdem man ihre Arbeiten sich angesehen hatte, wurden der Madame Billot, so hieß die Portierfrau, mehrere Aufträge zu sehr feiner Arbeit übergeben. Die gute Frau ging mit eben so großem Eifer als Vergnügen an’s Werk, und stichelte vom frühen Morgen bis spät in die Nacht. Aber bei aller Thätigkeit war sie doch nicht im Stande, ihre Arbeit zu rechter Zeit zu beendigen. Sie bat daher, man möchte ihr erlauben, den Rest der Arbeit einer jungen Person zu übergeben, für welche sie sich interessire. Als ich daher ausging und die Thür der Madame Billot passirte, trat diese zu mir, und zeigte mir einige bewundernswürdig gearbeitete Stickereien.

„Was ist das, Madame Billot,“ rief ich; „diese Arbeit ist beinahe schöner, als die Ihrige.“

„Ganz recht, Madame,“ erwiderte diese. „Darum meine ich, daß die Damen, die noch so viele Stickereien wünschen, wohl geneigt sein dürften, diese der jungen Demoiselle anzuvertrauen, welche diese Stickereien gefertigt hat. Sie ist eine Waise und so hübsch und wohl erzogen, ein Engel, Madame, ein wahrer Engel, bei Gott!“

„Und wie heißt dieser Engel?“ fragte ich.

„Man nennt sie Mademoiselle Lucie, und sie wohnt gerade gegenüber. Es ist sehr schmerzlich gewesen, daß ich ihr nicht einmal im siebenten Stock ein Plätzchen geben konnte; aber es ist keines leer seit langer Zeit. Ihr Vater war ein Maler, und beleidigte seine Familie, indem er die Farm verließ (dort in der Normandie, ein ganz allerliebstes Plätzchen, hörte ich), um hier seine Kunst auszuüben. Und damit die Sachen noch schlimmer würden, heirathete er ein gutes, hübsches junges Weib, ebenfalls eine Waise, ohne einen Sou. Dieses starb nach wenigen Jahren, und hinterließ ihm eine Tochter, eine liebe, süße kleine Blume, drei Jahre alt. Der [652] arme Vater machte nicht sonderliche Geschäfte mit seinem Malen; er fühlte sich so unglücklich durch den Verlust seiner Frau, und war überhaupt von schwacher Gesundheit. Nach wenigen Jahren folgte er ihr in’s Grab, und die kleine Lucie, welche die Schwestern der Barmherzigkeit erzogen hatten, ernährte sich durch Nähen. Gott segne ihr junges Herz! Schon damals, als noch ihr Vater lebte, hatte sie begonnen, zu arbeiten, um ihrem lieben Vater kleine Leckerbissen zukommen lassen zu können. Gott segne sie um der Freude willen, die sie jedesmal empfand, wenn ihr es gelungen war, ihn zu erfreuen. Nun, er starb, der arme Vater, und Lucie war allein. Ihres Vaters Verwandten wollten sie zu sich nehmen, aber sie ging nicht, weil diese ihren Vater seinem Elende überlassen hatten. „Ich will hier arbeiten, Mutter Billot,“ pflegte sie zu sagen, „und ich werde genug einnehmen, um einen hübschen Stein über meiner Eltern Grab legen zu lassen. Ich will nicht gezwungen sein, denen danken zu müssen, die sie ihrem Kummer und ihren Sorgen überliessen.“ Ach, sie ist ein braves Kind! Und so hat sie gelebt und gearbeitet, hart und geduldig, Tag für Tag, sich und ihren Kanarienvogel nährend, und dann und wann eine kleine Summe für den Stein erübrigend, den sie auf ihrer Eltern Grab setzen will! Und sie würde so dankbar sein für Arbeit gerade jetzt, denn seit einem Monat hat sie keine besonders lohnende gehabt. Und außerdem,“ fügte die gute Frau im vertraulichen Tone hinzu, „liebt sie einen jungen Mann, der sie gern heirathen möchte, aber ihrer Armuth wegen wollen es seine Eltern nicht zugeben, und sie selbst will ihn ohne deren Beistimmung nicht heirathen. Sie sagt, sie hätte genug des Elends gesehen, das eintrete, wenn man in eine Familie heirathe, in welcher man nicht gern gesehen ist. Sie versuchte, etwas zur Mitgift beizulegen, aber das ist eine gar langsame Arbeit, und ich sage ihr, sie werde so grau werden, wie meine Katze, bevor sie das zu Stande bringe. Dann seufzt sie und sagt: „Freilich wohl. Mutter Billot, aber ich kann nicht helfen; ich thue mein Bestes und es wird werden, wie der gute Gott will.“

Plötzlich besann sich die gute Frau und sagte entschuldigend: „Ach Gott, Madame, verzeihen Sie, ich halte Sie gar zu lange mit meinem Geschwätze auf.“

„Ich hoffe.“ erwiderte ich, auf die Straße tretend, „daß ich Ihrer jungen Freundin werde helfen können, ich will sie besuchen und einige ihrer Handarbeiten den Damen zeigen.“

Die Mittheilungen der Frau Billot hatten bei mir so viel Interesse für Lucie erregt, daß ich sogleich zu ihr hinüber ging. Ich fand in ihr ein so niedliches, ordentliches, hübsches und herzensgutes Kind, daß ich nicht anstand, sie meinen Freunden zu empfehlen. Diese gaben ihr Arbeit vollauf und bezahlten sie so gut, daß sie im Stande war, ihre kleine Sparbüchse ziemlich ansehnlich zu füllen.

Um kurz zu sein, sage ich nur, Lucie zog mich an; ich empfahl sie dringend allen meinen Freunden, und sie erhielt viele und reichlich bezahlte Arbeit. Doch reichte das nicht aus, um den Grabstein zu kaufen, und noch schwieriger war es, ihre Mitgift zu vergrößern. Ihr Geliebter that Alles, um sie zur Heirath zu bewegen, obgleich seine Familie bei ihrem Widerstände verharrte; aber sie blieb nicht minder fest bei ihrem Entschlusse.

Eines Tages fand ich sie bitterlich weinend. Sie erzählte mir, daß die Eltern ihres Geliebten diesen mit einem Mädchen zu verheirathen suchten, das 5000 Francs Mitgift besäße. „Ich weiß wohl,“ fügte sie bei, „Jacques wird sie trotz ihres Geldes nicht nehmen, aber gerade das schmerzt mich am meisten. Ich kann ihn, der Himmel weiß, in wie viel Jahren nicht heirathen und vielleicht niemals. Ich werde nie so viel Mitgift besitzen, und Jacques’ Jugend wird hingehen, seine Freunde werden ärgerlich werden, und ich werde dafür leiden. Ach, ich bin recht unglücklich!“

Während ich bemüht war, meine kleine Freundin zu trösten, kam ein Brief an. Er war von einem alten Onkel, dem einzigen aus ihres Vaters Familie, der jemals ein freundliches Wort zu der Waise gesprochen hatte. Sie selbst hatte ihm zuweilen kleine Geschenke geschickt, warme Socken, Nachtmützen und dergl., welche er mit Körben voll Früchte oder einem Fäßchen Aepfelwein erwidert hatte. Der Brief war von einem andern Onkel, der ihr ankündigte, daß sein Bruder todt sei und ihr ein kleines Stück Waldland vermacht habe, das von geringem Werthe wäre, weil die darauf stehenden Eichen noch sehr jung seien. Lucie schmerzte dieser Todesfall, sie war aber doch auch gerührt, daß ihrer gedacht worden war. Bei der Erwähnung des geringen Werthes der Erbschaft lächelte sie traurig und sagte:

„Ich wollte, er hätte mir Geld vermachen können, etwa 100 Francs, nicht daß ich jemals etwas von ihm gewünscht, aber was soll mir eine kleine Strecke Landes mit jungen Eichen nützen?“

„Die jungen Eichen werden alt werden,“ antwortete ich, „und dann werden Sie sie für gutes Geld verkaufen.“

Bald darauf war ich genöthigt, zu verreisen und kehrte erst nach achtzehn Monaten zurück. Kaum war ich aus dem Wagen gestiegen, als auch Madame Billot mit lachendem Gesicht mir sagte, Lucie sei voll Ungeduld, mich zu sehen, und habe sie gebeten, ihr meine Ankunft alsbald wissen zu lassen.

„Sie braucht keine Arbeit mehr,“ fügte Madame Billot geheimnißvoll hinzu, „aber ich darf Ihnen die Neuigkeit nicht erzählen; Lucie will das selbst thun.“

Bald darauf trat meine hübsche kleine Nachbarin bei mir ein. Was sie mir erzählte, war so wenig und doch so viel. Man hatte ausgefunden, daß ihr kleiner Eichenwald ein vortrefflicher Trüffelboden sei, und diese Entdeckung hatte das Grundstück um mehrere tausend Francs im Werthe erhöht, wozu noch die Gewißheit kam, daß es mit jedem Jahre werthvoller werden würde. Die Familie ihres Geliebten hatte sie besucht und war nun ebenso sehr für die Heirath, als sie ehemals dagegen gewesen. Lucie war nun eifrig beschäftigt, alles für ihre Hochzeit vorzubereiten.

„Wir haben eine kleine Farm neben dem Trüffelgrunde gekauft und wollen dort wohnen. Jacques’ Familie und die meinige hätten freilich vordem gütiger sein können,“ bemerkte die Kleine, als sie ihre Geschichte schloß, „doch ich sage Jacques, wir müssen Vergangenes Vergangenes sein lassen, und ich bin so glücklich, daß ich es nicht über’s Herz bringen kann, ihnen zu zürnen.“

Einige Tage später fand die Hochzeit statt und Lucie und Jacques sind nun wohlhabende Farmer mit einigen prächtigen Lockenköpfchen und wohnen in einem der hübschesten Häuschen der Normandie.