Gesammelte Schriften über Musik und Musiker/Phantasieen, Capricen etc. für Pianoforte (2): Dritte Reihe

Phantasieen, Capricen etc. für Pianoforte (2): Zweite Reihe Gesammelte Schriften über Musik und Musiker (1854) von Robert Schumann
Phantasieen, Capricen etc. für Pianoforte (2): Dritte Reihe
Rückblick auf das Leipziger Musikleben im Winter 1837–1838


[32]
Dritte Reihe.
Joh. Friedrich Kittl, sechs Idyllen.
Werk 2.


Idylle ist hier im weiteren Sinne als Kleinbild zu nehmen; das Pastorale tritt nur in den letzteren einigermaßen hervor. Am meisten hat sich der Componist selbst geschadet, durch seine Ueberschriften nämlich, die auf poetische Zustände vorbereiten (Trost im Scheiden; An der Gränze der Heimath etc.); aber das Talent ist hier offenbar hinter der Absicht zurückgeblieben. Etwas Prosaischeres kann es nicht leicht geben, wenn deshalb auch das Streben nach Charakteristik nicht verkannt werden soll. Vielleicht daß der Componist auf dem Clavier nicht auf seinem rechten Felde, daß er mehr in der Kirche, auf der Orgel zu Hause ist, zu welchem Ausspruch mich auch die fast ängstliche Correctheit und Einfachheit veranlaßt, wogegen mir Czerny ein Lord Byron an Kühnheit erscheinen könnte. Quinten und Octaven sucht man also in den Idyllen vergeblich, aber freilich auch nicht, was jene Fehlerlosigkeit vergessen macht: Schwung, Leben, Gesangleben.




[33]
Wielhorsky, Joseph Graf von, drei Notturno’s.
Werk 2.


Den Chopin’schen wie aus den Augen geschnitten, aber wohlthuend zart und voll anmuthiger, oft sehr edler Melodie. Ich wüßte keinen Edelmann, der bessere, aber manchen Mann von Fach, der keine ähnliche schreiben könnte. Das Talent scheint offenbar, wenn auch kein hocheigenthümliches, das sich in so streng gezogener Form freilich auch gar nicht zeigen konnte; aber der Componist versuche sich zur Probe auch in einer weniger sentimentalen Gattung, wo die Phantasie mehr ausgreifen kann, und es wird ihm glücken, da ihm die vorzügliche Kenntniß seines Instrumentes ohnehin zu Statten kommt. Im ersten und letzten der Notturno’s sind, nach Vorgang mancher Chopin’schen, bewegtere Mittelsätze eingeflochten, die, oft schon bei Chopin schwächer, als seine ersten Erfindungen, auch hier mehr aufhalten, als fortheben; es ist als würden die schönen ruhigen Wasserkringel, denen wir mit Vergnügen nachgesehen, plötzlich unterbrochen, daß sie der Blick nicht mehr festhalten kann; daher auch das zweite Notturno, das in gleicher Bewegung bis zum Schluß fortgeht, die meiste Wirkung machen wird, wenigstens auf mich gemacht hat. Im ersten fällt die große Aehnlichkeit der Melodie mit einem Weber’schen Motiv (in der Jubelouverture) auf. Das letzte hat einige sehr zarte Wendungen, [34] und einen äußerst graziösen Schluß, wie ihn irgend Chopin hinzuhauchen versteht. Dessen sonstige Kräuseleien und Säuseleien übrigens nicht nachzumachen, thut der Componist wohl; Chopin bezaubert damit, an Andern sind sie nicht auszustehen.




Julie Baroni-Cavalcabo,
3te Caprice. Werk 18. – Phantasie. Werk 19.


Einige Vorliebe für Thalberg’sche Form und Bellini’sche Melodieenweise abgerechnet, zeichnen sich auch diese Stücke, wie Alles aus der Feder der Componistin, durch viele gut musikalische Züge aus. Der weibliche Charakter verläugnet sich dabei nirgends. Eine gewisse, aber nicht ermüdende Gesprächigkeit, ein offenes Darlegen aller ihrer Gedanken, ein Nicht-fertig-werden-können mit Allem, was sie auf dem Herzen hat, sind Zeugen davon. Am erfreulichsten fällt auf, daß die Componistin, wo sie sich in gefährlichere Harmoniegänge verliert, nicht zurückweicht und Angst vor dem Ausgang bekömmt, sondern sicher fortschreitet und vollendet. Eine helfende Hand spür’ ich in keinem der Stücke; es scheint Alles Arbeit und Eigenthum der Componistin, bis auf die kleinen Mängel der Orthographie. Die Verfasserin, [35] früher in Lemberg und Schülerin von Mozart’s Sohn, lebt jetzt in Wien. –




Fr. Chopin,[H 1]
Impromtu. Werk 29. – Vier Mazureks. Werk 30. – Scherzo. Werk 31.


Chopin kann schon gar nichts mehr schreiben, wo man nicht im 7ten, 8ten Tacte ausrufen müßte: „das ist von ihm!“ Man hat das Manier genannt und gesagt, er schreite nicht vorwärts.[H 2] Aber man sollte dankbarer sein. Ist es denn nicht dieselbe originelle Kraft, die euch schon aus seinen ersten Werken so wunderbar entgegenleuchtet, im ersten Augenblick euch verwirrt gemacht, später euch entzückt hat? und wenn er euch eine Reihe der seltensten Schöpfungen gegeben, und ihr ihn leichter versteht, verlangt ihr ihn auf einmal anders? Das hieße einen Baum umhacken, weil er euch jährlich dieselben Früchte wiederbringt. Es sind aber bei ihm nicht einmal dieselben, der Stamm wohl der nämliche, die Früchte aber in Geschmack und Wuchs die verschiedenartigsten. So wüßte ich obigem Impromtu, so wenig es im ganzen Umkreis seiner Werke zu bedeuten hat, kaum eine andere Chopin’sche Composition zu vergleichen; es ist wiederum so fein in der Form, eine Cantilene zu Anfang und Ende von reizendem Figurenwerk eingeschlossen, so ein eigentliches Impromtu, nichts [36] mehr und nichts weniger, daß ihm nichts anderes seiner Composition an die Seite zu stellen. Das Scherzo erinnert in seinem leidenschaftlichen Charakter schon mehr an seinen Vorgänger: immerhin bleibt es ein höchst fesselndes Stück, nicht uneben einem Lord Byron’schen Gedicht zu vergleichen, so zart, so keck, so liebe- wie verachtungsvoll. Für Alle paßt das freilich nicht. Die Mazurek hat Chopin gleichfalls zur kleinen Kunstform emporgehoben; so viele er geschrieben, so gleichen sich nur wenige. Irgend einen poetischen Zug, etwas neues in der Form oder im Ausdruck hat fast jede. So ist es in der zweiten der obengenannten das Streben der H moll-Tonart nach Fis moll, wie sie denn auch (man merkt es kaum) in Fis schließt; in der dritten[H 3] das Schwanken der Tonarten zwischen weicher und harter, bis endlich die große Terz gewinnt; so in der letzten, die jedoch eine matte Strophe (auf S. 13) hat, der plötzliche Schluß mit den Quinten, über die die deutschen Cantoren die Hände über die Köpfe zusammenschlagen werden. Eine Bemerkung beiläufig: die verschiedenen Zeitalter hören auch verschieden. In den besten Kirchenwerken der alten Italiäner findet man Quintenfortschreitungen, sie müssen ihnen also nicht schlecht geklungen haben. Bei Bach und Händel kommen ebenfalls welche vor, doch in gebrochener Weise, und überhaupt selten; die große Kunst der Stimmenverflechtung mied alle Parallelgänge. In der Mozart’schen Periode verschwinden sie gänzlich. Nun trabten die großen Theoretiker [37] hinterher und verboten bei Todesstrafe, bis wieder Beethoven auftrat und die schönsten Quinten einfließen ließ, namentlich in chromatischer Folge. Nun soll natürlich ein so chromatischer Quintengang, wird er etwa zwanzig Tacte lang fortgesetzt, nicht als etwas Treffliches, sondern als etwas äußerst Schlechtes ausgezeichnet werden, gleichfalls soll man dergleichen aber auch nicht einzeln aus dem Ganzen herausheben, sondern in Bezug zum Vorhergehenden, im Zusammenhang hören.[H 4] [H 5]




Franz Schubert, 4 Impromtu’s für Pianoforte.
Werk 142.


Er hätte es noch erleben können, wie man ihn jetzt feiert; es hätte ihn zum Höchsten begeistern müssen. Nun er schon lange ruht, wollen wir sorgsam sammeln und aufzeichnen, was er uns hinterlassen; es ist nichts darunter, was nicht von seinem Geist zeugte, nur wenigen Werken ist das Siegel ihres Verfassers so klar aufgedrückt, als den seinigen. So flüstert es denn in den zwei ersten Impromtu’s auf allen Seiten „Franz Schubert“ wie wir ihn kennen in seiner unerschöpflichen Laune, wie er uns reizt, und täuscht und wieder fesselt, finden wir ihn wieder. Doch glaub’ ich kaum, daß Schubert diese Sätze wirklich „Impromtu’s“ überschrieben; [38] der erste ist so offenbar der erste Satz einer Sonate, so vollkommen ausgeführt und abgeschlossen, daß gar kein Zweifel aufkommen kann. Das zweite Impromtu halte ich für den zweiten Satz derselben Sonate; in Tonart und Charakter schließt es sich dem ersten knapp an. Wo die Schlußsätze hingekommen, ob Schubert die Sonate vollendet, oder nicht, müßten seine Freunde wissen; man könnte vielleicht das vierte Impromtu als das Finale betrachten, doch spricht, wenn auch die Tonart dafür, die Flüchtigkeit in der ganzen Anlage beinahe dagegen. Es sind dies also Vermuthungen, die nur eine Einsicht in die Originalmanuscripte aufklären könnte. Für gering halte ich sie nicht; es kömmt zwar wenig auf Titel und Ueberschriften an; andererseits ist aber eine Sonatenarbeit eine so schöne Zier im Werkkranz eines Componisten, daß ich Sch’n. gern zu seinen vielen noch eine andichten möchte, ja zwanzig. Was das dritte Impromtu anlangt, so hätte ich es kaum für eine Schubert’sche Arbeit, höchstens für eine aus seiner Knabenzeit gehalten; es sind wenig oder gar nicht ausgezeichnete Variationen über ein ähnliches Thema. Erfindung und Phantasie fehlen ihnen gänzlich, worin sich Schubert gerade auch im Variationsgenre an andern Orten so schöpferisch gezeigt. So spiele man denn die zwei ersten Impromtu’s hinter einander, schließe ihnen, um lebhaft zu enden, das vierte an, und man hat, wenn auch keine vollständige Sonate, so eine schöne Erinnerung an ihn mehr. Kennt man seine Weise schon, [39] so bedarf es fast nur einmaligen Durchspielens, sie vollkommen inne zu haben. Im ersten Satz ist es der leichte phantastische Zierrath zwischen den melodischen Ruhestellen, was uns in Schlummer wiegen möchte; das Ganze ist in einer leidenden Stunde geschaffen, wie im Nachdenken an Vergangenes. Der zweite Satz hat einen mehr beschaulichen Charakter, in der Art, wie es viel von Schubert gibt; anders der dritte (das vierte Impromtu), schmollend, aber leise und gut: man kann es kaum vergreifen; Beethoven’s „Wuth über den verlornen Groschen,“ ein sehr lächerliches, wenig bekanntes Stück fiel mir manchmal dabei ein.

Es ist hier auch passende Gelegenheit, der von Franz Lißt für Clavier bearbeiteten Franz Schubert’schen Lieder zu erwähnen, die viele Theilnahme im Publicum gefunden. Von Lißt vorgetragen, sollen sie von großer Wirkung sein, andere als Meisterhände werden sich vergeblich mit ihnen bemühen; sie sind vielleicht das Schwerste, was für Clavier existirt, und ein Witziger meinte „man möchte doch eine erleichterte Ausgabe derselben veranstalten, wo er nur neugierig, was dann herauskäme, und ob wieder das ächte Schubert’sche Lied?“ Manchmal nicht: Lißt hat verändert und zugethan; wie er es gemacht, zeugt von der gewaltigen Art seines Spiels, seiner Auffassung: Andere werden wieder anders meinen. Es läuft auf die alte Frage hinaus, ob sich der darstellende Künstler über den schaffenden stellen, ob er dessen Werke nach Willkür für sich umgestalten [40] dürfe. Die Antwort ist leicht: einen Läppischen lachen wir aus, wenn er es schlecht macht, einem Geistreichen gestatten wir’s, wenn er den Sinn des Originals nicht etwa geradezu zerstört.[H 6] In der Schule des Clavierspiels bezeichnet diese Art der Bearbeitung ein besonderes Capitel.




Anmerkungen (H)

  1. [GJ] II. 508. Anmerkung 26: Hierher gehört auch das Notturno in H dur (Werk 32 Nr. 1), das in Schlesingers Album du Pianiste erschien. Schumann sagte darüber: „Von Chopin enthält das Album ein Notturno, den Dichter in den ersten Tacten verrathend. Der Gesang des ersten Verses (man kann es so heißen) ist möglichst zart und wohllautend; matter dagegen, wie Chopins zweite Erfindungen so häufig, der zweite. Den Schluß halte ich für später angesetzt.“ – Ueber das in demselben Album erschienene H moll-Scherzo von Mendelssohn bemerkte Schumann: „Ein kleines Scherzo von Mendelssohn, schon früher (1829) als Beilage zur Berliner allg. musik. Zeitung (A. B. Marx) abgedruckt, macht sich trotz seiner Kürze oder vielmehr wegen ihr geltend. Es läßt sich kaum geistreicher sein in so wenig Sekunden.“ (1838, VIII, 70.) Commons
  2. [GJ] II. 508. Anmerkung 27: Diese Ansicht vertrat auch Zuccalmaglio, der die früheren Werke Chopins – die beiden Concerte, das Trio, die ersten Etüden und Mazurkas – den später geschriebenen vorzog. Als Wedel in den „Vertrauten Briefen an H. Heine“ (1838, IX, 1) bei der Erwähnung von Chopins außerordentlichem Spiel äußerte: „An Fertigkeit hat es wohl keiner der Meister ihm noch zuvorgethan, und an prunkenden fingergewandten Klangfiguren, Ausschmückungen der Gedanken kann man [509] den Künstler, aber auch nur in diesem, neben den verewigten Hummel stellen“, bemerkte Florestan dazu in einer Fußnote: „Dies Lob dünkt mir ein sehr kleines, wie denn diese beiden Künstler kaum zu vergleichen sind. Gewiß aber haben an Hummels Compositionen die Finger weit mehr Antheil als an Chopins.“ Commons
  3. [WS] Vorlage: zweiten
  4. [GJ] II.135: Als Beleg dafür war noch der Schluß der Cis moll-Mazurka (mit der bekannten Quintenkette) abgedruckt und hinzugefügt: „Und so seid mir gegrüßt, liebe Quinten! Dem Schüler streichen wir weg, was schülerhaft; dem schwärmerischen Jüngling hören wir gern zu und vom Meister lassen wir uns gar alles gefallen, was schön klingt und singt.“ Commons
  5. [GJ] II.509, Anmerkung 28: Gegen derartige harmonische Freiheiten war Schumann später doch empfindlicher, weswegen er diese Stelle wohl auch gestrichen hat. Uebrigens dachte Schumann in der Quinten- und Octavenfrage auch in jüngeren Jahren keineswegs so jacobinisch, wie bisweilen wohl angenommen wird. Es befestigte sich immer mehr die Ueberzeugung in ihm, daß die alten guten Satzregeln doch etwas mehr als nur graue Theorie seien. Gleichwohl hing er ihnen nicht mit engherzigem Buchstabenglauben an. Dafür ließen sich Belege genug beibringen. Ein scherzhaftes Beispiel fand ich in der Original-Handschrift der Davidsbündlertänze. Nr. 6 (D moll enthält im Mittelsatz (D dur), Tact 10, eine Quintenfortschreitung ; darunter steht von Schumanns Hand ein lakonisches: „Ei, ei.“ Schumann ließ die Quinten stehen. – Während er gelegentlich einmal hinwirft (1836), daß er im Traum eine Musik von Engeln gehört habe, die „der himmlischesten Quinten voll“ gewesen, so macht er ein anderes Mal (1835) auf eine Octavenfortschreitung in Mendelssohns E dur-Sonate aufmerksam. An Hirschbach schreibt er (13. Juni 1838): „Schon längst halte auch ich im Sinn, gegen gewisse Theorieen zu Felde zu ziehen, im Grunde gegen alle“ (– eine Florestansche Hyperbel –) bemerkt dann aber (13. Juli 1838) zu des Componisten Hamlet-Ouvertüre: „Einige Octaven darin kann ich aber unmöglich gutheißen, ebenso in den Quartetten.“ Wenn er gegen Zuccalmaglio äußert (8. Aug. 1838): „Ich höre mit Musiker-Ohren und kann auch im Volkslied keine Quinten und Octaven ausstehen“, so überrascht dagegen die Florestansche Verherrlichung der Quintenkette in Chopins Cis moll-Mazurka. 1853 tadelt er in einem Streichquartett von Böhme eine Quintenfortschreitung, die er beseitigt wünscht, da das Quartett „nach alten guten Regeln ein so correctes sei“. Commons
  6. [GJ] II.137: Hier ist gestrichen: „Und davon kann bei einem Musiker wie Liszt keine Rede sein.“ — Spätere Lieder-Uebertragungen desselben gefielen Schumann übrigens nicht; seine eigenen Lieder wünschte er wenigstens „ohne Pfeffer und Zuthat à la Liszt“. (Brief an Reinecke v. 30. Juni 1848.) Commons
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