Gesammelte Schriften über Musik und Musiker/Lied und Gesang (1)

Kirchenaufführung in Leipzig (2) Gesammelte Schriften über Musik und Musiker (1854) von Robert Schumann
Lied und Gesang (1)
Für Pianoforte


[130]
Lied und Gesang.
Esther, ein Liederkreis in Balladenform in fünf Abtheilungen von L. Giesebrecht, für eine Singstimme mit Pianoforte componirt von C. Löwe.
Werk 52.


König Casimir von Polen verlangt die schöne Jüdin Esther zur Buhlin. Sie ergibt sich ihm unter der Bedingung, daß ihrem aus Ungarn vertriebenen Volke Schutz in seinem Lande zugesichert werde, dagegen sie ihren Erstgebornen christlich taufen lassen muß. Später sterben der König und das Kind. Die Mutter wird aus dem königlichen Schloß gewiesen. Ihr Kind liegt auf dem Christen-Kirchhof.

Dies der Inhalt des Gedichts, das man neu und natürlich erfunden nennen muß, wenn es sich auch erst nach öfterem Lesen in seinen einzelnen Theilen vor uns entfaltet. Namentlich schwankt man bei den ersten Versen, wem sie in den Mund zu legen, — ob dem Königssohne, der noch nicht zum Thron gelangt ist, oder irgend wem. Wie viel musikalische Elemente die Handlung übrigens in sich begreift, sieht Jeder; ein übermüthiger [131] Herrscher und ein gedrücktes Volk, ein großer König und eine schöne Jüdin, der Schmerz der Mutter und die Aufopferung für ihr Volk: Gegensätze, wie sie die Musik wiederzugeben und wie sie, ihrem Charakter nach, Niemand besser als gerade Löwe zu einem Gemälde zu vereinen vermag.

Jedes der Lieder hat seinen besondern Ton. Im ersten heimliches Sehen, feurige Liebeserklärung, Abwehren der Jüdin „Christ, deine Liebesworte brennen mir in die Seele heiß und scharf; Von Israel sollt’ ich mich trennen, das Gott erwählt, das Gott verwarf?“ Fast alles A moll, wenig C dur.

Im zweiten Abschnitt Verlangen des Königs nach Esther, drohender Ton, da sie jenen ausschlägt, drohendere Wiederholung. F dur geht nach Moll. Endlich entschließt sie sich „doch, König, nur um hohes Pfand, um der Hebräer Heil und Leben und um dein halbes Polenland.“ Die Musik ist leidenschaftlich, fast theatralisch.

Im dritten Liede erst Ergebung Esthers und Trost im Heil, das sie über ihr Volk gebracht: dann Schmerz über ihren Erstgebornen „Wohin, wohin? die Priester kommen, die Taufe hat sein Haupt genetzt.“ Das folgende Motiv erinnert an eines aus dem zweiten Abschnitt.

Im vierten Liede Freude Esthers an ihren Zwillingstöchtern, die man ihr gelassen, mit eigenthümlicher Begleitung. Meldung vom Tode ihres Sohnes „Gott [132] Abrahams, du hast gegeben, was du genommen hast, ist dein.“ Prächtige Accorde, die sich in ein Glockengeläute verlieren. Der Marschall sagt den Tod des Königs an. Sie wird fortgewiesen „Kommt Kinder, kommt zu unserm Volke, die Judengasse nimmt uns auf.“ Der Rückblick auf den Anfang des Ganzen hebt sich in der Musik zart hervor.

Im letzten Liede reiches A dur. Israel ist wohlhabend worden „Auch meine Zwillingstöchter stehen wie Lilien Gottes aufgeblüht: doch muß ich still im Leide gehen“ spricht Esther. Die Musik kehrt in das ursprüngliche A moll zurück „das weiße Kreuz das ist das Zeichen, da find’ ich meines Sohnes Grab. Hier ist es still, hier möcht’ ich weinen“ etc. Und der Vorhang rollt leise über die einsame Scene.




Der Gott und die Bajadere, von Goethe. – Ritter Toggenburg, v. Schiller. – Die Braut von Korinth, von Goethe. – Sieben Gedichte aus den Bildern des Orients u. d. Frithiofssage. – Hymne, v. Rellstab. – Drei Gesänge, von Goethe. Sämmtlich comp. für eine Singst. mit Pfte. von Bernhard Klein.
Heft 1—6 d. nachgel. Ball. u. Gesänge.


Wenn Löwe fast jedes Wort des Gedichtes charakteristisch ausmalt in der Musik, so zeichnet B. Klein seinen Gegenstand, gleichviel welcher es sei, nur in den [133] nöthigsten Umrissen hin, in einer Einfachheit, die oft unglaublich wirkt, oft aber auch beengend und quälend. Einfachheit macht das Kunstwerk noch nicht und kann unter Umständen eben so tadelnswerth sein, als das Entgegengesetzte, Ueberladung; der gesunde Meister aber nutzt alle Mittel mit Wahl zur rechten Zeit. So mag der Gott und die Bajadere, dieses schön-menschlichste aller Gedichte, was dessen ruhige, großartige Stellen betrifft, kaum würdiger aufgefaßt werden, als es B. Klein gelungen ist. Wo die Dichtung aber sinnlicher, malerischer, indischer wird, bleibt die Musik meistens zu ungefällig zurück; man will dann mehr, weichen fleischigen Ton; im gleichen Grad, wie hier Franz Schubert, Löwe und viele der Neueren oft zu materiell auftragen, thut es Klein zu wenig, und, wo er gezwungen es möchte, ohne Freiheit und Lust. Denke man sich nur an manchen Stellen die bedeutenden Worte weg und man findet oft fast nichts als allgemeine Harmonieen, gewöhnliche Rhythmen und Melodieen. Diese Hartnäckigkeit, mit der wir in Klein’s Compositionen alle materiellen Mittel vernachlässigt sehen, bei Seite gelassen, empfängt man, wie wir versichern können, in den beiden Goethe’schen Balladen zwei höchst edle ihres Schöpfers würdige Dichtungen, an denen sich der Componist sichtlich selbst gelabt haben mag. Und wenn er vom Genie, das Höhe und Tiefe zugleich, nur einen Theil an der letztern hat, so erhebt er sich namentlich am Schluß von Mahadöh, gleich wie der Gott mit der [134] Bajadere selbst, daß man der seligen Erscheinung, die sich mit dem Aether vereint, noch lange und tiefergriffen nachschaut.

Eben so schmucklos und ruhig wird uns die Geschichte vom Toggenburg erzählt: einzelne Stellen stehen sogar still. Um zu wirken, bedarf die Musik der Belebung durch zarteste Declamation, wie sie dem Vortrage B. Klein’s so eigen gewesen sein soll. Die Musik an sich bietet nichts Besonderes.

Unter den sieben Gesängen zeichnet sich der fünfte durch den unvollkommenen Schluß aus: ein Hindeuten auf etwas Zukünftiges, wie es das Gedicht ausspricht. Von den orientalischen Bildern von Stieglitz verlangte ich mehr Reiz, Wärme, Neuheit, dagegen die starren Tegner’schen Sagen um so eigner anklingen werden.

Die Hymne von Rellstab beginnt der Componist in G moll und schließt in As dur, gleich als ob, wie in dem Gedicht, die Stimmung eine höhere würde. Im Uebrigen war das Gedicht kaum zu verfehlen, aber auch nicht tiefer aufzufassen.

In den letztangeführten Goethe’schen Liedern scheinen mir das zweite und noch mehr das letzte vortrefflich, dagegen ich in Mignon’s Lied „Kennst du das Land,“ wenn nicht die schmerzliche Innigkeit, doch alle Grazie vermisse, die uns aus den Worten wie aus einem himmlischen Gesichte entgegenströmt.




[135]
Bilder des Orients von H. Stieglitz, für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte componirt von Heinrich Marschner.
Werk 90.


Bilder sind es, die du hier empfängst, lieber Leser, — Bilder in silbernen und goldenen Rahmen, darauf du die Liebesgeschichte zwischen Rose und Nachtigall sehen kannst, oder Hafis seligschauende Gestalt, oder ziehende Carawanen, oder schnaubende Maurenrosse. Schon die Gedichte wie aus einem morgenländischen Quell über Ananasfrüchte hinfließend, und der Sänger fing die Fluth in köstlichen Schalen auf! Erlabe sich Jeder an solcher Musik, an solchem Doppelleben in Sprache und Musik; hier lebt und flüstert Alles, fühlt sich jede Sylbe, jeder Ton; zwei Meister begegneten und verstanden sich. Im ersten Liede stehst du vor Fitnes Zelt in liebeglühender Erwartung. Im zweiten loosen die Husseiniten, „wer Turans Mörder sich dürfte rühmen;“ im dritten wird Jussuff Turan rächen. Dann will Fitne den erschlagenen Geliebten mit ihren Küssen erwecken, — ein Gesang so schmerzlich, so wahr; die Töne sind wie fallende Thränen. Im fünften aber steht Maisuna am Brunnen und harrt auf den Geliebten, — und wie sie seines Besitzes gewiß ist, so gibt es auch die Musik fest, mild, dabei immer orientalisch wieder. So scheint sich, wo man nur aufschlägt, Reiz, Frische, Eigenthümlichkeit und Schönheit dieser Lieder nach allen Seiten [136] hin zu steigern, daß ich nicht weiß, welchem einzelnen der Preis gebühre. Ehre also dem Meister!




Sechs Gesänge für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte: Worte von G. Keil, Musik von Ferdinand Stegmayer.
Werk 13.


Das ausländische Gesinge aus dem Feld zu schlagen und die Liebe des Volkes zur wahren, d. h. zu der Musik, die natürliche, tiefe und klare Empfindungen kunstgemäß ausspricht, wiederum zu beleben, bedarf es vor Allem der Pflege und Schützung unsers guten deutschen Liedes. Wie wenig es uns überhaupt an Liedern fehlt, weiß Jeder; man könnte ganz Deutschland alljährlich damit überbauen. In dieser Unzahl aber nichts zu übersehen, wer vermöchte das und wie vieles des Bescheidenen mag hier verborgen geblieben sein! Sei hiermit also der Lieder von Stegmayer gedacht, die, wie sie aus einem innigen Herzen kommen, diesen Ursprung nirgends in ihrer Wirkung verfehlen können. Eben nur ein Deutscher kann solche heimliche trauliche Lieder machen. Dazu singen sie sich, so zu sagen, von selbst; nichts was da aufhielte oder in ein gelehrtes Erstaunen setzen wollte. Gedanken eines Glücklich-Liebenden, Seligkeit des Kusses, ein Lied in der Nacht, eines im Frühling, eines der Spinnerin, zuletzt ein deliziöses Ständchen, Alles [137] in hübschen Worten, von der Musik belebt und verschönt. Eben so hält sich die Begleitung wie vom alten Triolenschlendrian, so von ultraromanesker Malerei frei und tritt, je nach den Worten, zurück oder mehr vor. Im letzten Lied, das ich eben deliziös nannte, fällt nur der plötzliche Rückgang in die anfängliche Tonart am Schluß auf; es hätte gewiß viel bedeutsamer in Des dur geschlossen. Unwillkührlich schlägt man aber auf der letzten Seite um, ob nicht noch mehr Lieder kommen; mit andern Worten, wir bitten um viele noch.




Sechs Gedichte aus Wilhelm Meister v. Göthe, f. eine Singst. mit Begl. d. Pfte. comp. v. Joseph Klein.
Das Schloß am Meere und der Wirthin Töchterlein, zwei Balladen von Uhland, für eine Singst. mit Begl. des Pfte. comp. von Joseph Klein.


Soll ich es gleich gestehen, so scheint es mir, als ob sich der Componist noch zu sehr vor seinem Gedichte, als ob er ihm wehe zu thun fürchte,[H 1] wenn er es zu feurig anfaßte; daher überall Pausen, Stockungen, Verlegenheiten. Das Gedicht soll aber dem Sänger wie eine Braut im Arme liegen, frei, glücklich und ganz. Dann klingt’s wie aus himmlischer Ferne. Sind aber noch formelle Rücksichten zu nehmen oder fehlt es gar an Sympathie, so kömmt nichts Beglückendes zu Stand, was es doch sein soll. Dieses Eckige im Einzelnen, das [138] dem Eindruck des oft gründlich aufgefaßten Ganzen in den obigen Gesängen überall im Wege steht, wird noch durch den Uebelstand vermehrt, daß der Componist in kleinen zwölf Zeilen kurzen Liedchen zu oft den Tact wechselt. Wozu solche Maßregeln? Folgt denn etwa in den Wilhelm Meister-Liedern ein Hexameter nach einer dreifüßigen Jambuszeile, und ist’s nicht vielmehr der regelmäßigste Pulsschlag eines Dichterherzens, wie es freilich nur eines auf der Welt gegeben hat? Sodann beleidigt mich, daß im „Kennst du das Land“ das ausdrucksvolle „dahin“ von den meisten Componisten so leicht, wie ein Sechszehntel genommen wird. Gewiß soll es nicht, wie z. B. in der Jessonda, gewiß aber inniger und bedeutender accentuirt werden, als man es in den meisten der bekannten Compositionen findet. Was aber noch schlimmer, überhaupt kenne ich, die Beethoven’sche Composition ausgenommen, keine einzige dieses Liedes, die nur im Mindesten der Wirkung, die es ohne Musik macht, gleich käme. Ob man es durchcomponiren müsse oder nicht, ist eins; laßt es euch von Beethoven sagen, wo er seine Musik her bekommen. Unter den übrigen Liedern aus W. Meister scheinen mir das zweite und fünfte die bedeutendsten, dagegen ich Philinens Lied für mißlungen halte.

Die beiden sinnverwandten Uhland’schen Balladen sind wohl angelegt und enthalten einzelne schöne Stellen. In der zweiten wagt der Componist einen Kampf mit Löwe. Der Gedanke, das Lied mit dem Gaudeamus igitur anfangen [139] zu lassen, wäre zu loben, wenn es nicht der Declamation der Worte hier und da im Wege stünde. Die erste Hälfte der Antwort der Wirthin gefällt mir durchaus, die zweite scheint mir unpassend. Wahrer Schmerz schreit nicht, selbst bei niederen Menschen nicht. Um wie viel zarter hätte Hr. Klein die zweite Hälfte, wie die erste, nur in Es moll, singen lassen können. So ist auch, dem Ausdruck des Gedichtes entgegen, der Schmerz des ersten Burschen viel tiefer in der Musik, als der der Uebrigen. Löwe hat uns hier ein Meisterstück geliefert, wie denn das Vergleichen der beiden Compositionen viel Lehrreiches und Anziehendes darbieten muß.




Vier Gesänge für Baß oder Bariton mit Begleitung des Pianoforte von H. Triest.
Werk 1.
Sechs Gesänge mit Begleitung des Pianoforte von H. Triest.
Werk 2.


Und wie man einem jungen Componisten über sein Opus 1. nichts Erfreulicheres sagen kann, als daß es von Talent zeuge, so soll Hr. Triest gleich vorn herein dies Schönste erfahren. Vieles freilich fehlt, namentlich den Liedern unter Werk 2., zur Vollendung; einige scheinen mir auch, wenn nicht des Druckes nicht unwerth, doch im Verhältniß zu den Ansprüchen, die man der Kraft [140] des Verfassers stellen kann, zu unbedeutend, als daß ich sie veröffentlicht hätte. Zu den verfehlten rechne ich Nr. 4, „Auf der Reise“, deren Musik fast durchaus gegen den Sinn der Worte anstrebt, namentlich in der sich viermal wiederholenden steigenden Sexte, — zu den mißlungenen das „Sehnen“ von Heine, für dessen tiefen wunden Schmerz die Musik noch ganz andere Zeichen besitzt, — zu den unbedeutenden endlich das „Thal“ und „Engelstöne“, in welchem letzteren ich auch die übel angebrachte Malerei des Nachtigallenschlags wegwünschte, oder, bestünde der Componist durchaus auf Täuschung, sie wenigstens in das begleitende Pianoforte gelegt hätte. Was außer diesen Liedern übrig bleibt, verdient Lob; am bedeutendsten heben sich der erste und dritte Sang in Werk 1. hervor, was um so bemerkenswerther ist, da sie sich gerade in einer Sphäre bewegen, in der Löwe so Einziges geschaffen, — aber auch um so natürlicher, da sich der Componist auf dem Titel einen Schüler von Löwe nennt. Auch das „Lied des Gefangenen“ von Uhland gefällt mir bis auf eine kleine harmonische Steifheit am Schluß hin gar wohl; das Lied schließt im Gesange mit einer scharfen Dissonanz. Möge sie dem Verfasser in spätern Compositionen zur reinsten Blüthe aufgegangen sein.




[141]
Vier Lieder von Lord Byron, mit deutschem und englischem Text, in Musik gesetzt mit Begleitung des Pianoforte von Ferdinand Ries.
Werk 179.
Sechs böhmische Lieder von W. Hanka (mit deutscher Uebersetzung von Swoboda) für eine Singstimme mit Begl. des Pfte. von W. D. Tomaschek.
Werk 71.


Mit großer Theilnahme nahm ich die beiden Hefte zur Hand. Stimmt es doch zu allerhand freudigen und wehmüthigen Betrachtungen, zwei anerkannte Meister in ihren älteren Tagen noch einmal leichte Lieder singen zu hören: zu freudigen — denn wir wissen sie noch am Leben und wirkend: zu wehmüthigen Bildern — denn jeder Abend „mit seinen langen Schatten, die nach Osten zeigen,“ weckt ja welche. Ob man nach diesen späten Nachkömmlingen auf das frühere Kunstschaffen dieser Componisten schließen dürfte? Im heutigen Fall beinahe. Die Lieder von Tomaschek sind heiter, lebenslustig, beinahe verliebt: die Texte, die er sich wählte, naive Liebeslieder, die von Nachtigallen, blauen Augen, Veilchen handeln: — die von Ries dagegen düster, unzufrieden, Lord Byron’scher Weltansicht, — beide Hefte durchaus einfach, aus dem Ganzen gearbeitet, meisterlich, im Einzelnen schön.




Anmerkungen (H)

  1. [GJ] „vor seinem Gedichte fürchte, als ob er ihm wehe zu thun dächte, wenn etc.“ I.296
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