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Titel: Gerechtigkeit in Rom
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aus: Die Gartenlaube, Heft 40, S. 664–666, 686–690, 703–706, 723–727
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[664]
Gerechtigkeit in Rom.


Erinnerungen eines einstigen Schlüsselsoldaten.


1.


Es war in der zweite Hälfte des Jahres 186*, als ich als Freiwilliger in die päpstliche Armee eintrat. Wenn ich von meinem heutigen geläuterten Standpunkt in jene Zeit zurückblicke und mich mir vergegenwärtige als begeisterten Kämpfer für das Pontificat, für dasselbe Princip, dem ich heute in jeder Form entgegentrete, so erscheint mir Alles fast wie ein Traum. Und doch hatte meine damalige Denk- und Handlungsweise nichts Wunderbares, Unverständliches an sich.

Aus gutkatholischer Familie stammend, wurde ich, noch nicht neun Jahre alt, in’s Kloster zur Erziehung geschickt. Du lieber Himmel, welch eine Erziehung! Gebet, Gottesdienst, Beichte, Predigten, Vorträge, geistliche Exercitien in Kirche und Haus, in der Schule aber Religion nicht nur in den zahlreichen Religionsstunden, sondern auch in allen anderen Lehrfächern, bei den Sprachübungen und vor allem in der Geschichte! In unseren Frei- und Unterhaltungsstunden aber leisteten uns ultramontane Journale, Bücher von unbezweifelter Religiosität und unsere mönchischen Erzieher Gesellschaft. Welche Lebensanschauungen wir aus solchen Quellen gewinnen mußten, braucht nicht erst erläutert zu werden, und ebenso wenig kann es Wunder nehmen, daß ein guter Theil von uns Jungen früher oder später Glaubensschwärmer wurde. „Stellvertreter Gottes“, Beglücker der Menschheit, „geistlich“ zu werden, war für die meisten von uns das höchste Ideal, und viele sind in der That „geistlich“ geworden.

Dazu hatte nun ich, ein kraftstrotzender, wilder Junge, keine Lust; gleich den meisten männlichen Mitgliedern meiner Familie wollte ich Soldat werden. Was lag da näher, als jenes moderne geistliche Ritterthum der päpstlichen Armee, das uns von den sonst dem Kriegshandwerk wenig zugethanen Mönchen als das Musterbild des Soldatenthums gepriesen wurde! Bücher, in denen die Heldenthaten und das gottgefällige Leben römischer Zuaven geschildert waren, gehörten zu meiner Lieblingslectüre. Und als nach der großen Retirade von Castelfidardo einmal ein solcher Papstritter in abgeschabter Uniform, waffenlos „fechtend“, in unserem Kloster erschien, von den Patres mit Auszeichnung behandelt, an den Ehrenplatz des Tisches gesetzt wurde und von der ewigen Stadt und ihren Herrlichkeiten erzählte, da nahm ich mir fest vor, nichts anderes als ein Held zu werden.

Als ich dann aus den Klostermauern in das Weltleben hinaustrat und dieses seinen tausendfältigen Einfluß durch Familie, Beruf, Freundschaft, Vergnügen, Erfahrung geltend machte, da fingen die alten Phantasiebilder freilich allmählich zu verblassen an. Mein Geist empfing zahllose neue, bisher ungeahnte und mit dem Anerzogenen in Widerspruch stehende Eindrücke; der Zweifel, der Vater aller Erkenntniß, begann – wenn auch erst schüchtern und leise – sein Werk, und wäre diesem natürlichen Entwickelungsgange nichts hindernd in den Weg getreten, so wäre mir wohl mancher spätere Kampf, manches Opfer erspart geblieben. Aber die in das bildsame Gemüth der Jugend gelegten Keime sitzen gar tief und fest, und anerzogene Grundanschauungen können nicht auf einmal beseitigt werden, sondern nur durch lange, unausgesetzte und consequente Arbeit, für deren glücklichen Erfolg die Beseitigung aller der Einflüsse, welche das Unkraut erhalten und in seinem Wachsthum fördern, die wesentliche Voraussetzung ist. Wie viele Mittel hat aber nicht die Kirche, und hatte sie noch viel mehr damals, ihre Zöglinge auch selbst nach den Lehrjahren in ihre magischen Cirkel zu bannen und sie durch kirchliche und weltliche Mittel, vor allem durch ihr schlau organisirtes Vereinswesen zu beeinflussen!

In jener Zeit war es besonders der Pius-Verein, welcher es sich zur besonderen Aufgabe machte, Gelder zur Anwerbung und zum Unterhalt päpstlicher Soldaten zu sammeln, und der, wenn das Werbewesen nicht so recht vorwärts gehen wollte, alle Mittel spielen ließ, um junge Leute zum Eintritt in die römische Armee zu bewegen – dem gesetzlichen Verbot der Anwerbung zum Trotz. Auch die ultramontane Presse wurde natürlich zu diesem Zwecke benutzt und in ihr die Verdienstlichkeit und der Glanz des päpstlichen Dienstes mit lebhaften Farben geschildert, was selbstverständlich Alles nicht ohne Wirkung auf mich blieb, indessen mich doch kaum zur Zerreißung aller neuen Bande vermocht hätte, wäre nicht noch etwas Besonderes hinzugekommen. In dem Gesellenvereine zu M*, in dem ich mich eines Abends auf Einladung eingefunden hatte, trat, durch den Präses eingeführt, ein römischer Officier in voller Uniform auf und schilderte in bewegten Worten die Nothlage des heiligen Vaters, der von allen Seiten von den Feinden der Kirche bedrängt werde und sich deshalb an seine waffenfähigen Söhne um Hülfe wende. Die Pflicht, Rom zu Hülfe zu eilen, die Verdienstlichkeit und den Ruhm einer solchen Handlung, dazu den Zauber der Natur und Kunst des classischen Landes, die Vorzüge und die Ehren des Dienstes – all das malte der kluge Römer in lebhaftesten Farben zu einem verführerischen Gesammtbilde aus.

Meine Phantasie war auf’s Tiefste erregt, trunken; all die [665] alten Bilder tauchten wieder vor mir auf, und das Dazwischenliegende zerrann in Nichts; mein Schicksal war entschieden. In meiner Schwärmerei verließ ich Familie, Freunde, Lebensstellung und Heimathland und eilte über das Mittelmeer dem bedrängten Vater der Christenheit zu Hülfe.

So ward ich Schlüsselsoldat.

So überzeugt und begeistert ich aber war, so war ich doch nicht blind, und wer das nicht war, sondern ehrlich nach der Wahrheit forschte, mußte trotz aller günstigen Voreingenommenheit die Heillosigkeit der römischen Herrschaft bald einsehen. Die an Sprüchwörtern so reiche italienische Sprache hat sicher kein wahreres, als das alte: Roma veduta, fede perduta – Rom gesehen, den Glauben verloren! Ueber Rom konnte man sich blos in der Entfernung täuschen; dem Nähertretenden gingen alsbald die Augen auf. Es geht mit allen Despotieen so.

Bald ging denn eine gewaltige Veränderung in mir vor. Anfänglich suchte ich mich, wenn mir etwas mich in meinen Illusionen Störendes aufstieß, mit meiner Unkenntniß des Zusammenhanges und der Landesart, wohl auch mit der dem Mißbrauch zu Grunde liegenden guten Meinung zu beschwichtigen. Ich klammerte mich fest an meine Ueberzeugung und strebte, sie vor mir selbst zu retten. Aber vergebens; je mehr ich das Detail der Mittel und Erfolge dieser christlichen Regierung erkennen lernte, indem ich dabei selbst zum Theil als Werkzeug dienen mußte, desto mehr verschwand das Zauberlicht, in dem ich die Dinge bisher gesehen, und die nackte, scheußliche Wirklichkeit enthüllte sich mir, mein Jugendideal, für das ich so viel geopfert, gründlich zerstörend.

Ich hatte in Rom die göttliche Gerechtigkeit, die christliche Liebe, das Glück der Menschheit, eine milde, väterliche Regierung, die nicht nach der herrsch- und selbstsüchtigen Art anderer Regimes waltet, sondern nach den segenverheißenden Grundsätzen der Religion, ich hatte Land und Volk geistig und materiell glücklich und zufrieden gewähnt, wie es mir immer geschildert worden. Und was mußte ich statt dessen sehen! Selbst die lebhafteste Phantasie vermag sich kaum eine Vorstellung zu machen, wie unbeschreiblich elend die päpstliche Regierung war, und für die römischen Zustände bieten sich heute nur noch in der Türkei Vergleiche.

Das herrliche Land, von der Natur gesegnet und einst ein lachendes Gelände voll Fruchtbarkeit und hoher Cultur – ich fand es zum großen Theil verödet und versumpft, als einen Herd böser Seuchen; an Stelle der Gärten und Fruchtfelder erstreckten sich unabsehbare verwilderte Viehweiden, und wo einst volkreiche Städte und Villen standen, vermochte das Auge stundenweit kaum eine elende Rohrhütte zu entdecken. Das Volk aber sah ich herabgekommen wie sein Land, über jede Beschreibung elend und bettelarm. Die gleich Wilden in Schaf- und Ziegenfelle gekleideten Hirten, die jahraus, jahrein mit ihren wilden Heerden in der menschenleeren Campagna hausen, elend genährt, obdachlos und verwahrlost, und die erbarmenswürdigen Gestalten der Tagelöhner, die zur Erntezeit in Haufen von ihren Bergen herabsteigen, fieberbleich und in schmutzige Fetzen gehüllt, um wenige Bajocchi zu verdienen – sie schienen mir eher verachtete und rechtlose Sclaven des Alterthums, als freie Arbeiter des neunzehnten Jahrhunderts zu sein. Kein Stück von ihren Heerden und keine Handbreit des Bodens gehörte ihnen; Niemand achtete sie; Niemand nahm sich ihrer Noth und ihrer Unwissenheit an; für sie gab es weder politische noch persönliche Rechte.

Die nothwendige Folge dieser Zustände blieb nicht aus: die Moralität dieses religiösesten Volkes stand auf einer in civilisirten Ländern unerhört niedrigen Stufe. Die Unsicherheit von Gut und Leben war sprüchwörtlich; der Straßenraub florirte, und die Gefängnisse des Miniaturstaates beherbergten in einem Jahre nicht weniger als 600 Mörder, 25 Elternmörder, 12 Gattenmörder – von sonstigen Verbrechen gar nicht zu reden.

Dagegen war diese Hölle des Volkes ein Lustheim seiner Beherrscher, des Pfaffenthums und des Adels. Immense Reichthümer befanden sich in ihren Händen, und das ganze Land fast war ihr Privateigenthum. Die kirchlichen Genossenschaften besaßen für mehr als eine Milliarde Grundbesitz, und es gab Kirchengüter, die 80 bis 100 Quadratkilometer groß waren; der Agro Romano, eine Fläche von 36 geographischen Quadratmeilen, befand sich im Besitz von 113 Familien und Congregationen. Die römische Aristokratie war eine der reichsten stolzesten und üppigsten. Selbstredend hatten die beiden eng verbündeten Stände auch die politische Macht in Händen, die sie schonungs- und gewissenlos und mit den verwerflichsten Mitteln gegen ihre „christlichen Mitbrüder“ zu ihren Zwecken anwandten. Die Corruption dieser Kreise, vor Allem des Pfaffenthums, spottete jeder Beschreibung; Herrschsucht, Stolz, Heuchelei, Lüge, Betrug, Gewaltthat, Verschwendung und Unsittlichkeit rangen um den Ehrenpreis.

Die Vergeudung war so ungeheuer, daß für den Aufwand des „Knechtes der Knechte Gottes“ und seiner Leute auch die gründlichste Auspressung des armen Ländchens nicht mehr als einen Tropfen auf einen heiße Stein lieferte. So wurden denn die alte und neue Welt systematisch gebrandschatzt und „ganze Länder aufgefressen“ – man verstand es, nach den Worten Julius des Zweiten, „die Fabel von Jesus Christus“ einträglich zu machen und den Schmutz der Sünden der Menschheit durch die Zauberkraft des Fischerrings in eitel Silber und Gold zu verwandeln. Milliarden über Milliarden wanderten seit Jahrhunderten für Annaten, Pallien, Dispense und Ablässe und als freiwillige Peterspfennige nach der Tiberstadt. Und trotz alledem gab es keine finanziell zerrüttetere Regierung, als die päpstliche.

Ebenso elend, wie mit den Finanzen, war es mit der ganzen Verwaltung bestellt, In der Administration, in der Polizei, in der Justiz, im Verkehr – überall herrschte Unordnung, grauenhafter Schlendrian, allgemeine Desorganisation. Aller Erwerb lag darnieder; kein Gewerbe, keine Industrie, kein Handel, kein Ackerbau, kein wissenschaftliches Streben – das ganze Gebiet war wie vom Fluch getroffen, und der Staat des Papstes schien sich in Wahrheit, nach Goethe’s treffendem Wort, nur zu erhalten, weil ihn die Erde nicht verschlingen wollte.

Solche Zustände mußten selbst das entkräftetste und geduldigste Volk zu Versuchen der Selbsthülfe aufreizen, um den unerträglichen Druck, der auf ihm lastete, zu erleichtern. An Aufständen und Verschwörungen fehlte es denn auch keineswegs, aber die Macht der Tyrannei war zu groß, und jede Regung des Volkes ward auf’s barbarischste unterdrückt, wozu freilich die eigene Macht der römischen Regierung nie ausreichte; es mußten vielmehr stets gesinnungsverwandte Herrscher aushelfen. Aber diese Schwäche war auch der ärgste Vorwurf in den Augen der übrigen Regierungen; um ihn zu beseitigen und die Fähigkeit einer selbstständigen staatlichen Existenz darzuthun, beschloß die päpstliche Regierung eben nach 1866 eine formidable Heeresmacht aufzustellen.

Diese „Armee“ bestand nun in ihrem Gros aus in aller Herren Ländern angeworbenen Leuten, aus arbeitsscheuen Handwerkern, entlaufenen Soldaten, flüchtigen Gesetzesverächtern, verlorenen Söhnen, auch manchen Unglücklichen, kurz, echtem Werbevolk, bei dessen Annahme nichts als körperliche Gesundheit, ja – sonst unerhört in Rom – nicht einmal die Religion maßgebend war. Der kleinere Theil bestand aus Schwärmern, gleich mir, und recrutirte sich namentlich aus Frankreich, Belgien und Canada, aber auch Deutschland stellte kein geringes Contingent, das hauptsächlich aus Rheinländern, Westfalen, Baiern und Oesterreichern bestand. Was nun das Gros dieser Truppe betrifft, so blieb es natürlich von den inneren Kämpfen, die mich und viele Gleichdenkende erschütterten, vollkommen verschont. Was kümmerten sich diese Leute um Recht oder Unrecht der Sache, der sie einfach gegen Sold dienten und die sie gegen bessere Bezahlung nächsten Tages mit einer anderen vertauscht hätten! Allerdings befanden sich auch unter ihnen viele, welche die Schändlichkeit der päpstlichen Verwaltung einsahen, und das war erfreulicher Weise namentlich bei den deutschen Abtheilungen der Fall, die deshalb, obgleich sie militärisch wohl die besten waren, für nicht ganz „sicher“ galten und stets zu Gunsten der französischen Zuaven und Legionäre zurückgesetzt wurden. Aber wenn die Infamie, zu der man sie gebrauchen wollte, nicht allzu sehr auf platter Hand lag, so dachten sich die Leute – als echte Söldner – wenig dabei und fühlten sich von den schmählichsten Schergendienste wenig gekränkt.

Welche Gefühle dagegen mich und so Viele, welche mit denselben Illusionen gekommen waren, angesichts der ganzen Zustände und unseres Dienstes insbesondere bewegten, brauche ich wohl kaum zu schildern. Wir hatten uns gefeierte Glaubenshelden zu werden gedünkt, und sahen uns nun als geringgeschätzte und gehaßte Schergen der Tyrannei, ohne den in unserer Verblendung [666] freiwillig übernommenen Dienst so leicht wieder von uns werfen zu können.

Unter diesen Umständen versetzte es mich und meinen Freundeskreis in die freudigste Stimmung, als uns eines Tages der Befehl ward, nach der toscanischen Grenze abzumarschiren, um dort die arg gefährdete Sicherheit wieder herzustellen. Zwar befanden sich in jener Gegend mehrere Garnisonen eingeborener Truppen, aber der Brigantaggio nahm nicht ab, und die frechsten Beraubungen und Erpressungen waren an der Tagesordnung; denn die Truppen waren nie zur rechten Zeit zur Hand, sie kamen immer erst an, wenn die Herren der Straße längst das Weite gewonnen hatten. Es war freilich ein öffentliches Geheimniß in Rom, daß nicht nur die Commandanten dieser Truppen, sondern auch gewisse einflußreiche Leute am Tiber diese Art von Kriegführung gar nicht ungern sahen und sich sehr gut dabei standen. Endlich aber war der Scandal doch zu arg geworden, und so mußten denn wir Deutsche die Italiener ablösen.

So mühe- und gefahrvoll nun auch unsere neue Aufgabe war, so waren wir, wie gesagt, doch sehr erfreut über diese Veränderung. Brauchten wir doch die scandalösen Zustände in Rom nicht mehr mit anzusehen und dabei mitzuwirken, hatten wir nun doch einen Wirkungskreis, in dem wir der Menschheit wirklich nützen konnten, ungerechnet die Gelegenheit, das interessante Land und seine Bewohner näher kennen zu lernen.




2.

So zogen wir denn an einem herrlichen Frühlingstage leichten Herzens hinaus auf der lavagepflasterten Via Cassia in die bis an die Mauern der Stadt heranreichende melancholische Campagna, welche, einst mit blühenden Städten und Fruchtgärten übersät, jetzt eine ungeheure Trümmerstätte von antiken Tempel-, Gräber- und Aquaductenresten, mittelalterlichen Thurmruinen und halbzerfallenen neuzeitlichen Landsitzen ist, zwischen denen mächtige Heerden silbergrauer Rinder und schwarzer Büffel weiden. Sonst so ernst und einförmig, wenn auch von unbeschreiblich fesselnder Stimmung, war sie jetzt ein wahres Meer von Blumen und Knospen in den leuchtendsten Farben, die durch ihre unausgesetzte Einwirkung das Auge förmlich blendeten und ermatteten.

Weiter stiegen wir empor zu dem düsteren ciminischen Wald, dem einstigen Bollwerk Mitteletruriens, mit seinen Kastanien- und Eichenwäldern und seinem sagenumwobenen Kratersee, alsdann jenseit hinab in das tuskische Hügelgelände, und bald waren wir angelangt an unserm Bestimmungsort, derselben Stelle, wo einst in grauer Vorzeit in blühender Umgebung das Heiligthum des etrurischen Bundes, der Tempel der Voltumna stand, während sich heute dort das armselige Städtchen Montefiascone erhebt – den ganzen Abstand zwischen einer stolzen Vergangenheit und der elenden Gegenwart darthuend.

Welche Genüsse bot uns die herrliche, vom Zauber uralter Erinnerungen übergossene Gegend! Nur wenige Schritte brauchten wir vor das Thor zu thun, um die entzückendste Fernsicht zu genießen: hier im Norden der gewaltige Kratersee von Bolsena mit seinen malerischen Inseln und seinen schweigsamen, nur von der Malaria bewohnten Ufern, dahinter die zackige Kette des Monte Amiata; dann östlich in blauer Ferne der umbrische Apennin, im Süden der schwarze Mons Ciminus und endlich im fernen Westen das Meer – die ganze Ebene Etruriens lag ausgebreitet vor dem trunkenen Blick. Und wir hatten Zeit und Gelegenheit, diese Gaue zu durchstreifen, die Trümmerstätten von Orcle, Axia, Blera und Tuscania zu durchforschen, die Felseninsel Martana zu besuchen, von der aus des großen Gothenkönigs Tochter Amalasuntha ihr Reich regierte und auf der sie ihr gewaltsames Ende fand, und nahe den lombardischen Thürmen die alte Schwefelquelle Bulicame zu begrüßen, die den göttlichen Dante zu herrlichen Strophen begeisterte. Dazu gewährte das Volksleben mit seinen fremdartigen Erscheinungen hohes Interesse. Und zuletzt auch die süße Berühmtheit des Montefiasconer Traubenblutes nicht zu vergessen, an dem sich einst Domherr Fugger den seligen Tod getrunken! Welch prächtigen Tausch hatten wir gemacht gegen Rom, in dem es uns zu Muthe war wie einst Juvenal, da er sein kaustisches „Mentiri nescio – quid Romae faciam? („Ich verstehe mich nicht auf das Lügen – was soll ich da in Rom machen?“) sprach.

Unser Verhältniß zu den Einwohnern Montefiascones war freilich ein sehr kaltes. Den Aufgeklärten unter ihnen mußten wir als die Erhalter der Tyrannei verhaßt sein, während wir auch den Loyalsten fremde Söldlinge blieben, für deren Unterhalt sie steuern mußten. Dagegen standen wir mit den Bauern der Umgegend, besonders mit den etwas vermöglichen Pächtern, denen wir als Schutz gegen die gefürchteten Briganten willkommen waren, auf leidlich gutem Fuße, und wir kamen auf unseren Patrouillen selten an einem Gehöfte vorbei, ohne daß man uns zum Eintreten eingeladen hätte.

Besonders vertrauten Umgang gewannen wir mit den Bewohnern einer einsam auf dem hohen Ufer des Bolsener Sees gelegenen Besitzung.

Wir hatten einst eine Partie nach dem weltvergessen daliegenden Felseneiland Amalasuntha’s gemacht, wobei mein Freund Werner ** einen Sturz that, der ihn fast geh-unfähig machte. Da es, als wir am Ufer anlangten, bereits dämmerte und demnach höchste Zeit war, daß wir aus dem malariadunstigen Kessel herauskamen, so entschlossen wir uns, den Freund bis auf die sichere Höhe zu tragen, dabei einen zwar sehr beschwerlichen, aber viel kürzeren Weg einschlagend, den uns ein Hirte gewiesen. Die Arbeit des Tragens war auf dem steilen und scharfen vulcanischen Gestein beschwerlich genug, und so waren wir herzlich froh, auf der Höhe angekommen, ein kleines, aber sauber aussehendes Häuschen vor uns zu sehen, in dem wir rasten zu können hofften. Wir baten um Gastfreundschaft, die man uns zwar zurückhaltend, aber nicht unfreundlich gewährte.

Das einsame Häuschen wurde nur von zwei Personen bewohnt: von Luigi Boticelli und seiner Tochter Domenica. Beide galten als Sonderlinge, denn sie hatten soviel wie gar keinen Verkehr mit den Bewohnern der Gegend und verließen ihr kleines Besitzthum, das sie selbst bewirthschafteten, nur selten und wenn es absolut nothwendig war. Die Bauern hielten diese Zurückgezogenheit für Stolz, und unsere neuen Bekannten erfreuten sich daher nur geringer Beliebtheit, obgleich sie gar manchem Bedrängten mit Rath und That geholfen. Aber Boticelli, der zwar ernst und verschlossen, aber nichts weniger als stolz war, hatte ganz andere Gründe, die Einsamkeit dem nachbarlichen Verkehr vorzuziehen. [686] Luigi Boticelli hatte außer dem gleichen drückenden Joch der römischen Herrschaft mit seinen Nachbarn nur wenig Gemeinsames; denn er war nicht aus der Gegend, und seine Lebensanschauung stand in vollem Gegensatze zu derjenigen der Bauern. Seine Familie stammte aus dem Florentinischen und zählte den gemüthvollen Meister der Renaissance ihres Namens, Lippi’s, Gozzoli’s und Fra Bartolomeo’s Zeitgenossen, zu ihren Ahnherren. Vor Generationen war ein Vorfahr nach der Provinz Frosinone übergesiedelt, wo er sich in dem Städtchen Anagni niedergelassen hatte; dort blieb seine Nachkommenschaft seßhaft, dort wurden auch Luigi und seine Geschwister geboren. Nach des Vaters Tode hatte der ältere Bruder die ererbte Handlung fortgeführt, während Luigi mit seinem kleinen Erbtheil einen einträglichen Viehhandel betrieb. So führten sie schlecht und recht ihre Geschäfte, bis die Zeit von 1848 auf 1849 kam, das Priesterregiment wankte und für eine kurze Zeit der Republik weichen mußte. Luigi wie sein Bruder waren den neuen Ideen zugethan und begrüßten daher mit Freuden die Umwälzung, aber keiner ergriff activ Partei gegen [687] die alte und für die neue Regierung – der ältere nicht, weil er viel zu sehr vorsichtiger Handelsmann war, um sich bloßzustellen, Luigi aber, weil er sich gar nicht im Lande befand, sondern in Geschäften in Oberitalien weilte.

Da brachte der Pfarrer von Anagni großes Unglück über seine Gemeinde. Ein fanatischer Anhänger der päpstlichen Regierung, bekämpfte er die neue Ordnung der Dinge mit allen Mitteln; von der Kanzel herab hetzte er gegen die Republikaner als vogelfreie Feinde des Glaubens, forderte unter Verheißung himmlischen und materiellen Lohnes zur Ermordung der Triumvirn und Regierungsagenten auf und verfolgte mit Hülfe der von ihm herbeigeführten neapolitanischen Truppen alle Freidenkenden auf das Leidenschaftlichste. Diesem verrätherischen Treiben machte die Regierung der Republik indeß bald durch energische Maßregeln ein Ende: sie ließ den wüthenden Pfaffen einziehen, der durch das über ihn eingesetzte Kriegsgericht zum Tode verurtheilt ward.

Als nun die Republik mit Hülfe Frankreichs erwürgt worden war und die wuthschnaubende Reaction ihr barbarisches Rachewerk begann, indem sie das arme Volk die wenigen freien Augenblicke mit gesteigerter Sclaverei und mehr als anderthalb tausend Henkersopfern bezahlen ließ, da mußte natürlich auch die „sacrilegische Ermordung“ jenes Pfaffen exemplarisch gesühnt werden. Und da die Mitglieder jenes Kriegsgerichts den als Henker fungirenden „hochwürdigen Inquisitoren“ unerreichbar waren, so hielt man sich an die gänzlich unschuldigen Zeugen, die vor dem Kriegsgericht die incriminirten Handlungen des Pfaffen hatten constatiren müssen und die man nun als „Anstifter des Mordes“ theils auf’s Schaffot, theils auf die Galeere schickte. Auch der ältere Boticelli und sein Sohn wurden zu lebenslänglicher Galeerenstrafe verurtheilt. Aber an dieser Rache hatten die milden Priester-Richter noch nicht genug; nach altbiblischer Praxis mußte auch die ganze Sippe der „Verbrecher“ mit büßen.

Als der mit allem Vorgegangenen unbekannte Luigi, der nach der Wiedereinsetzung des Papstregiments absichtlich mit der Rückkehr gezögert hatte, bis er ruhigere Zustände anzutreffen glaubte, heimkehrte, ward auch er, ohnedies als Freigeist bekannt, gefaßt und über Jahr und Tag im Kerker gehalten. Inzwischen ging ihm sein Geschäft zu Grunde; sein Weib starb aus Gram, und seine Gesundheit ward durch seelisches Leiden und körperliches Entbehren untergraben. Endlich war er frei; auch die gewissenlosesten Richter hatten ihm keine Schuld nachzuweisen vermocht. Aber da die Regierung seine Rache fürchtete, wies sie ihn unter vagen Vorwänden aus dem Lande.

Luigi ergriff den Wanderstab und zog mit seinem Töchterchen bettelarm in die Fremde. Aber obgleich ihm keine Arbeit zu hart war, wollte es ihm nicht glücken, sich und sein geliebtes Kind auskömmlich durch’s Leben zu bringen, und Beide führten länger als ein Jahrzehnt ein entbehrungsvolles Leben, bis Boticelli von einem Verwandten das Gütchen am Bolsenersee erbte, aus dessen Erträgnissen nun Vater und Tochter verhältnißmäßig sorgenlos lebten – von der Regierung stillschweigend geduldet.

Das Andenken an alles Erlittene, an sein vor Jammer gestorbenes Weib, den lebendig begrabenen Bruder und Neffen, der Kummer über das Elend und die Aussichtslosigkeit der Zustände – all das hatte Boticelli verbittert und verschlossen gemacht. Dazu wußte er sich von den zwar unzufriedenen, aber abergläubischen, beschränkten und gedankenlos dahinlebenden Bauern nicht verstanden. Hätten er und seine trotz ihrer Jugend gleichgesinnte Tochter aber auch nicht schon aus diesen Gründen ein Bedürfniß nach Zurückgezogenheit gefühlt, so hätte sie schon die Polizei, unter deren strenger Aufsicht sie standen und die jedes freie Wort, jede Verbindung mit anderen Verdächtigen zu neuen Verfolgungen benützt hätte, dazu gezwungen.

Trotz der Einsamkeit indessen, in welcher der „gelehrte“ Boticelli – wie ihn die Bauern, denen er allerdings an Verstand, Kenntnissen und Erfahrungen weit überlegen war, hießen – und seine Tochter lebten, hatte es der letzteren an Freiern keineswegs gefehlt; denn Domenica war von großer Schönheit, und von ihrer Rührigkeit zeugten Haus und Feld, die besser gehalten waren, als man es weit umher kannte. So waren denn manche Bursche und selbst vermögliche Pächter auf Freiersfüßen zu dem Häuschen am See gewandert, aber freilich nur, um mit abschlägigen Antworten wieder von dannen zu ziehen. Denn Domenica, die von Kindesbeinen an in des Vaters Ideenkreis eingeweiht worden war und ihren Vater hochschätzte, hatte keinen Mann kennen gelernt, der ihr neben ihm so achtenswerth erschien, daß sie seine Lebensgefährten hätte sein wollen. –

Solcher Art waren unsere neuen Bekannten.

Anfänglich zeigte sich freilich sowohl Boticelli wie seine Tochter zurückhaltend gegen uns – waren wir doch Werkzeuge der Regierung, von denen kaum Gutes zu erwarten war. Aber in dem Maße, in welchem wir gegenseitig unsere Anschauungen kennen lernten, traten wir einander näher, und wir Freunde suchten öfter und öfter das Landhaus auf, in welchem wir stets freundlich empfangen wurden.

Nicht am wenigsten zog uns die schöne Domenica an, deren gewinnendes Wesen uns Alle erfreute, unsern Freund Werner aber vollständig bezauberte. Auch Domenica’s Auge ruhte mit Wohlgefallen auf der markigen Gestalt des jungen Westfalen, und bald umschlangen Beide süße, beglückende Bande. Wohl sprachen sie von ihrem Glück viel weniger, als es sonst Liebende thun, denn die Geheimnisse der melodischen Sprache Dante’s und Boccaccio’s hatten sich Werner nur in bescheidenem Maße erschlossen, und Domenica vermochte gar von dem Idiom ihres „Guarino“ kaum den Namen auszusprechen; aber auch schweigend genossen sie das Glück zarter Liebe in vollen Zügen.

Als unsere häufigen Besuche bei Boticelli in der Gegend bekannt wurden, wuchs die Mißstimmung gegen ihn, besonders aber fühlten sich die einst abgewiesenen Freier Domenica’s dadurch verletzt, daß ihnen ein Fremder vorgezogen worden. Am aufgebrachtesten zeigte sich ein gewisser Castelvetri, ein häßlicher, tückischer Kerl. Zu Allem fähig, nur zu keiner ehrlichen Arbeit, war er, nachdem er alles Mögliche getrieben und seines Bleibens nirgend gewesen als eine zeitlang im Zuchthaus, wohin ihn seine Sicherheitsgefährlichkeit gebracht, unter die Sbirren (Gensd’armen) gegangen, wo für Leute seines Schlages der passende Ort um eine Carrière zu machen war. Die allgemeine Verachtung, welche auf seinem Schergenamt ruhte, genirte ihn wenig; war er doch nun der Mächtige, der die ihm Widerstrebenden unter seinen Willen beugen und sie nach Herzenslust schinden und drücken konnte, was er denn auch selbstverständlich nicht versäumte. Dieses elenden und rachsüchtigen Charakters halber, sowie wegen seiner ausgedehnten Macht, zu schaden, war Castelvetri in der ganzen Gegend gefürchtet, was aber Domenica doch nicht hatte abhalten können, seine ungestümen Bewerbungen energisch abzuweisen.

Als nun der Sbirre, dessen Leidenschaft durch seinen Mißerfolg nur noch stärker geworden war, von Werner’s Verhältniß zu Domenica vernahm, gebärdete er sich wie rasend, stieß die wildesten Verwünschungen und Drohungen aus und sann Tag und Nacht auf Rache an Domenica und ihrem Vater, während er sich gegen uns hündisch kriechend zeigte. Da die römischen Sbirren sich fast jede Gewaltthätigkeit gegen das Volk ungestraft erlauben durften und Castelvetri das Schlimmste zuzutrauen war, so war die äußerste Vorsicht und Wachsamkeit für unsere gefährdeten Freude in dem einsamen Haus am See nöthig. Wir sprachen, besonders gelegentlich unserer zahlreichen Patrouillen, noch öfter als bisher und zu jeder Tageszeit bei Boticelli vor, um ihm unsern Schutz gewähren zu können, außerdem aber nahm Boticelli einen entfernten Verwandten, Namens Ambrogio, als Knecht in’s Haus. So glaubten wir unsere Freunde vor der Rachsucht des Gensd’armen geborgen, ließen indeß in unserer Aufmerksamkeit keine Verminderung eintreten.

Eines Nachts kamen wir, von einem ermüdenden Streifzug durch die Berge zurückkehrend, in einiger Entfernung an Boticelli’s Haus vorbei, dem wir jedoch, sowohl der späten Nachtstunde wie unserer Ermüdung wegen, die uns den Umweg scheuen ließ, keinen Besuch abstatten wollten; wir marschirten deshalb trotz lebhaften Widerspruches von Seiten Werner’s direct auf Montefiascone los. Eben waren wir daran, in eine Schlucht einzutreten, in der das Haus am See unserer Wahrnehmung entzogen gewesen wäre, als von dorther plötzlich der gellende Angstschrei eines Mannes ertönte, dem weibliche Hülferufe und verworrene Stimmen folgten. Im Flug war all unsere Ermattung verschwunden, und wir eilten, so schnell es die Dunkelheit und der von Wurzeln und Schlingpflanzen überwachsene Weg gestattete, auf Boticelli’s Besitzung zu.

Da – als wir gerade dicht vor der Hausthür angelangt waren – ward dieselbe von innen gewaltsam aufgerissen und unsern Augen bot sich ein Bild, das uns einen Augenblick erstarren machte.

[688] Boticelli, geknebelt und blutend, ward von zwei Strolchen von Grenzwächtern trotz seines kräftigsten Widerstandes unter Flüchen und Säbelhieben aus dem Hause gestoßen, wenige Schritte von ihm aber rang Domenica in verzweifeltem Kampfe mit dem vor wüster Leidenschaft glühenden Sbirren um ihre Ehre.

„Warte Du Hund,“ höhnte einer der sauberen Spießgesellen Castelvetri’s, „wir werden Dich und Deine lumpige Tochter lehren, uns zu verachten und den verfluchten Tedeschi nachzulaufen. Du sollst die Macht der Sbirren kennen lernen.“

Wir hatten genug gesehen und gehört, um zu wissen, welche Schurkerei hier vollbracht werden sollte, und in wenig Augenblicken befanden sich Boticelli und Domenica in Freiheit, während der wuthschnaubende Castelvetri und einer der Grenzwächter gebunden am Boden lagen; der Dritte des sauberen Kleeblattes war entwischt. Nachdem wir die beiden Gefangenen in einer Kammer untergebracht hatten, um sie, und namentlich Castelvetri, der Rache Boticelli’s zu entziehen, untersuchten Einige von uns das Haus nach dem verschwundenen Knecht, der nach Aussage Boticelli’s jenen von uns vernommenen Schmerzensschrei ausgestoßen haben mußte. Nach langem Suchen fanden wir den Armen endlich seitwärts der Hausthür im Freien, aber in welchem Zustande! Beim Oeffnen der Thür von dem voran eindringenden Castelvetri durch einen Stiletstich in die Brust schwer verwundet, war er blutüberströmt und athmete nur noch schwach. Kurze Zeit, nachdem Boticelli und ich durch Fragen den Sachverhalt festgestellt hatten, starb der Unglückliche unter den pflegenden Händen Domenica’s.

Nachdem wir unsere geretteten Freunde nach besten Kräften beruhigt und ihnen baldige Wiederkehr sowie jede in unserer Macht stehende Hülfe versprochen hatten, marschirten wir nach Montefiascone, wo wir die beiden Verbrecher dem Gefängniß überlieferten, um nächsten Tages bei den Behörden die nöthigen Meldungen zu machen. Der Thatbestand ward leicht über allen Zweifel festgestellt, da unsere gleichlautenden Aussagen auch von dem gefangenen Grenzwächter bestätigt wurden, der, als von Castelvetri verführt, durch ein offenes Geständniß sich Straffreiheit zu sichern suchte. Trotzdem verfuhr die Behörde gegen den Sbirren nur widerwillig und nahm in jeder nur erdenklichen Weise für ihn und gegen seine Ankläger Partei, besonders gegen Boticelli; war Castelvetri doch ein brauchbares Werkzeug in ihren Händen, dem man solche „Kleinigkeiten“ schon nachsehen konnte. Und nur dem energischen Auftreten unseres über solche Mißwirtschaft empörten Commandanten beim Bischof als oberstem Verwaltungschef war es zu danken, daß Castelvetri nicht wieder in Freiheit gesetzt, sondern nach Rom abgeführt wurde, um dort angeblich vor Gericht gestellt zu werden.




3.

Nicht lange nach diesem Vorfall, der die Bande der Freundschaft zwischen uns und Boticelli nur noch fester und enger geknüpft hatte, wurde unsere Compagnie weiter gegen die toscanische Grenze vorgeschoben und erhielt ihr Standquartier in dem wälder- und schluchtenumgebenen Städtchen Bagnarea, das einst als Balneum regis stolzere Tage gesehen, heute aber ferne der Heerstraße still und vergessen in den Bergen liegt, nur bisweilen der interessanten geologischen Formation und namentlich der gewaltigen Peperinlager seiner Umgebung wegen von einem Naturkundigen [689] aufgesucht. Diese abgelegene Gegend wurde vom Räuberwesen, von dem wir in Montefiascone nur wenig kennen gelernt hatten, damals sehr unsicher gemacht, und unsere Abtheilung hatte eben die Aufgabe, den Räubern energisch das Handwerk zu legen.

Man wundert sich in Deutschland oft, daß es in Italien und speciell auch im ehemaligen Kirchenstaate so lange und zum Theil bis heute noch nicht gelungen ist, dem Räuberwesen den Garaus zu machen. Wer aber die Verhältnisse einigermaßen zu beurtheilen versteht, der wird hierin wenig Befremdliches finden. Ich habe die unbeschreiblich elende Lage des Volkes bereits mit einigen Strichen geschildert, und wenn sich auch unter der jetzigen italienischen Regierung Vieles gebessert hat, so sind die Grundlagen der Ordnung und Sicherheit, die socialen und besonders die Grundbesitzverhältnisse noch heute so ziemlich die alten. Die ungeheure Mehrzahl der Landbevölkerung hatte keinen Quadratfuß eigenen Grundbesitzes, sondern bestellte die Besitzungen der Grundherren mit vorsündfluthlichen Ackerwerkzeugen, wofür sie entweder einen jämmerlichen Tagelohn, größtentheils aber einen Theil der Ernte erhielt – ein Viertel bis zu einem Drittel. Dieser Lohn reichte aber kaum zur Ernährung, geschweige denn für die sonstigen unumgänglichen Bedürfnisse, besonders die unmäßigen Steuern an Kirche und Staat aus. In Folge dessen befand sich das arme Volk auch noch in der beständigen Schuldunterthänigkeit der Wucherer, welche gegen hohe Zinsen Vorschüsse auf die künftige Ernte gaben; häufig besorgten dieses einträgliche Geschäft die Grundbesitzer selbst.

So mußten denn die armen Landarbeiter in allen Besitzenden Feinde erblicken, und wer die Verwegenheit und Gewandtheit besaß, einem Grundherrn, Pächter, Wucherer oder sonst einem ihrer Unterdrücker und Aussauger durch einen kühnen Gewaltstreich Schaden zuzufügen, erfreute sich ihrer Sympathien, und ihm wurde jeder Vorschub geleistet. Die Bauern verriethen den Briganten die Gelegenheit zu Beutezügen, erhielten ihren Antheil an dem Fange und halfen den Verfolgten, den Nachforschungen der Polizei und der Truppen zu entgehen. Unter den verderbten besitzenden Ständen der Städte aber, und selbst unter den geistlichen und weltlichen Würdenträgern, bis in die höchsten Kreise hinauf, fanden die Banditen gegen Geld und sonstige Gefälligkeiten stets Helfershelfer und Beschützer in Menge.

Wie schwierig unter solchen Umständen die Bekämpfung des Räuberwesens war und ist, kann man sich leicht vorstellen, und ebenso erklärt sich daraus die fast unglaubliche Frechheit und Verwegenheit mancher Brigantenchefs, die sich beim Volke desto größerer Popularität, ja man möchte fast sagen, Verehrung erfreuten, je gefährlicher sie waren. Die Popularität schützte sie am wirksamsten gegen die Steckbriefe der Regierung, welche oft sehr hohe Belohnungen auf ihre Ergreifung aussetzte.

Die Bande nun, welche in der Umgegend von Bagnarea ihr Wesen trieb und gegen welche man uns geschickt hatte, war eine der gefährlichsten, welche seit Langem der Behörde zu schaffen gemacht. An ihrer Spitze stand ein gewisser Liberi, ein noch junger Mensch, der allein und in Verbindung mit seinen zahlreichen Spießgesellen die verwegensten Brandschatzungen und Blutthaten ausführte und seit Monaten die ganze Grenzgegend in Furcht und Schrecken hielt. Wohl hatte die Regierung schon früher Truppen gegen ihn geschickt, aber diese, weil Eingeborene, thaten ihre Schuldigkeit [690] schlecht, welcher Umstand, in Verbindung mit der Unterstützung durch die gesammte arme Bevölkerung, besonders aber mit der großen Schlauheit des Räubers, Liberi bisher stets den Verfolgungen der Behörden hatte entgehen lassen.

Einmal war Liberi doch nach vielen vergeblichen Versuchen, seiner habhaft zu werden, im Rausche überrascht und im Triumph nach Bolsena eingebracht worden. Die glücklichen Häscher erhielten sofort die von den Behörden sowie einzelnen reichen Corporationen und Privaten ausgesetzte hohe Belohnung; der ganze Bezirk athmete auf, und die erfreute Justiz traf Anstalten, dem gefährlichen Brigantenchef schnell den Proceß zu machen und an ihm ein Exempel zu statuiren. Liberi ward mit Ketten belastet, in dem festesten Kerker verwahrt und unausgesetzt von Wächtern aller Art beaufsichtigt. Am achten Tage aber, als der Instructionsrichter nach ihm verlangte, war Liberi verschwunden – seine eigenen Wächter hatten ihm die Gefängnißthüren geöffnet.

Die schnell aus ihren Träumen von Ruhe und Sicherheit gerissene Gegend merkte bald, daß Liberi wieder an der Spitze seiner Bande stand. Denn die Raubanfälle und Erpressungen häuften sich, als ob er sich hätte für die acht Tage gezwungener Muße entschädigen wollen. Vollführten doch die durch ihren Erfolg dreist gemachten Banditen selbst in größeren Ortschaften ihre Geschäftsoperationen am hellen Tage.

Allein endlich war Liberi der Boden seiner Heldenthaten doch zu heiß unter den Füßen geworden, und als er von unserem Anzuge vernommen, hatte er sich mit seiner Bande über die nahe Grenze gezogen und ließ die ersten vier oder fünf Wochen unserer Anwesenheit in Bagnarea nichts von sich hören. Es hieß, er treibe im Italienischen sein Unwesen, ja eine Nachricht ließ ihn von der italienischen Polizei gefangen und seine Gesellschaft zersprengt sein. Da geschah Folgendes.

Der Prior des Augustinerklosters San Archangelo zu Bagnarea war in Begleitung zweier gut bewaffneter Klosterknechte nach dem etwa fünf Stunden entfernten Dorfe San Michele gereist, um die dortigen Besitzungen seines Klosters zu inspiciren und die fälligen Pachtgelder und andere Einkünfte einzuziehen. Der die Besitzung leitende Mönch aber, der die Gelder veruntreut und deshalb den Besuch seines Oberen zu fürchten hatte, rief die von der italienischen Polizei wieder über die Grenze getriebene und in der Nähe versteckte Bande Liberi’s zu einer Plünderung auf gemeinsamen Nutzen herbei, durch die zugleich jede Verantwortlichkeit für ihn beseitigt wurde. Natürlich ließen sich die Briganten nicht vergeblich rufen, besorgten das Geschäft so gründlich wie möglich und ermordeten dabei den eben dazu kommenden und sich verteidigenden Prior, während sie dem einen seinem Herrn treu beistehende Knecht die Ohren abschnitten, ihm seine sämmtlichen Kleider nahmen und ihn in diesem Zustande nach Bagnarea jagten, das hierdurch von dem Ueberfall San Micheles Nachricht erhielt.

Als wir, das heißt eine kleine Abtheilung unter meinem Commando, bei der sich ein mit Einleitung der Untersuchung beauftragter Regierungsbeamter befand, auf dem Schauplatze der Räuberei anlangten, waren die Briganten, die sich nach vollendeter Plünderung nebst den mit ihnen sympathisirenden Dorfbewohnern an den Weinvorräthen des Klosters gütlich gethan, vor ganz Kurzem erst abgezogen. Wohin sie sich gewandt, darüber konnte kaum ein Zweifel bestehen. Die zwischen San Michele und Bagnarea sich hinziehende Gebirgspartie, welche wir auf der Straße umgangen hatten, war zwar nicht von bedeutender Erhebung, enthielt aber in den Klüften ihres vulcanischen Gesteins zahllose sichere Schlupfwinkel. Den Räubern dahin zu folgen, davon konnte bei unserer Localunkenntniß, namentlich aber angesichts unserer geringen Anzahl, keine Rede sein, und so mußten wir uns denn diesmal, abgerechnet die Aufnahme der Zeugenaussage und die Fürsorge für das Begräbniß der Ermordeten, mit einer allgemeinen Recognoscirung des Terrains begnügen.

[703] Als es zum Heimmarsch ging, suchte mich der Sindaco des Dorfes zu bewegen, nicht wieder der weitläufigen Straße zu folgen, sondern einen weit kürzeren Weg durch die Berge zu nehmen, für welchen er uns einen kündigen Führer mitgeben wollte. Da ich indeß der ganzen Bevölkerung, die offenbar den Banditen in jeder Weise Vorschub leistete, den spitzbübisch dreinsehenden Sindaco nicht ausgenommen, keinen Moment traute, so wollte ich auf diesen Rath nicht eingehen. Der uns begleitende Beamte aber, der recht bald wieder in seiner sicheren Behausung zu sein wünschte, ließ sich bethören, und da ich Befehl hatte, seinen Wünschen Folge zu leisten, so wurde der Nachtmarsch durch die Berge angetreten.

Immer höher und höher stiegen wir die Zickzacklinien des steilen und gefährlichen Pfades empor, dessen Breite bald kaum mehr für einen Mann ausreichte, und unwillkürlich mußte ich daran denken, wie wehrlos unsere in eine lange Kette aufgelöste [704] Feinde des heiligen Stuhles zu schützen, als um darüber zu wachen, daß der päpstlichen Kammer fleißig die Zölle und Abgaben sowohl von den wenigen einfahrenden Küstenfahrzeugen, wie von den mit Meeresbeute heimkehrenden Barken der eingeborenen Fischer entrichtet wurden. Und das war keine geringe Arbeit, denn infolge der enormen Zölle, welche die weise Regierung des Papstes auf alle auswärtigen Erzeugnisse, mochten dieselben dem Lande auch noch so nothwendig sein, legte, war der Schmuggel im üppigsten Flor, und die schlauen Fiumiciner kannten zahlreiche, durch die hohen Dünen und die sich dahinter hinziehenden Unterholzwälder gedeckte Oertlichkeiten, von denen aus das ruhige Meer eine heimliche Einführung der Contrebande ermöglichte.

Unser Dienst, anfangs nicht ohne Interesse, wurde uns bald herzlich eintönig, um so mehr, als die trüben Wintertage die See ihres südlichen Zaubers beraubt hatten. In dieser Lage schlossen wir Freunde uns enger als je an einander und brachten den [705] Feinde des heiligen Stuhles zu schützen, als um darüber zu wachen, daß der päpstlichen Kammer fleißig die Zölle und Abgaben sowohl von den wenigen einfahrenden Küstenfahrzeugen, wie von den mit Meeresbeute heimkehrenden Barken der eingeborenen Fischer entrichtet wurden. Und das war keine geringe Arbeit, denn infolge der enormen Zölle, welche die weise Regierung des Papstes auf alle auswärtigen Erzeugnisse, mochten dieselben dem Lande auch noch so nothwendig sein, legte, war der Schmuggel im üppigsten Flor, und die schlauen Fiumiciner kannten zahlreiche, durch die hohen Dünen und die sich dahinter hinziehenden Unterholzwälder gedeckte Oertlichkeiten, von denen aus das ruhige Meer eine heimliche Einführung der Contrebande ermöglichte.

Unser Dienst, anfangs nicht ohne Interesse, wurde uns bald herzlich eintönig, um so mehr, als die trüben Wintertage die See ihres südlichen Zaubers beraubt hatten. In dieser Lage schlossen wir Freunde uns enger als je an einander und brachten den [706] größten Theil unserer freien Zeit in einem nach dem Meere gelegenen Zimmer unseres Quartieres zu, das wir uns als eine Art Casino eingerichtet hatten und in dem wir die deutschen Zeitungen und Bücher lasen, welche wir hier und da von unsern Freunden in Rom erhielten.

Dort beschäftigten wir uns auch oft mit Luigi Boticelli und seiner Tochter, über deren Ergehen seit dem einen schon erwähnten Besuch Werner’s wir wenig wußten. Anfänglich hatten wir wohl einen Brief Boticelli’s, dem auch einige mühsam geschriebene, aber innige Worte der Liebe von Domenica an Werner beilagen, erhalten; Boticelli meldete darin, daß er seit dem Abmarsch der Truppen rücksichtsloser denn früher chicanirt werde, daß er von seines Feindes Castelvetri, des Meuchelmörders, Freilassung habe reden hören, daß er Schlimmes befürchte und wünsche, bald über die Grenze eilen zu können, was sich aber leider nicht so schnell machen lasse. Er werde wieder schreiben, wenn er in Toscana frei aufathmen könne. Seitdem aber hatten wir trotz wiederholter Aufforderungen keine Nachricht mehr erhalten. Was konnte geschehen sein, daß Boticelli nichts von sich hören ließ? Oder hatte die Post, der jeder von einem Einheimischen herrührende Brief verdächtig erschien, die Briefe unterschlagen oder sie aus Schlendrian verloren? – Fälle, von denen bei der allerchristlichsten römischen Postverwaltung einer so möglich und alltäglich wie der andere war. Diese Ungewißheit beunruhigte uns sehr.

Eines Abends saßen wir wieder in unserem Casino beisammen und suchten durch die Erinnerung an die Heimath und unsere Lieben jenseits der Alpen die traurige Gegenwart zu vergessen, als plötzlich Alarmsignale ertönten und zugleich ein Sergeant die Nachricht brachte, daß soeben ein Regierungsdampfer von Rom angelangt sei mit der Ordre, sofort die halbe Compagnie an Bord zu nehmen. Ich und Werner gehörten zu der zur Expedition bestimmten Abtheilung und eilten, schnell gerüstet, nach dem Sammelplatze, wo der Hauptmann selbst das Commando über uns übernahm und uns nach dem wenige Schritte entfernt im Flusse liegenden Schiffe führte, das sofort nach unserer Einbarkirung in’s Meer hinaus dampfte.

Aber wohin ging die geheimnißvolle Fahrt und welcher Aufgabe sollte sie uns zuführen? Der Hauptmann theilte mir mit, daß uns der Dampfer in Civitavecchia landen werde, wo wir weitere Befehle erhalten würden. Was sollten wir in dem römischen Kriegshafen, in welchem sich das Hauptquartier des von Bazaine commandirten französischen Hülfscorps befand und wo man also auf alle Fälle Truppen genug hatte, um nicht unsere Hand voll Leute eigens durch Dampfer holen lassen zu müssen?

Mit großer Ungeduld erwartete ich deshalb das Ziel unserer Fahrt, das wir endlich früh Morgens erreichten. Der in Aussicht gestellte weitere Befehl ließ auch richtig nicht lange auf sich warten: sobald wir in den inneren Hafen eingelaufen waren, erschien ein Gensd’armeriebrigadier an Bord, der die kurze schriftliche Ordre überbrachte, daß unsere Abtheilung seiner Führung zu folgen habe. Von der sehnlich erwarteten Aufklärung dagegen war keine Rede.

Die Sache wurde immer geheimnißvoller und verdächtiger, und die Unruhe, welche zuerst nur Wenige mit mir getheilt hatten, bemächtigte sich nun auch allmählich der ganzen Mannschaft, mit Ausnahme vielleicht einiger weniger alter Troupiers, deren Gefühl durch die lange Gewohnheit längst abgestumpft war. Nicht wenig verstimmt war auch der Hauptmann selbst, theils weil es ihn kränkte, in so vollständiger Unwissenheit gehalten zu werden, theils weil die außerordentlichen Maßregeln etwas Besonderes, wohl kaum aber Gutes erwarten ließen. [723] So marschirten wir ziemlich kleinlaut und düster in der Gegend der Maremmenstraße dahin. Schon den dritten Miglienstein hatten wir erreicht, keine Seele war uns begegnet, ja nicht einmal ein Gebäude kam uns zu Gesicht, außer den halb zerfallenen mittelalterlichen Thürmen, die sich hier und dort in der Nähe der Seeküste erhoben – der einstige Schutz gegen Normannen und Barbaresken. Die Stimmung war eine gedrückte, und tiefes Schweigen herrschte in den Gliedern. Die Bemerkung des Compagniewitzmachers, daß wir genau wie ein Zug Todtengräber einherzögen, war sehr zutreffend.

Da endlich, als wir die Höhe eines niedrigen Hügelzuges erreicht hatten, bot sich eine Erscheinung, von der auch offenbar die Lösung unserer Zweifel kommen mußte. Zu Füßen des Hügels erblickten wir eine größere Menge Truppen, die wir an ihren rothen Beinkleidern sofort als Franzosen erkannten. In zwei parallelen Linien aufmarschirt, hatten vier Compagnien die Gewehre zusammengestellt und erwarteten uns augenscheinlich, denn kaum gewahrten sie uns, als die Commandos der Officiere erschollen und sich die Reihen ordneten. Der Commandant aber ritt unserm Hauptmann entgegen und machte ihm Mitteilungen, worauf wir als Verbindungsglied zwischen die beiden sich gegenüberstehenden Linien der Franzosen einrückten, auf diese Weise mit ihnen ein auf einer Seite offenes Carré bildend. Auf dieser offenen Seite aber, die gegen die Anhöhe gerichtet war, zeigten [724] sich eine Anzahl dicht beisammen stehender Menschen, theils in bürgerlicher Kleidung, theils in Uniform hinter einem frisch aufgeworfenen Sandhügel.

Was hatte das zu bedeuten? Ich sah nach dem Hauptmanne, der in der Nähe bei den französischen Officieren stand; er war bleich, und man sah ihm Schrecken und Aufregung an. Ein alter Troupier in meiner Nähe, der als Fremdenlegionär in der Krim, in Algier, Italien und Mexico unter den napoleonischen Fahnen gedient hatte, warf mit gestrecktem Halse zwischen seinen Vormännern hindurch einen forschenden Blick nach dem räthselhaften Menschenknäuel und der ebenso räthselhaften Grube und sagte dann: „Corporal, verlaßt Euch darauf – da giebt’s eine Füsillade.“

Himmel und Hölle – mir ward es schwarz vor dem Gesicht und das Blut erstarrte mir vor Entsetzen. Wo hatte ich doch meine Augen vorher gehabt – wahrhaftig: das war ein offenes Grab, neben dem in dem Sandhügel die Spaten zum Zuwerfen steckten. Und jetzt erkannte ich auch die Uniformen der Sbirren in dem Haufen und sah sie gefesselte Männer bewachen. Gräßlich!

Also zu Henkern hatte man uns bestimmt! Nein, mehr noch, zu Mördern! Denn daß es sich nicht um die Ausführung eines rechtmäßigen Urtheiles handelte, sondern um einfachen Mord, das zeigten die absonderlichen Umstände, unter denen die Execution stattfinden sollte. War es nicht das erste Geschäft der nach 1849 zurückkehrenden päpstlichen Regierung gewesen, an Stelle der vom Volk verbrannten Guillotine ein neues solches Mordinstrument anzuschaffen, mit dem die Hinrichtungen in der Hauptstadt der Christenheit öffentlich ausgeführt wurden? Warum entzog man diese Opfer dem schauwüthigen, demoralisirten Pöbel Roms und schleppte sie hierher in eine öde, menschenverlassene Gegend?

Aber was sollten wir, die wir zur Durchführung des Bubenstreiches bestimmt waren, thun? Als echte Mordknechte ohne Liderzucken den Blutbefehl ausführen? Unsere ganze Abtheilung, welche die Schreckensnachricht wie der Blitz durcheilt hatte, war empört über die ihr zugemuthete Rolle, und Niemand wollte Theilnehmer an der Execution sein. Aber die Disciplin! Und würden nicht Widerspänstigkeiten schnell durch die Franzosen unterdrückt werden, die vielleicht zu gar keinem andern Zwecke da waren? Ja, ja, das war’s: die Franzosen mochten sich wohl für die ihnen zugemuthete Ehre, Henker zu spielen, bedankt haben, weshalb man uns und gerade uns, die wir ohne Aufsehen herbeigeschafft werden konnten, holen ließ; aber man mißtraute unserer Brauchbarkeit für solche Dinge, und darum umstellte man uns mit einer Uebermacht fremder Truppen, die uns die Möglichkeit einer Nichtausführung des Blutbefehls benehmen sollten. Wie nun aus diesem Dilemma herauskommen?

Alle Gedanken und Erwägungen wurden durch einen Trommelwirbel der französischen Tamboure und das Commandowort unseres Hauptmanns abgeschnitten. Der Letztere, ebenfalls ein Deutscher, dem trotz seiner bekannten Frömmigkeit und päpstlichen Gesinnung das Henkeramt offenbar gleich uns in tiefster Seele widerstrebte, trat mit trübseliger Miene vor die Front und forderte Freiwillige zur Execution vor. Aber Niemand meldete sich. So mußte denn eine Squadra – zwölf Mann – commandirt werden. Als dieser der Befehl zum Vormarsch gegeben wurde, zuckte manche Miene, manche Lippe bewegte sich zu einer leisen Frage, aber ein energisches Commandowort und – die Disciplin hatte gesiegt. Das Peloton lud die Gewehre.

Jetzt wurden von den Sbirren zwei der Opfer vor die Grube geführt, das eine ein älterer, hagerer Mann, das andere eine kleine, corpulente Figur mit rothem Bart und lebhaften Bewegungen, beide in eleganter Kleidung. Alsdann trat ein ebenfalls in Begleitung der Sbirren angekommener Beamter vor und verlas pathetisch das „Urtheil des heiligen Tribunals“. Die beiden Verbrecher, „deren Namen den hochwürdigsten General-Inquisitoren bekannt“ seien, hätten sich des „gottlosen Hochverrathes an der Regierung Seiner Heiligkeit“ schuldig gemacht und darum den Tod verdient.

Die Sbirren traten zur Seite; das Commando des Sergeanten des Executionspelotons ertönte; der Kleine rief ein trotziges „morte ai tiranni!“ – die Gewehre knatterten und als sich der Pulverdampf verzogen hatte, sahen wir erschüttert die beiden Opfer der milden, gottesfürchtigen Regierung in den Sand gestreckt.

Aber was war das? Das Würgen hatte noch kein Ende; denn ein neues Opfer ward auf den blutbespritzten Plan geschleppt. Dieser Mann aber, der keine Städterkleidung trug, sondern eine mir bekannte ländliche Tracht – täuschte eine Spukgestalt meine erregten Sinne oder war es Wahrheit? – dieser Mann, der jetzt eisengefesselt, gebeugt, aber festen Schrittes vor die Gewehrmündungen trat, war – Boticelli, unser Freund und Lebensretter.

Ich glaubte, der Schlag müsse mich rühren oder die Nacht des Wahnsinns mich umfangen, und eine Minute lang war ich wie gelähmt. Ich sah und hörte nichts, was um mich vorging, weder das Flüstern und Murren meiner empörten Cameraden, die ebenfalls Boticelli erkannt, noch den befehlenden Zuruf des über die Unruhe seiner Abtheilung erstaunten Hauptmanns; ich starrte nur wie durch einen Zauber gebannt die mir so sympathische, nun wohl durch Kerkerhaft und Mißhandlungen gebrochene Gestalt des Freundes an und hörte die Stimme des danebenstehenden Beamten, der das Urtheil verlas. Welche Gründe wollte man hier nennen, den Mord zu rechtfertigen? Wessen erfrechte man sich diesen Mann zu bezichtigen, dem die Regierung so viel Dank schuldete? „Nachdem er sich fortgesetzt feindselig gegen die Regierung des heiligen Vaters und unsere heilige Religion benommen und gegen sie conspirirt, auch die Soldaten des römischen Stuhles zum Ungehorsam und zum Abfall zu verleiten gesucht, ging er in der Bosheit seines Herzens so weit, seinen ihm verwandten Knecht, einen treuen Freund der Regierung, dessen Ueberwachung er fürchtete, vorbedacht zu ermorden und für dieses Verbrechen durch meineidige Versicherung einen treuen Unterthan und Beamten verantwortlich zu machen, um danach aus dem Lande zu fliehen, woran ihn aber die Pflichttreue des von ihm fälschlich denuncirten Sbirren Castelvetri rechtzeitig verhindert.“

Ein „Ah“ der Verwunderung, in das meine Nebenmänner ausbrachen, löste den Bann und gab mir den Vollbesitz meiner Sinne wieder. Nun aber hielt mich keine Disciplin mehr, und schnell trat ich salutirend aus dem Glied an den Hauptmann, der eben ergrimmt auf die unbotmäßige Abtheilung zustürzte, heran, um ihm von der unerhörten Frevelthat Meldung zu machen, die hier begangen worden und eben mit dem schändlichsten Mord gekrönt werden sollte. Währenddessen war die Abtheilung in ein lautes Murren ausgebrochen, das von dem Geist des Widerspruchs angesteckte Executionspeloton aber hatte kurzweg Kehrt gemacht und war in die Reihe eingerückt.

Natürlich zogen diese außergewöhnlichen Auftritte die Aufmerksamkeit der Franzosen in immer höherem Grade auf sich, und endlich ritt der Commandant herbei, um sich bei dem Hauptmann über die Gründe der Unruhe zu erkundigen. Als dieser, der sich jetzt von Montefiascone her jenes Meuchelmordes Castelvetri’s erinnerte, selbst empört dem Commandanten Mittheilung über diese Art von römischer Gerechtigkeit machte und ihm erklärte, daß unter diesen Umständen von einer Füsillirung des offenbar Unschuldigen durch seine Abtheilung keine Rede sein könne – da schüttelte auch dieser im Prätorianerdienst ergraute Officier das Haupt.

Ein Officiersrath wurde zusammenberufen, der einstimmig beschloß, daß die Execution bei so überwältigenden Zweifeln an der Schuld des Verurtheilten nicht stattfinden könne, vielmehr das Urtheil dem Gerichte zur Prüfung zurück zu geben und letzteres auf mein und des Hauptmanns Zeugniß für Boticelli und die Weigerung der Abtheilung aufmerksam zu machen sei.

Nachdem der über diese Wendung höchlich verwunderte Regierungsbeamte auf Anfordern unseres Hauptmannes den Sachverhalt zu Protocoll genommen hatte, trat der Hauptmann mit feierlichem Ernste, aber gewiß innerer Zufriedenheit vor die Front, tadelte die Indisciplin, versprach aber, daß der Fall gewissenhaft geprüft werden solle, und forderte uns streng auf, nunmehr voll und ganz zu unserer Pflicht zurück zu kehren und das Weitere ruhig abzuwarten. Dann marschirten wir ab, von den beifälligen Zurufen der Franzosen begleitet und nicht ohne unsrem durch unser Dazwischentreten dem schon geöffneten Grabe entrissenen Freunde, der während der ganzen Scene erstaunt nach uns geblickt, einen stummen Gruß zugeworfen und von ihm einen lauten Segensruf empfangen zu haben.

Mit dem Bewußtsein einer guten That erreichten wir nach längerem Marsche gegen Mittag Civitavecchia wieder, von wo uns derselbe Dampfer, der uns abgeholt, bald nach unserer Garnison zurückbrachte.

[726]
5.

Der nächste Frühling traf mich in Rom.

Der Ungehorsam meiner Abtheilung bei jener Execution hatte die Regierung arg aufgebracht, aber des öffentlichen Skandales wegen wagte man nicht, öffentlich gegen uns vorzugehen. Dagegen suchte man die unsichere Compagnie dadurch zu discipliniren, daß man ihr andere und zwar französische Officiere gab und auch die Unterofficiere zum größten Theil wechselte – Officiere und Unterofficiere traten nun in der rücksichtslosesten, provocirendsten Weise gegen die Abtheilung auf. Das Resultat war natürlich nur eine hochgradige Erbitterung der im Uebrigen verlässigen Leute, die sich bei der Executionsaffaire hatten fühlen gelernt und deren Abneigung gegen das Regime, dem sie dienten, immer offenbarer wurde. Später, als die Schläge, welche im Sommer 1870 die stolze napoleonische Armee trafen, auch in Rom ihre Wirkung äußerten, haben diese Dinge nicht wenig dazu mitgewirkt, daß die päpstliche Regierung gerade ihre militärisch besten Truppen, die Deutschen, gegen die anmarschirenden Italiener gar nicht zu verwenden wagen durfte.

Was mich, den Hauptschuldigen bei der Affaire, betrifft, so hatte mich ein in den Salzsümpfen von Fiumicino geholtes Fieber der mir ohne Zweifel besonders zugedachten Chicanen der neuen Strafofficiere überhoben. Man hatte mich nach Rom in’s Lazareth senden müssen, das ich nach langer, erfolgloser Cur dienstunfähig verließ, um als Reconvalescent nach Belieben über meine Zeit zu verfügen.

Schleichenden Schrittes durchwanderte ich der Tiberstadt reiche Kunstsäle und ihre mächtigen, erinnerungsreichen Trümmerstätten, vor allem aber ihre herrlichen Parks und Anlagen, in denen ich Erquickung und Genesung für den fiebergefolterten Leib suchte. Für die Seele konnte ich freilich keine finden. Jene Hinrichtungsscene hatte meinen bisherigen Erfahrungen in Rom die Krone aufgesetzt, und das gräßliche Bild wollte mir im Wachen und Träumen nicht mehr aus dem Sinn. Nur fort, fort aus dieser Hölle der Menschheit, aus diesem Lande, das die Priester mehr als irgend ein anderes zu einem Jammerthal gemacht, fort, um so viel geistiges und körperliches Elend des Volkes und so viel Verdorbenheit und Infamie der Herrschenden nicht länger ansehen zu müssen! In diesem Wunsche concentrirte sich all mein Sehnen, und ich fühlte, daß ich auch körperlich nicht gesunden könne, ehe ich nicht die Pestatmosphäre der päpstlichen Tiberstadt mit der rauheren, aber reineren Luft jenseits der Alpen vertauscht haben würde. Darum hatte ich auch bereits nachdrückliche Schritte zu meiner Dienstentlassung gethan, sodaß meine lange ersehnte Abreise in die Heimath in naher Aussicht stand.

Aber noch waren nicht alle Fäden zwischen mir und Rom zerschnitten, denn eine heilige Pflicht blieb mir noch zu erfüllen: die Förderung des Processes Boticelli’s, des armen verfolgten Freundes Befreiung und Rehabilitirung. Von dem Augenblick an, wo ich meines Körpers wieder einigermaßen mächtig war, bemühte ich mich an allen mir in der Sache von Einfluß scheinenden Stellen, aber ein Achselzucken über den sonderbaren Schwärmer, die Versicherung, daß man auf die Gerechtigkeit der Generalinquisitoren unbedingt bauen dürfe und daß man mich schon werde zu finden wissen, wenn man meines Zeugnisses bedürfe – das war Alles, was ich zu erreichen vermochte. Ich schrieb an den Hauptmann und an Werner – ihr Zeugniß war ebenso wenig gefordert worden, wie das meinige. Ich erkundigte mich nach dem Schicksale Boticelli’s – man gab mir keine Auskunft; die Wirksamkeit des heiligen Tribunals war in ein undurchdringliches Geheimniß gehüllt.

Eines Nachmittags hatte ich wieder solch einen vergeblichen Versuch gemacht und war dabei rundweg angewiesen worden, nicht wieder zu kommen und überhaupt meine „Nörgeleien“ aufzugeben. Von Wortgefecht und Gemüthsaufregung ermüdet, flüchtete ich mich ist die schattigen Haine und südlichen Zaubergärten des Monte Pincio, um in der balsamischen Luft dieser üppigen Vegetation zu ruhen und – zu träumen. Ja, zu träumen! Denn wer vermöchte es, kalt und berechnend nur an die Interessen des Tages zu denken an solcher Stelle, den Blick auf das einzige, sinnberauschende Bild jener Stadt der Städte gerichtet, deren Name allein die Erinnerung an Jahrtausende wachruft! Von den tropischen Yuccabäumen, Agaven, Cacteen und Palmen des Monte Pincio aus übersieht der staunende Blick die Denkmale dreier Jahrtausende, die Erinnerungszeichen zahlreicher Völker von Nah und Fern, von Abend und Morgen, die in Entstehen, Glanz und Untergang die Stadt geschaut, welche zweimal den Erdkreis beherrscht!

Die Weltherrschaft des alten und des neuen Rom ist gesunken, aber beide haben tiefe Spuren zurückgelassen. Welche von ihnen war für die Menschheit sind ihr Fortschreiten ersprießlicher? Die erste unterwarf sich die Welt mit Feuer und Schwert und Gewaltthat jeder Art, aber sie vermittelte ihr die Cultur. Die andere brachte zehnmal mehr Schrecken über die Menschheit, und was sie der Welt geschenkt, ist noch in seinen Resten der freien Entwickelung geistigen Lebens hinderlich. Um wie viel mehr mußte es ihm hinderlich sein an der Tiber selbst, wo das ganze Land unter diesem modernden Getrümmer begraben lag. Und noch war keine Aussicht, daß der Erlöser bald kommen würde, der die für ihre Beherrscher büßende Stadt befreien sollte von dem Fluch der Tiara.

So dachte und träumte ich, alles Lebende rings umher vergessend, bis mich die Dämmerung überraschte und Fieberfrösteln mich zum Aufbruch zwang. Durch die Ripetta und das vaticanische Viertel schritt ich eilig meinem Quartier in Trastevere zu. Da, als ich die Engelsbrücke überschritt, hörte ich von der Courtine der Engelsburg herab meinen Namen rufen und entdeckte hinaufblickend bald einen Bekannten, der, zur Besatzung des Hadrianscastelles gehörig, mich einlud, zu ihm in die Veste hinaufzukommen und den Abend bei ihm zu verbringen. Ich folgte seiner Einladung.

Die Engelsburg, das alte Mausoleum Hadrian’s, ein riesiger Cylinder auf quadratischem Unterbau, von starken Befestigungen umgeben, ist die Bastille der Tiberstadt. Seit neunhundert Jahren diente sie als Festung, welche die Stadt am linken Tiberufer beherrschte und in der die friedlichen, von ihrem Volk geliebten Päpste oft Schutz vor Gefahren suchten und fanden. Zugleich befanden sich in ihr auch die berüchtigten Staatsgefängnisse, die unter dem „milden“ Regime des Vaticans stets überfüllt waren.

In der That sah es sehr kerkermäßig dort droben aus. Auf dem Casemattenhofe, in dem das Wachlocal meines Bekannten lag, waren ein paar mit Eisen an Händen und Füßen belastete Gefangene mit Arbeiten beschäftigt, und Kerkermeister mit ihren Schlüsselbunden und Stöcken gingen ab und zu, die Gefangenen mit herrischen, rohen Worten anfahrend. Die einförmigen, düsteren Festungsgebäude, der kahle Hof, der riesige Thurm mit seinen zahlreichen vergitterten Fenstern – all das machte einen düsteren Eindruck auf mich, und ich sagte meinen Bekannten, daß ich höchst unglücklich sein würde, hier länger Dienst thun zu müssen. Mein Gastfreund aber meinte, es sei doch wohl nicht ganz so schlimm; käme doch selbst manches hübsche Mädchen herauf, sich um ihre gefangenen Verwandten bekümmernd. „Sieh nur,“ fuhr er mit einem Blick nach dem Thor fort, „dort ist gleich eine. Ich muß doch hingehen und sie näher ansehen.“

Es war eine Landbewohnerin, und ihre hohe Gestalt und würdevoll gemessene Haltung zogen mich eigenthümlich an – ich glaubte sie zu kennen, aber es war wohl nur Einbildung, denn diese imponirende Haltung ist das Erbtheil aller Latierinnen, und gingen sie in Lumpen und wären sonst häßlich wie die Nacht.

Mein zurückkehrender Freund brachte mir, nachdem das Mädchen wieder gegangen, einigen Aufschluß über dasselbe. Seit Wochen, sagte er, komme das Mädchen, dessen Schönheit und Anmuth er nicht genug rühmen konnte, alltäglich und übergebe dem Gefangenenwärter ein Körbchen mit Früchten, Käse u. dergl. für ihren in der Burg gefangen sitzenden Vater. Oefters schon hätte er die Schöne gern angesprochen, aber ihr würdiges Wesen und vor Allem die tiefe Trauer, die auf ihren schönen Zügen liege, halte ihn von jedem platten Scherze ab und nöthige ihm inniges Mitgefühl und Achtung ab. Es that mir nun doch leid, daß ich nicht an das Mädchen herangetreten war; ich vergegenwärtigte mir immer auf’s Neue ihre Gestalt und ihr Wesen, die mir so bekannt gedünkt. Aber ich konnte zu keiner Klarheit kommen, und da ich an der Sache wärmeren Antheil nahm, als ich mir zu erklären vermochte, rief ich den eben vorübergehenden Kerkermeister, der vorhin mit dem Mädchen gesprochen, an und fragte ihn, ob er nichts Genaueres über die Besucherin wisse.

„Ah,“ erwiderte der Mann mit widerlichem Lachen, „das schöne Kind hat Euch in die Augen gestochen – wie? Nun, da kann ich Euch dienen; ’s ist eine gute Freundin von mir. Aber [727] Ihr könnt nichts machen mit ihr, denn sie ist gar stolz, und doch war ihr Vater blos ein gemeiner Mörder. Vor mehr als drei Monaten ward der gefährliche Kerl eines Nachts hierhergebracht. Am zweiten Tag darauf stellte sich schon unser Mädchen ein und gab mir gute Worte und einen Paolo, daß ich ihren Vater gut behandeln und ihm einige Kleinigkeiten übergeben solle, denn er sei bei Gott und der Madonna unschuldig – Ihr wißt ja, das sind alle Spitzbuben, wenn man sie hört. Nun, einem schönen, traurigen Mädchen muß ein Christ schon einen Gefallen thun, und so übernahm ich den Auftrag der Schönen zum Trost, obgleich der Alte doch nichts davon bekam. Seitdem kommt nun das Mädchen jeden Abend mit ihrem Körbchen und fragt immer wieder, ob denn ihr Vater noch nicht bald befreit werde. Die Arme! Verflucht, aber ich, der ich seit fünfzehn Jahren Gefangenenwächter bin, habe nicht den Muth, dem Mädchen die Wahrheit zu sagen. Denn in Wahrheit ist er von den Kerkerleiden längst befreit. Er war schon zum Tode verurtheilt gewesen, ehe er hierher kam, und hatte erschossen werden sollen, aber die verdammten Franzosen hatten sich geweigert, ihn abzuthun. Nun, da hat man ihn hierhergebracht und – Ihr wißt ja, man hat so seine Mittelchen, solche Leute zum Schweigen zu bringen. Acht Tage darnach trugen sie den Körper in der Nacht nach San Spiritu zu den Menschenzerschneidern hinüber –“

Wie wahnsinnig sprang ich empor und würgte den Schergen am Hals: „Den Namen, Schurke!“

Der Erschrockene suchte sich von meinen Griffen zu befreien: „Aber, Signor, wollt Ihr mich erwürgen? Wenn Ihr nichts als den Namen wollt, den hätt’ ich Euch auch so gesagt. Luigi Boticelli hieß er; er war aus der Provinz Viterbo.“

Kraftlos brach ich auf die Bank zusammen. In demselben Augenblicke aber trat ein Marschall der Sbirren in silberstrotzender Uniform und mit gebieterischem Wesen in den Hof und herrschte den vor ihm kriechenden Kerkermeister an. Ich starrte den Mann gleich einem Schemen an, denn diese Gaunerphysiognomie kannte ich, und ich werde sie nie vergessen – es war Castelvetri, der belohnte Meuchelmörder!