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Titel: Geistliche Exercitien
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aus: Die Gartenlaube, Heft 14, S. 218–220, 222
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[218]
Geistliche Exercitien.

Es war am Sylvestertage des Jahres 18.., als ich nach X. abreiste. Ich sollte nach der Bestimmung derer, welche mir durch Darbietung der nöthigen Geldmittel die Fortsetzung meines Studiums ermöglichten, in das dortige Knabenseminar eintreten und mich darin zu dem geistlichen Berufe vorbereiten. Mein Vater war dagegen – ich ursprünglich ebenfalls. Dennoch reiste ich meinem neuen Bestimmungsorte zu, weil ich einsah, daß die Mittel meines Vaters zu beschränkt waren, als daß ich mir mit ihrer Hülfe eine höhere Bildung hätte verschaffen können. Zudem findet man sich in der Jugend leicht in jede Aenderung, man erblickt die unangenehmsten Lebensverhältnisse durch die rosige Brille kindlicher Unbefangenheit und jugendlichen Vertrauens.

Am Abend desselben Tages langte ich in X. an; die Pforten des Knabenseminars, von einer barmherzigen Schwester geöffnet, schlossen sich hinter mir und trennten mich für drei Vierteljahre von der äußern Welt, in deren Wogen und Treiben der Jüngling zum Manne reifen muß, wenn er ein rechter Mann werden will. Andere Leute denken freilich anders, auch meine hohen Gönner und Helfer – die katholische Geistlichkeit meines Orts – waren darüber anderer Ansicht. Die Welt ist ein Sumpf, durch den sich nur der geläuterte und im Christenthum erstarkte Mann mit Ehren durchwinden kann, – über dem Haupt des unerfahrenen Jünglings schlagen die Schmutz- und Kothwellen des Lasters zusammen, er geht moralisch zu Grunde und kann infolge dessen nie ein brauchbares Werkzeug der Kirche, d. i. der Geistlichkeit werden, – so war ihre Meinung, und sie haben vielleicht von ihrem Standpunkte aus Recht.

Ich habe nie ein Institut kennen gelernt, das den Zweck, seine Zöglinge von dem Verkehr mit der Welt auszuschließen, in umfassenderer Weise erfüllt hätte, als das Knabenseminar.

Vergegenwärtigt man sich eine Anstalt, in der ein gleißnerischer, himmelsüchtiger junger Geistlicher von asketischer Frömmigkeit ein eisernes Regiment führt, gestützt auf die Berechtigung, seinen Zöglingen Frühstück, Vesper- und Abendbrod ad libitum auf längere oder kürzere Zeit zu entziehen und sie mit Maulschellen oder Stubenarrest zu tractiren; eine Anstalt, in der nach der Schablone gedacht, gearbeitet, gebetet, ja sogar gegessen und getrunken wird, deren Insassen durch Heuchelei, Frömmelei und gegenseitige Angeberei sich in der Gunst des Herrn Präses Hochehrwürden festzusetzen suchen, – so hat man ein bis in’s kleinste Detail genaues Conterfei des Instituts, in welches mich die Güte meiner Gönner versetzte.

Ich hatte bis zu meiner Ankunft in X. in einer durch und durch protestantischen Gegend gelebt, ein rein protestantisches Gymnasium [219] besucht und mir dadurch, wohl unbewußt, eine sehr liberale Anschauung in Religionssachen angeeignet.

Nun dieser Umschwung! Schon im Anfang meiner Laufbahn in X. sollte mir der Unterschied einer liberalen protestantischen und einer asketisch katholischen Erziehungsweise sehr deutlich gemacht werden. Es war nämlich eine althergebrachte Sitte, daß in den ersten Tagen jedes Jahres sogenannte geistliche Exercitien von einem Klostergeistlichen – gewöhnlich aber von einem Jesuiten – abgehalten wurden, – eine geistige Uebung, welche den Zweck hat, das menschliche Herz gleichsam zu zerquetschen, es in eine derartig mönchsmäßige, armsünderliche und deprimirte Stimmung hineinzubeten, daß es ganz verhimmelt, aus den Erbärmlichkeiten und Sünden dieses Jammerthals sich zu befreien und einen Vorgeschmack der Seligkeiten des Jenseits zu erhalten strebt, – alles dieses natürlich im Vollbewußtsein seiner Unwürdigkeit. Gleich am ersten Tage nach meiner Ankunft sollte mir Gelegenheit in Fülle gegeben werden, mein Gesicht über die im Knabenseminar herrschenden merkwürdigen Gebräuche in verwundert krause Falten zu legen. Zwar machte es schon einen eigenthümlich beklemmenden Eindruck auf mich, als um halb fünf Uhr Morgens eine alte Glocke, von einer barmherzigen Schwester in Bewegung gesetzt, ein ohrenzerreißendes Geheul anstimmte und das ganze Seminar binnen fünf Minuten auf die Beine brachte; zwar fühlte ich mich seltsam berührt, als ich, kaum aus den Federn gekrochen und nur mit Hauskleidern versehen, mich aus dem warmen Bett in die kleine, kalte Capelle versetzt sah und, die Augen krampfhaft geöffnet, mich mit undeutlicher Stimme an der Herbetung des Glaubens, eines Dutzend Paternoster, sowie unterschiedlicher anderer mit Ave Maria dicht gespickter und gemischter Gebete fromm betheiligte; zwar sträubte sich mir unwillkürlich das Haar, als ich sah, wie der Präses, indignirt über einen Alumnen, der die Frechheit hatte, statt den Rosenkranz zu beten, mit den Perlen seiner Schnur spielend die Langeweile abzuwehren, dem Unglücklichen eine beträchtliche Anzahl urkräftiger Ohrfeigen verabreichte und dies mit einer Virtuosität, die auf eine langjährige, erfolgreiche Praxis schließen ließ; – aber meine Verwunderung erreichte erst den höchsten Grad, als der Herr Präses Hochehrwürden nach gedeihlicher Beendigung des Morgensegens den Arbeitssaal betrat und seine Seminaristen ungefähr folgendermaßen anredete:

„Meine in Christo geliebten, theueren Söhne! Noch voll dankbarer Erinnerung an den reichlich gespendeten Gottessegen des heiligen Weihnachtsfestes kehrt Ihr zurück in die Euch mit einer wahren, echten, christlichen Erziehung versehende Anstalt, in die Anstalt, deren Vorsteher es sich zum heiligsten Ziele gesetzt haben, Euch zu echten Christen auszubilden, die das lautere Gotteswort hoch über irdische Weisheit stellen, Euch zu dem hohen Berufe, Diener Gottes und seiner Kirche zu sein, heranzubilden. Ihr kehrt zurück, um neuer Segnungen theilhaftig zu werden, um durch die heiligen Exercitien Euren Geist zu sammeln, Eure Seele zu Gott zu erheben, kurz, um dem Herrn allein zu leben. Eurem Wunsche soll jetzt Rechnung getragen werden. Unser gnädigster Herr Erzbischof sandte den ehrwürdigen Pater L. aus der Gesellschaft Jesu, und schon heute wird dieser voll heiligen Eifers die geistliche Uebung beginnen. Hütet Euch daher in diesen Heilstagen vor Augenlust, Fleischeslust, Hoffahrt, haltet Eure Zunge im Zaum, meidet unheilige Worte, sammelt Euren Geist, auf daß er in sich gehe, seine Sünden bereue und gute Vorsätze für’s ganze Leben fasse. Um mich kurz zu fassen, meine Freunde: wachet und betet, betet und arbeitet, arbeitet für den Weinberg des Herrn, arbeitet für Eure eigene Seele, daß Ihr nicht an dem Tage, da Rechenschaft abgelegt wird, auch zu den Schaaren zur Linken gezählt werdet, zu denen der Herr spricht: weichet von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln, daß Ihr vielmehr zur Rechten des Herrn gestellt werdet, zu denen, die das himmlische Reich erben, in dem sie mit Engeln und Heiligen den Herrn von Angesicht zu Angesicht sehen werden und ihm lobsingen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Der Präses räusperte sich mit Salbung, verdrehte seine mattwasserblauen Augen, gleichsam als wolle er die Seligkeiten des Himmels erspähen, nach dem Zimmerbalken und machte ein so fürchterlich selig verzücktes Gesicht, daß ich mich der Idee nicht verschließen konnte, er stehe mit dem Jenseits in innigster, directester Verbindung. Ob mit der Hölle oder dem Himmel, konnte ich freilich nicht wissen; jedenfalls mit letzterem, – er war ja ein sehr, sehr frommer Mann! Darauf ergriff der Herr Präses Hochehrwürden ein Papier, entfaltete es und dictirte seinen noch andachtsschauernden Zöglingen den Inhalt desselben in die Feder. Die Seminaristen schrieben Folgendes nach:

Tagesordnung während der Exercitien.
5 Uhr Aufstehen.
51/4 51/2 " Morgengebet in der Capelle.
51/2 61/4 " Betrachtungen.
61/4 61/2 " Nachdenken über die Betrachtungen.
61/2 70 " Freie Zeit.
70 71/2 " Heilige Messe.
71/2 81/4 " Kaffeetrinken und Freie Zeit.
81/4 83/4 " Gemeinschaftliche Lesung.
83/4 90 " Freie Zeit.
90 93/4 " Betrachtungen.
93/4 100 " Nachdenken über die Betrachtungen.
100 101/2 " Frühstück und freie Zeit.
101/2 110 " Nachdenken über den Gewissenszustand.
110 111/6 " Gemeinschaftliches Gebet.
111/6 111/2 " Freie Zeit.
111/2 113/4 " Lesung aus Thomas a Kempis.
113/4 120 " Gewissenserforschung.
120 11/2 " Essen und Erholung im Stillen.
11/2 20 " Rosenkranzandacht in der Capelle.
20 23/4 " Unterricht.
23/4 30 " Freie Zeit.
30 31/2 " Geistliche Lesung.
31/2 40 " Nachdenken über den Gewissenszustand.
40 50 " Kaffeetrinken und freie Zeit.
50 53/4 " Betrachtungen.
53/4 60 " Nachdenken über die Betrachtungen.
60 61/2 " Miserere.
61/2 70 " Freie Zeit.
70 80 " Essen und freie Zeit.
80 90 " Gewissenserforschung, Litanei und Abendgebet.
90 " Hinlegen.


Nachdem er diesen trockenen Tagesplan mit sehr hoher, vernehmlicher Stimme und vielem unnöthigen Pathos verlesen hatte, faltete er das Papier mit der unnachahmlichen Würde eines katholischen Geistlichen zusammen, räusperte sich im Gefühle seiner Größe unterschiedliche Male mit Kraft und verließ, nachdem er mit Späherblicken seine Opfer gemustert, mit gravitätischen, ernst abgemessenen Schritten das Zimmer.

Schweigend und wohl theilweise von dem Inhalte der Tagesordnung niedergedonnert, verharrten die zurückbleibenden Seminaristen in Ergebenheit, und jeder machte sich mit stiller Resignation daran, sein Bücherpult zu durchmustern. Der eine zog ein Exemplar der vom Jesuiten Schuster geschriebenen Medulla pietatis, der andere des gottseligen Thomas a Kempis Büchlein von der Nachfolge Christi hervor, ein dritter vertiefte sich in des Pater Cochem „Paradiesgärtlein für christkatholische Jünglinge und Jungfrauen“, einige ebenso gelehrte wie fromme ältere Alumnen beschäftigten sich sogar mit der civitas Dei des heiligen Augustinus, - kurz, Jeder griff nach einem geistlichen Trost- und Erbauungsbuche, in welchem dann mit Eifer studirt wurde. Die jüngeren, noch nicht geläuterten Alumnen schauten sich dabei bisweilen neugierig nach mir als Neuangekommenem um, um im Voraus zu erspähen, weß Geistes Kind ich wohl sei. Ich stand meinerseits da, wie Butter an der Sonne, mit einer Miene, die jedenfalls deutlich verrieth, wie wenig ich jetzt von der Wahrheit des Ben Akiba’schen „Alles schon dagewesen“ überzeugt war. Nichtsdestoweniger holte ich aus meinem Reisekoffer in Ermangelung eines Gebetbuches, eine alte Ausgabe der Vitae von Cornelius Nepos hervor, deren ehrwürdiges schweinsledernes Aeußere recht wohl eine Verwechslung mit dem schweren Einbande eines alten Familiengebetbuchs zuließ, und begann mit einem Eifer über das fatale non dubito fore plerosque nachzudenken, der mich die Außenwelt ganz vergessen ließ. Erst nach geraumer Zeit weckte mich ein leises Oeffnen der Saalthür aus meinen philologischen Träumereien.

Ein langer, hagerer, schwarzgekleideter Mann mit scharf markirten Zügen trat, nach allen Seiten sich verneigend, in das Zimmer und an den nächsten unbesetzten Tisch, an dem er [220] ohne weitere Vorrede Platz nahm. Dann fixirte er mit scharfem Blicke die Anwesenden. In dem Saale entstand eine unheimliche, geraume Zeit andauernde Stille. In der Meinung, eine Rolle in Tausend und einer Nacht mitzuspielen, klappte ich mit innerem Beben meinen Nepos zu und wartete gespannt der Dinge, die da kommen würden. Der Pater L., denn Niemand anders war der eben Eingetretene, öffnete endlich ein kleines Gebetbuch mit reichem Goldschnitt und begann mit hohler Stimme ein höchst erbauliches, fünf bis sechs Seiten langes Gebet zum Heiligen Geiste vorzulesen, an dem die Anderen mit gefalteten Händen still theilzunehmen schienen. Nach Beendigung des Gebets verstattete der Jesuit seinen Zuhörern eine angemessene Pause zu ordnungsmäßiger innerer Verarbeitung des Vorgelesenen. Nachdem er dann kurz die Seminaristen begrüßt und einige einleitende Worte über die hohe Bedeutung und die segensreiche Wirksamkeit der Exercitien gesprochen hatte, begann er seinen ersten Vortrag: „Ueber das Ziel unseres Daseins“.

Durch die dreitheilige Rede wurde dargethan, daß der Mensch nur Gott leben solle, und daß wir die wahre Glückseligkeit nur in Gott und nicht in den werthlosen Gütern dieser Welt finden können. Er redete dabei trotz seiner harten, unheimlichen Stimme mit einer fast kindlichen Unbefangenheit, ja Naivetät, die nur zuweilen bei Androhung ewiger Strafen und beim Hinweis auf’s letzte Gericht in asketische Strenge überging, mit einer eigenthümlich gekünstelten Einfachheit, die auf den harmlosen Zuhörer einen tiefen Eindruck zu machen im Stande war. Dabei behielt er seine Schüler immer im Auge, verfolgte mit Aufmerksamkeit die Eindrücke seines Vortrages, wußte, wenn er zu viel gesagt zu haben schien, einzulenken, wenn er zu milde gesprochen hatte, das Höllenfeuer wieder zur hellen lichten Flamme anzufachen.

Pater L. war eben Jesuit, gehörte jenem Orden an, dessen erstes Ziel es ist, der Menschen Herzen zu ergründen, ihnen ihre schwachen Seiten abzusehen, sich ihnen unentbehrlich zu machen und sie dann zu sich hinüberzuziehen, um sie zum Besten der Gesellschaft Jesu ad majorem Dei gloriam zu verwerthen. –

Daraus entstanden der große Einfluß und die hohe Bedeutsamkeit des Jesuitenordens.

Auf das empfängliche Gemüth der meisten in streng katholischen Gegenden geborenen und theilweise von ultramontan gesinnten Eltern erzogenen Alumnen machte dieser Vortrag, wie jeder folgende, einen tiefen Eindruck, und als der Pater nach vollendetem Vortrag sich entfernte, blieb jeder in stillem Nachdenken auf seinem Platze sitzen, überlegte das eben Gesprochene und nahm sich, durch die plausiblen Gründe des Paters überzeugt, vor, seinen Geist von den Dingen der Welt abzulenken, Gott allein zu lieben, ihm zu dienen und dadurch die ewige Seligkeit zu erlangen. Nur ich, der ich eben erst aus einer echt protestantischen Gegend nach X. übergesiedelt und noch von freierer Weltanschauung und Duldsamkeit in Religionssachen angeleckt war, vermochte mich nicht recht in den asketischen Vortrag des Jesuiten zu finden, und da ich mir überhaupt bisher über religiöse Dinge nie viel den Kopf zerbrochen hatte, so weilten meine Gedanken bald wieder, statt bei Gott, in der kurz verlassenen Heimath.

Die Tagesordnung wurde genau befolgt. Der Pater hielt außer dem vorher erwähnten noch zwei Vorträge an diesem ersten Tage der Exercitien, von denen der eine über die Seele, der andere von der Abscheulichkeit der Sünde, nach der Vernunft betrachtet, handelte. Dazwischen wurden Gebete und Stücke aus Thomas a Kempis vorgelesen, es wurden Rosenkranzandachten gehalten, es wurde Miserere gesungen und das Gewissen erforscht. Letzteres Geschäft war in seiner Art das komischeste. Man versah sich mit einem sogenannten Beichtspiegel, in dem alle nur erdenklichen Sünden gegen Gottes- und Kirchengebote sorgfältig verzeichnet waren. Alle Fehltritte, die der Mensch in seiner Sündhaftigkeit nur begehen kann, sind von frommen katholischen Geistlichen, wahrscheinlich mit gesträubtem Haar, darin gesammelt und einem sündigenden Publico zur geneigten Benutzung beim Beichten zur Verfügung gestellt worden. In diese Sündenregister vertieften sich nun während der drei Heilstage die Seminaristen, und kamen sie an eine Sünde, der auch sie durch ihre menschliche Schwäche erlegen waren, so notirten sie dieselbe genau, mit Angabe aller be- und entlastenden Nebenumstände, sowie der Anzahl der etwaigen Wiederholungen. Der Eine schrieb zitternd nieder: „ich habe an einem Sonntag den Tanzboden besucht“ und für sein Seelenheil besorgt in Parenthese dahinter: „Gott verzeihe mir die Sünde!“ – ein Anderer: „ich bin öfters während der Predigt unaufmerksam gewesen“, und so sammelte sich bei Manchem ein mit Sünden eng beschriebener halber Bogen an, so daß man sich unwillkürlich versucht fühlte, dem Beichtkinde zu rathen, lieber gleich den ganzen gedruckten Beichtspiegel in den Beichtstuhl mitzunehmen. Auch ich schrieb mir so ziemlich den ganzen Beichtspiegel ab, mit Ausnahme der Capitel, die von Mord, Todtschlag, Räuberei, Diebstahl, Brandstiftung, Meineid, Ehebruch, Polygamie und andern Sünden handelten, zu deren Begehung dem schlichten Seminaristen sowohl die nöthigen Mittel, als auch die Gelegenheit und die höhere Intelligenz fehlten.

Es sollte nach Beendigung der Exercitien nämlich eine Generalbeichte abgelegt werden, d. h. die Beichtenden sollten sich noch einmal aller ihrer seit der Geburt oder der letzten Generalbeichte gethanen Sünden entledigen. Wenn man bedenkt, daß der Gerechteste im Tage sieben Mal fällt, ferner, daß junge Leute von vierzehn bis zwanzig Jahren nicht gerade zu den Gerechtesten zu zählen pflegen, so wird man leicht beurtheilen können, welche Unmassen von Sünden an diesen Tagen von den im Seminar befindlichen dreißig Zöglingen zu Papier gebracht und nachher gebeichtet wurden. Auch kann man sich nicht wundern, wenn mancher der Sünder am dritten Tage der Exercitien von irgend einem asketischen Geistlichen anderthalb bis zwei Stunden im Beichtstuhl aufgehalten und ihm eine Levitenpredigt gehalten wurde, in der ihm der Priester die meisten seiner Fehltritte als abscheuliche, die Hölle oder im besten Falle nur eine erkleckliche Reihe von Jahren Fegefeuer nach sich ziehende Frevelthaten darstellte. Ebenso wird die Freude erklärlich sein, welche um sich griff, als die Beichtprocedur zu Ende geführt und jeder seine Sünden los geworden war. Natürlich gab man diese Freude für eine christliche, durch die endliche, gründliche Reinigung der Seele herbeigeführte aus, wenn sie auch bei Manchem, vielleicht bei Allen, in dem endlichen Schluß des Exercitiums und dem glücklich vollbrachten Beichtbekenntnisse begründet war.

Doch ich greife vor. –

Der zweite und dritte Heilstag verlief genau wie der erste. Immer von Neuem rollten die Perlen der Rosenkranzschnuren durch die Finger der Alumnen, von Neuem ertönte des Abends der einförmige Misereregesang, begleitet von dem nervenbetäubenden Gequiek eines in der Capelle aufgestellten Unicums von Musikinstrument, das – wohl nur aus Ironie – Orgel genannt wurde, aber nur ein zweifelhaftes und noch dazu defectes Halbgebilde von Harmonium und Leierkasten war. Wieder nahm ein rothhaariger, heimtückischer, dabei aber sehr frommer älterer Alumne, der zugleich Küster und Factotum in der Anstalt sowie der Urtypus eines rechten Seminaristen war, ein altes, abgegriffenes Exemplar des Thomas a Kempis oder die Philothea des heiligen Franz von Sales zur Hand und las mit langweiliger, eintöniger Stimme Abschnitte daraus vor, wobei die übrigen, die Hände über den Schooß gefaltet, mit gesenktem Blicke dasaßen und meistentheils die bekannte blitzschnelle Umdrehung der beiden Daumen um einander übten, ein Manöver, welches dem Nachdenken sehr förderlich sein soll.

Während der Zeit, welche nach der Tagesordnung zum „Nachdenken über den Gewissenszustand“ angewandt werden sollte, setzte man sich an sein Pult, stützte das Haupt gedankenschwer auf beide Hände, sah erst die Wand, dann die Zimmerdecke, darauf die Stiefeln, resp. Hausschuhe genau an, kaute dann an den Nägeln und ließ zur Abwechslung, vielleicht von drei zu drei Minuten, einen vernehmlichen Seufzer hören. Welchen Ausdruck tiefster Frömmigkeit kann man nicht in einen einzigen Seufzer legen! Der Herr Präses Hochehrwürden verstand es, besonders schön und fromm zu seufzen. – Die „freie Zeit“ wurde, da man während der drei Exercitientage nicht sprechen durfte, mit Lesung irgend eines frommen Buches ausgefüllt.

Pater L. hielt an den beiden letzten Tagen noch sieben Vorträge und zwar folgende:

Von der Abscheulichkeit der Sünde nach den historischen Strafen,
Von den Qualen der Hölle,
Betrachtung über den Tod,
Betrachtung über das Gericht,
Von der Barmherzigkeit Gottes,

[222]

Von der Nachfolge Christi und
Von den Gesinnungen beim Empfange der heiligen Communion.

Unter diesen Vorträgen waren die Betrachtungen über die Qualen der Hölle und über den Tod besonders erbaulich.

„Hölle,“ begann der fromme Mann seinen Höllenvortrag in voller Ekstase, „Hölle, welch’ ein Wort! Welcher gute Katholik sollte nicht betend ein Kreuz schlagen, sollte sich nicht zur Buße und Reue wenden, wenn ihm dieses Wort genannt wird? Wer sollte nicht zittern vor den Qualen, vor dem Heulen und Zähneklappern jenes grauenvollen Ortes, der dem Teufel und seinem Anhang bereitet ist, jenes Ortes, in dem der Auswurf der Menschheit für seine Laster, für seine Frevelthaten schreckliche Strafen erleidet? Die Hölle, ja, sie ist ein fürchterlicher Aufenthaltsort, und fürchterlicher noch ist die Erfahrung, daß der Mensch in seinem Hange zum Irdischen, in seiner Neigung zu den verbotenen Freuden der Welt nur zu leicht auf dem schlüpfrigen Pfade des Lasters zu jenem Orte des Grauens gelangt. Woher kommt es, daß die Gottesleugner, d. h. Religionsspötter, zuerst den Glauben an die Hölle und den Teufel fallen lassen? Sie thun es, um ihr Gewissen zu beschwichtigen, um die in ihrem Innern wache Stimme, die ihnen zuruft: ‚Es giebt ein Jenseits, es giebt eine Vergeltung im Jenseit, es giebt einen Ort der Strafe‘, zu tödten und verstummen zu machen. Blicket hin in die heilige Schrift, und auf jeder Seite werdet Ihr einen Beweis für das Dasein der Hölle finden. Die Hölle ist also ein sicheres Uebel. Sie ist aber auch ein schreckliches Uebel.

Nimmer ist ein Ende oder eine Milderung abzusehen; immer treiben und quälen den Verdammten die Furien seiner Leidenschaften, die er aber nicht befriedigen kann, immer werden die Verführer von den Verführten verflucht, ein schreckliches Geheul und Wehklagen, heftige Wuthausbrüche gegen Religion und Gott werden ausgestoßen. Und diese Qual endet nimmer; sie dauert fort in alle Ewigkeit. Welche Zeit aber wird von der Ewigkeit gefaßt? Wäre die Erde ein demantener Ball und alle tausend Jahre käme ein Vöglein, um nur wenige Minuten an ihr zu picken, – welche ungeheure Zeit würde es wohl nöthig haben, um diesen Koloß in Staub zu verwandeln? Aber selbst diese Ewigkeit würde nur einen winzigen Theil der Ewigkeit der Höllenleiden ausmachen. Wenn von hundert zu hundert Jahren eine Ameise über den größten, den härtesten Felsen unseres Planeten einmal hinliefe und Gott den Verdammten der Hölle ein Aufhören ihrer Qual verhieße, sobald der ganze Felsen von den Füßen des Thierchens zertreten wäre, ja – dann würde ein großes Frohlocken entstehen, sie würden ihre Leiden im Hinblick auf die einstige Erlösung mit Freuden ertragen. Aber sie enden nie, die Qualen der Hölle. Das ewige Ticktack der Höllenuhr lautet: ‚Immer, nimmer‘ – immer Qual, nimmer Errettung. – – –“

Ein feuriger Schluß endete die qualvolle Rede des Jesuiten, und die Zuhörer, die das Höllenfeuer an den Gliedern zu fühlen vermeinten, starrten entsetzt vor sich nieder, während der Pater sich still und mit gemessenem Schritt entfernte, erfreut über die Wirkungen seiner furchtbaren Höllenbeschreibung.

Auch mir neuem Seminaristen gab diese Rede vielen Stoff zum Nachdenken, und da ich sah, daß sich die anderen den Inhalt der Rede aufzeichneten, so that ich ein Gleiches, um hierbei die Aeußerungen des Jesuiten einer genaueren Prüfung unterwerfen zu können. Aber mein Geist, der nicht wie der der Anderen durch eine asketische Erziehung verkümmert war, erholte sich bald von dem niederschmetternden Eindruck des Vortrages. Ich hielt der strafenden Gerechtigkeit Gottes die Milde und Allbarmherzigkeit des Vaters aller Menschen entgegen, dem an der Errettung eines Verlorenen mehr gelegen ist, als an neunundneunzig Gerechten, der als frommer Hirt nicht Dunkelheit, nicht Mühe und Arbeit scheut, um ein verirrtes Schaf zur Heerde zurückzuführen, und auf diese Weise versüßte ich bald die von dem Pater in mein Herz geträufelten Wermuthstropfen.

In dem Tagebuche eines Seminaristen fand ich zu diesem Vortrag später folgende Bemerkung:

„Diese letzte Betrachtung von den Qualen der Hölle hat auf mich den tiefsten Eindruck gemacht. Ich wurde durch den Ernst und die tiefe Wahrheit derselben, durch die Gewißheit des Todes und Gerichtes und der damit verbundenen Gefahren sehr aufgeregt, und es ist mein fester Entschluß, durch religiösen Eifer und Verharren im Gebet mich des Himmels und seiner Seligkeiten würdig zu machen.“

Obgleich solche fromme Floskeln von Seminaristen öfter in ihr Tagebuch eingestreut wurden, damit sich der Präses, wenn er, wie häufig, die Pulte durchstöberte und in den Büchern der Alumnen las, von ihren frommen Gesinnungen überzeugen solle: so ist es dennoch möglich, daß gerade in diesem Falle der Commentator den wahren Eindruck der Rede niedergeschrieben hatte, und das um so mehr, als es der Jesuit verstand, durch lebhafte Darstellung der Belohnungen und Strafen im Jenseits das jugendliche Gemüth eines Seminaristen in eine derartige Aufregung zu versetzen, daß eine förmliche Furcht die Zuhörer zu guten, freilich wohl nicht nachhaltigen Vorsätzen antrieb.

Nachdem die Herzen der Alumnen drei Tage lang auf diese Weise bearbeitet worden waren, fand, wie schon oben erwähnt wurde, am Nachniittag des dritten Tages die Generalbeichte statt. Ich hatte das Glück, einen gutmüthigen westphälischen Geistlichen zum Beichtvater zu bekommen, welcher, ermüdet vom anstrengenden Beichtehören, mich sehr glimpflich abfertigte und schließlich noch belobte, weil ich mein Gewissen so sorgfältig erforscht habe. (Meine Sünden bedeckten nämlich einen vollen halben Bogen.) Aber wehe denen, die in thörichter Vermessenheit es wagten, einem ultramontanen, hyperorthodoxen Pfaffen oder gar dem Pater L. selber, der auch Beichte hörte, ihre Sünden zu gefälliger Inaugenscheinnahme, Beurtheilung und Absolution vorzulegen; – die frommen Männer zwickten die unglücklichen Sünder mit feurigen Zangen und, für ihr Seelenheil besorgt, gaben sie den Seelen derselben eine urkräftige Arznei, bestehend aus der Allerheiligenlitanei, fünf Paternostern, fünf Ave Marias und dreimaliger Erweckung von Glaube, Hoffnung und Liebe, – eine Arznei, die trotz ihrer Schärfe vom Seelenkranken dreimal des Tags genommen werden mußte und dies drei Wochen lang ohne Pausen!

Nachdem um sechs Uhr Abends alle Seminaristen ihrer Sünden bar und ledig geworden waren, begaben sie sich fröhlich auf den Arbeitssaal, wo es viel zu erzählen gab. Das dreitägige Schweigen hatte jeden Gedankenaustausch, die fortwährende Beschäftigung mit geistlichen Dingen jede Erzählung der Ferienerlebnisse verhindert, und jetzt war es Jedem Bedürfniß, sein Herz auszuschütten und dafür von Anderen Mittheilungen entgegenzunehmen. Erst jetzt wünschten sich die Seminaristen ein fröhliches neues Jahr, denn den meisten war es wohl bis jetzt nicht eingefallen, an die Vollendung des vergangenen Jahres zu denken.

Jetzt erst fragt ein neugieriger Alumne den andern, ob die Weihnachtsbescheernug bei ihm recht reichlich ausgefallen sei – kurz, Jeder hatte etwas Neues vorzubringen. Nur ich verhielt mich dabei, da ich fast Niemanden unter den Anwesenden näher kannte, ziemlich passiv, und es war mir daher lieb, als eine Glocke die Seminaristen endlich zum Abendessen rief.

Nach den außerordentlichen geistigen oder geistlichen Anstrengungen des Tages gab es heute ein ausnahmsweise sehr feines Souper, bestehend in nicht zu starkem Kaffee und einem dicken, kuchenartigen, mit Syrup überschmierten Gebäck, welches ein Lieblingsgericht der Seminaristen zu sein schien. Auch der Herr Präses Hochehrwürden nahm am Abendessen Theil und gab den Seminaristen eine Statistik des erfreulichen Aufblühens der katholischen Kirche in England zum Besten, welche natürlich mit großem Beifall aufgenommen wurde.

So endeten die geistlichen Exercitien. –

Als ich des Abends müde mein Lager suchte und die Erlebnisse der vorhergehenden Tage Revue passiren ließ, da kamen mir die Exercitien mit ihren Höllenvorträgen, ihren Tod- und Teufelsbetrachtungen, ihrem Schweigen und ihren unaufhörlichen Andachtsübungen wie ein schwerer Traum oder ein seltsames Märchen vor, und ich bewunderte den erfinderischen Geist der Leute, deren Frömmigkeit und deren Sorge um das geistliche Wohl der sündigen Menschheit die Exercitien, dieser raffinirte, aber fromme Zeittodtschlag, ihren Ursprung verdanken.