Gehörprüfung in den Schulen
[715] Gehörprüfung in den Schulen. (Nachdruck verboten.) Heutzutage müssen die größten Gelehrten öfters wieder in die niederen Schulen gehen, um in denselben gar manche wichtige Dinge zu studiren und Fragen zu lösen, welche ihre Wissenschaft stellt, die zwar mit dem ABC und der Grammatik nicht mehr zusammenhängen, deren Erledigung aber ohne Zuhülfenahme dieser Schulen nicht leicht möglich wäre! Bergen dieselben doch wahre Schätze für anthropologische, statistische und gesundheitswissenschaftliche Studien, Schätze, die erst zu einem kleinen Theile gehoben sind. Und doch – was hat man nicht schon Alles durch Untersuchung der Schuljugend erfahren! Wir erinnern nur an die Erhebungen über die Farbe der Haare, über das Wachsthum des Körpers, über die Verbreitung der Kurzsichtigkeit, der Farbenblindheit etc., wodurch Resultate zu Tage gefördert wurden, die zu Zeiten selbst weite Kreise bewegten und erregten. Waren doch einzelne unter den letzteren recht betrübender Art, z. B. der Nachweis der großen Procentzahl Kurzsichtiger und mit anderen Gesichtsfehlern Behafteter unter den Schülern und Schülerinnen.
Weniger – nach unserer Meinung zu wenig! – in die Oeffentlichkeit gedrungen sind dagegen die fast ebenso wichtigen Ergebnisse der Untersuchungen des Gehörs bei Schülern. Freilich sind sie auch noch nicht so zahlreich ausgeführt worden, wie in Bezug auf das Auge, gewähren aber doch bereits einen recht beängstigenden Einblick in die Häufigkeit der Fehler des zweitwichtigsten Sinnesorgans, zugleich auch einen solchen in die Sorglosigkeit gar vieler Eltern bei Erkrankungen dieses letzteren.
Den ersten Anstoß zur Prüfung des Gehörsinns gaben die vorausgegangenen Augenuntersuchungen im Interesse des Eisenbahn- und Schiffsdienstes. Der Heidelberger Ohrenspecialist Moos machte nämlich mit Recht darauf aufmerksam, daß Gehörfehler des betreffenden Dienstpersonales nicht weniger verhängnißvoll werden könnten, wie mangelhaftes Farbenunterscheidungs-Vermögen, ja daß die Folgen jener noch ernster zu nehmen seien, weil bei ihnen die Uebung als Ausgleichsmittel wegfalle. Das Ohr hat ja nicht, wie das Auge, welches außer den Farben selbst bekanntlich noch Abstufungen derselben von Hell zu Dunkel unterscheiden kann, die Fähigkeit, etwas Anderes an Stelle des einfachen Eindrucks eines Schalls zu setzen.
Auf jene Anregung hin untersuchte dann zuerst, so viel wir wissen, in größerem Maßstabe der Stuttgarter Ohrenarzt Dr. Weil die Hörfähigkeit und zugleich die Ohrenerkrankungen und Gehörfehler der Schüler und Schülerinnen mehrerer Volks- und höheren Schulen, sowohl in der Stadt, als auf dem Lande, um auch einen vergleichenden Ueberblick über die etwaigen Verschiedenheiten in letzterer Richtung zu erhalten; das wohlwollende Interesse, welches die Königin von Württemberg an der Sache nahm, förderte ihn dabei durch Hinwegräumung mancher Schwierigkeiten, die ohne jenes nicht leicht zu beseitigen gewesen wären.
Als Maßstab legte Dr. Weil das deutliche Nachsprechen gewisser Worte und Namen, die so gewählt waren, daß sie nicht leicht errathen werden konnten, zu Grunde, und nahm als räumliche Norm dafür eine Entfernung des Sprechenden und Hörenden von 20 bis 25 Metern an. Er prüfte stets die Hörfähigkeit eines jeden der beiden Ohren für sich. Daß solche genaue Untersuchungen sehr zeitraubend und schwierig sich darstellten, sieht selbst der Laie leicht ein: untersuchte doch der Genannte nach und nach 4500 Kinder der Altersstufen zwischen 7 und 14 Jahren aus den verschiedensten Gesellschaftskreisen, deren Intelligenz natürlich sehr große Verschiedenheiten der Entwickelung darbieten mußte! Gerade durch den letzteren Umstand aber wurde die Sache besonders verwickelt.
Das Endresultat war die erstaunliche Thatsache, daß fast ein Dritttheil (30 Procent) aller untersuchten Kinder an Gehörfehlern auf einem oder auf beiden Ohren litt! An Gehörfehlern, von denen sehr oft die Kinder selbst so wenig, wie deren Eltern eine Ahnung hatten, weil in vielen Fällen wenigstens ein Ohr ganz unversehrt war! Weiter ergab sich (wie dies auch bei den Augenuntersuchungen sich herausgestellt hatte), daß die Procentzahl der Nicht- oder Schwerhörigen mit dem zunehmenden Alter wuchs, und daß die Anzahl derselben in Landschulen geringer war, als in den Stadtschulen. Entgegengesetzt waren dagegen die Ergebnisse der Augen- und Gehöruntersuchungen in der Richtung, daß dort die wohlhabenden Schüler in größerer Anzahl mit Fehlern behaftet waren, hier aber, in Bezug auf die Gehörfehler, die Aermeren die überwiegende Mehrzahl bildeten. Und gar manche dieser Kinder galten für unfähig, andere wurden wegen Unaufmerksamkeit sogar gestraft, nur, wie sich nun herausstellte, weil sie schlecht hörten!
Was soll aber die praktische Lehre aus solchen Untersuchungen sein? Einfach die: daß Eltern sowohl, wie Lehrer in Zukunft auch dem Gehörorgane der Kinder dieselbe Ueberwachung und Aufmerksamkeit widmen, wie sie neuerdings erfreulicher Weise bezüglich des Auges mehr und mehr gang und gäbe werden!
Ist doch ohne Frage ein gutes Gehör für das ganze Lehren, Lernen und Leben ebenso bedeutungsvoll und fördernd, wie ein gutes Auge! Dr. B. (W.)