Französisches Familienleben

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Autor: H. R.
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Titel: Französisches Familienleben
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aus: Die Gartenlaube
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[304] Französisches Familienleben. Vor kurzer Zeit ereignete es sich in Paris, daß ein junges Mädchen auf die Frage des Maire: ob sie ihren Bräutigam zum Ehemanne nehmen wolle? erwiderte: „Sie, Herr Maire, sind der Erste, der mich darnach fragt, und ich antworte ein entschiedenes Nein!“ Alle Versuche der Eltern, den Sinn der Tochter zu ändern, waren vergeblich, und die Hochzeitsgäste kehrten unverrichteter Sache nach Hause zurück. Ein derartiger Widerstand, welcher in Frankreich nur zu oft berechtigt wäre, tritt allein deshalb selten ein, weil die jungen Mädchen in der Ueberzeugung aufwachsen, daß bei der Wahl des Ehegatten nicht ihr Herz, sondern allein der Wille der Eltern oder Vormünder zu entscheiden habe. Der Code civil giebt keine Definition von der Ehe; die Praxis des Lebens hat daraus in den meisten Fällen nur eine vermögensrechtliche Vereinigung von Mann und Frau gemacht; die Gleichmäßigkeit äußerer Verhältnisse und vorzüglich der Besitzthümer findet größere Berücksichtigung als die Frage, ob sich das Herz zum Herzen findet. Ist es hiernach zu verwundern, wenn ein Familienleben, wie es in Deutschland und England heimisch ist, in Frankeich selten angetroffen wird? Die Freiheit, welche die Mädchen in jenen Landern genießen, kennt die junge Französin nicht; sie wird möglichst streng von der Welt abgeschlossen, bis über ihre Hand disponiert ist. Ist der Bräutigam gefunden, wobei die Vermittlung der Notare sehr gewöhnlich ist, so wird von den beiderseitigen Eltern der Ehecontract mit genauer Berücksichtigung aller Chancen für Leben und Tod festgestellt; erst wenn dies gelungen, dürfen die Verlobten mit einander verkehren; oft beschränkt man dieselben auch hierin auf die engsten Grenzen, damit etwa vorhandene Disharmonien nicht schon vor der Ehe hervortreten und die Ausführung des Contractes in Frage stellen; die Wahl der Brautgeschenke, des sogenannten Hochzeitskorbes, füllt die kurze Zeit zwischen der Verlobung und Verheirathung angenehm aus. Oft tritt ein Mädchen unmittelbar aus dem Pensionat oder Kloster mit einem Manne zum Traualtare, den sie kaum äußerlich kennen gelernt hat; das Leben der verheiratheten Frauen, die gesellschaftlichen Rechte und Freiheiten derselben sind so verschieden von der zurückgezogenen Lebensweise der jungen Mädchen, daß diese den Ehecontract mindestens als ihren Freiheitsbrief aus der häuslichen Sclaverei mit Freude entgegennehmen. Die Ehe erschließt ihnen eine neue Existenz und giebt dem Drange ihres Herzens nach gegenseitigem Mitempfinden ein erlaubtes Ziel; noch schlafen freilich die zartesten Keime des Gefühls und harren der Pflege der Liebe, um sich zu entfalten.

Wird diese Erweckung erfolgen, oder werden jene Keime, ohne Blüthe zu treiben, verdorren? diese Frage berührt der Contract nicht, nur wenige Ehemänner haben Zeit und Lust, das lebendige Naturräthsel, welches der Lösung durch sie harrt, zu studiren und sich geistig wie physisch zu assimiliren; sie haben ja nicht so sehr die Frau wie die Mitgift gesucht! Das allgemeine Streben nach schnellem Vermögenserwerbe oder einflußreicher Stellung im Staate läßt keine Zeit übrig für eine Liebe, wie sie ein jugendliches, weibliches Herz in den ersten Jahren des Zusammenlebens von dem Manne fordert; die Ehe hatte für diesen ja nur den Zweck, seine geschäftlichen Interessen zu fördern und die Erfolge seines Schaffens durch Nachkommenschaft sicher zu stellen. Welche Freude daher bei der Geburt des ersten Sohnes! Welch Gefühl der Sicherheit gewährt ein zweites und drittes Kind! Aber sobald nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit die Dauer des Namens gesichert, liegt ein fernerer Zuwachs der Familie außer den Wünschen der Eltern; die größere Anzahl der Kinder verringert die Mitgift und erschwert somit die Verheirathung. Hat der Mann ein Geschäft, so tritt in den mittleren Ständen die Frau als Buchführer oder Kassirer ein; bald hat sie mit der dem Weibe im Allgemeinen und vor Allen der Französin eigenen Gewandtheit die äußeren Formen, sowie das innere Wesen kennen gelernt und sich zu einem eigentlichen Associé des Gatten emporgeschwungen; die Träume der Jugend von Liebe und Glück verschwinden schnell in dem Strudel des materiellen Lebens; die Sorgen des Geschäfts gestatten keine geregelte Häuslichkeit, sie wird daher so viel als möglich beschränkt; die kleinen Kinder werden, nachdem sie gekennzeichnet, zu den Ammen auf’s Land gegeben, die größeren in Pensionate untergebracht, die Gatten, die somit alllein von der Familie noch zusammen bleiben, gestatten sich oft nicht einmal die Annehmlichkeit einer eigenen Küche, sondern beziehen ihre Mahlzeiten aus dem Speisehause; die Wohnung entspricht unter solchen Verhältnissen gewöhnlich mehr dem Bedürfnisse, als dem Comfort und der Gemüthlichkeit. Die Kinder wachsen auf, wie die Eltern gelebt: ohne Sin für Familienleben und häusliches Glück.

Noch trauriger ist die Lage einer jungen Frau, die ohne gegenseitige Neigung einem Manne angetraut wird, an dessen Wirken und Streben sie keinen Theil nehmen kann.

Darf ein Ehemann, der in der Häuslichkeit sein eigentliches Lebensglück zu suchen verschmäht, sich beklagen, wenn ein Dritter die in dem jungen Wesen schlummernden Kräfte erkennt, sie in’s Leben ruft und dadurch der Vertraute der jungen Frau wird? War es nicht Pflicht des Gatten, die ihm anvertrauten Kräfte zu wecken, zu entwickeln und dem Zwecke der Ehe dienstbar zu machen? Aber das erfordert Hingebung und Liebe, und sie ist nur zu selten das Motiv der Vereinigung. Darf man sich hiernach wundern, wenn die Männer bald nach der Ehe zu den leichten und bequemen Freuden ihres Junggesellenlebens zurückkehren, und die verlassenen Frauen über die Grenzen der ihnen gestatteten Freiheiten hinausgehen. Der maßlose Luxus des weiblichen demi-monde, der den Neid der ehrbaren Frauen in so hohem Grade erregt, wird zum größten Theil aus den Cassen der Ehemänner bestritten. Trotz alledem bietet das eheliche Zusammenleben dem Auge des Publicums weniger Anstoß als in anderen Ländern, in denen die Ehe heiliger gehalten wird. Die Treue der Gatten verliert da an Werth und Bedeutung, wo Liebe nicht das Band der Verbindung ist, und die größere persönliche Gleichgültigkeit erleichtert auch bei vorhandener Disharmonie die Beobachtung der äußeren Formen; überdies entfernt die geringe Mitwirkung der Eltern bei Erziehung der Kinder so manche Veranlassung zu Meinungsverschiedenheiten, und die Unmöglichkeit der Ehetrennung deckt den Mantel des Geheimnisses auf die vielfachen inneren Schäden der häuslichen Zustände.

Schon oft hat man den Vorschlag gemacht, die Mitgift, die vielfach als das Grundübel des ehelichen Lebens in Frankreich angesehen wird, gesetzlich aufzuheben. Es läßt sich nicht verkennen, daß, abgesehen von der Frage der Durchführbarkeit einer solchen Maßregel, die Motive der Eheschließung dadurch von ihren unedelsten Momenten befreit werden würden; das Weib käme zum richtigen Bewußtsein seiner selbst zurück, wenn nicht mehr sein Vermögen, sondern seine Schätze an Herz und Geist den Werth bestimmten; die vielen jungen Männer, welche jetzt durch eine reiche Heirath sich eine Stellung im Leben zu machen streben, würden auf ihre eigenen Mittel angewiesen, und eine Fülle unwürdig vergeudeter Kräfte wüchse dem Gemeinwohle zu; die Ehe und das Familienleben würde wieder der eigentliche Sitz und Schwerpunkt der menschlichen Glückseligkeit werden. Aber selbst bei den Frauen findet dieser Vorschlag wenig Beifall. Die reinen und vollkommenen Freuden des häuslichen Heerdes sind ihrer Anschauungsweise und Erfahrung so fremdartig, daß sie für die bloße Möglichkeit derselben die einflußreiche Stellung nicht aufgeben wollen, welche ihnen die vorbehaltene Disposition über ihr Vermögen gewährt, der goldne Gürtel der Mitgift wird die Kette, an die sie den Ehemann anschließen können; der Gewinn an Macht entschädigt sie für den Mangel en Liebe. Die sociale Bedeutung des weiblichen Geschlechts ist dadurch in Frankreich größer als in irgend einem andern Lande, daß ein bedeutender Theil des beweglichen und unbeweglichen Vermögens in den Händen der Frauen ist. Noch weniger aber würde das Verbot der Mitgift von den Männern befürwortet werden; sie gewährt dem Einen die Möglichkeit, ein Geschäft zu begründen, ein Anderer vermag durch sie die Resultate seines Schaffens auf dem Gebiete der Kunst oder Wissenschaft ohne Sorgen abzuwarten. Die Ehelosigkeit und das Concubinat würden durch die gesetzliche Aufhebung der Mitgift in ausgedehntem Maße um sich greifen. Mehr noch als die Mitgift trägt aber an den traurigen Zuständen des ehelichen Lebens der Mangel an häuslichem Sinn Schuld, welcher dem Franzosen eigen ist: sein Blut ist leichter, er hat mehr als der Nordländer das Bedürfniß des geselligen Verkehrs, und liebt es nicht, sich auf sich selbst zurückzuziehen. Hätte er Sinn und Vorliebe für ein häusliches Stillleben, so könnten solche Motive, wie sie bei Eingehung der Ehe vorherrschen, im Volksgeiste nicht Wurzel fassen.

Auch in England sind die Ehepacte allgemein gebräuchlich, aber sie haben mehr den Zweck, den Bund der Herzen auch auf die Vereinigung der irdischen Güter auszudehnen, als die Ehegatten gegen einander sicher zu stellen. Die neuere französische Literatur hat nicht wenig dazu beigetragen, das Familienleben zu untergraben: die eheliche Untreue ist der unerschöpfliche Stoff der Romane. In einer Zeit, wo die Unnatürlichkeiten einer Feydeau’schen Sylvie aus dem wirklichen Leben geschöpft sind, können selbst die feinen und zarten Ideen eines Michelet über Liebe, Ehe und Familie keine Wurzel fassen.

H. R.