Französische Dichter und Deutschland

Textdaten
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Autor: Rudolf von Gottschall
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Titel: Französische Dichter und Deutschland
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aus: Die Gartenlaube, Heft 48, S. 796–798
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Französische Dichter und Deutschland.

Seit dem Attentat des Herrn Deroulède auf den deutschen Turnverein in der Rue Saint-Marc, einem Attentat, das, abgesehen von der verstimmenden Absicht, allerdings einen friedlichen Verlauf nahm, fehlt es in Frankreich nicht an Symptomen, daß die nationale Erregung gegenüber Deutschland in gewissen Kreisen im Zunehmen, daß das Deutschthum besonders in einigen hervorragenden Pariser Salons, welche sonst eine internationale Bedeutung in Anspruch nehmen, geächtet ist. Deroulède ist ein lyrischer Dichter; in seiner Zeitschrift „le Drapeau“, dem Organ der patriotischen Liga, an deren Spitze er steht, finden sich viele poetische Ergüsse, in denen ein glühender Haß gegen die Sieger von Sedan sich ausspricht; er will mit seiner mäßigen Begabung der Theodor Körner des neuen Frankreichs sein; er eilt ihm voraus mit der Fackel der Dichtung, die er in die Fackel des Krieges verwandeln möchte.

Die Dichter sind ebensowohl die Herolde wie die Schöpfer der öffentlichen Meinung; ihre Gedichte sind ein Echo des nationalen Gewissens. Wer einer Nation an den Puls fühlen will, der muß auf die Herzschläge ihrer Poesie achten. Freilich, es giebt einsame Sänger, die gegen den Strom schwimmen und aus irgend einem Patmos besonderer Offenbarung lauschen; es giebt Dichter, welche Prediger in der Wüste sind, wir sprechen aber von denen, welche sich von den Wellen des öffentlichen Lebens tragen lassen, und deren Stimme ertönt aus der Mitte der tonangebenden Hauptstädte heraus; wir sprechen von denen, welche die Losungen des Tages in ihre Verse aufnehmen und mit jener akustischen Verstärkung wiedergeben, die der Poesie eigen ist. Und da ist es ein beachteswerthes Symptom der Stimmung in Frankreich, daß jetzt, nachdem bereits zwölf Jahre seit dem großen Kriege dahingegangen sind, die kriegerische Wendung gegen Deutschland in den poetischen Ergüssen der französischen Dichter immer lebhafter und stürmischer wird.

Doch ehe wir uns zu den Kleinen wenden, wollen wir die Großen zu Worte kommen lassen. Da ist der Veteran der französischen Poesie, Victor Hugo, ein politischer Lyriker ersten Ranges, der alle Weltereignisse, die er miterlebte, in schwunghaften Gedichten besungen hat. In seiner Jugend feierte er die Bourbons und das Kaiserthum; in seinem Alter widmete er dem Kaiser Napoleon dem Dritten, der ihn in die Verbannung geschickt, seine „Châtiments“ („Züchtigungen“), welche mit bitterstem Grolle, mit tiefeinschneidender und vernichtender Schärfe geschrieben sind; die Ereignisse des deutsch-französischen Krieges und des Commune-Aufstandes aber hat er in der Gedichtsammlung „L’année terible“ („Das schreckliche Jahr“) mit den elegischen Klängen seiner Lyra begleitet. Diese Sammlung liegt jetzt in der neunundzwanzigsten Auflage vor — ein Beweis dafür, welch andauernd lebhaftes Echo diese Gedichte noch im französischen Volke finden.

Victor Hugo ist ein großer Poet; es giebt zwar viele kleine Leute des deutschen Parnasses, welche dies leugnen wollen, weil ihnen alle tiefe, schwunghafte, gedankenvolle Poesie gegen den Strich geht, aber die Aquarellbildermaler und Ausschneider von Genrebildchen, die an die Neu-Ruppin’schen Bilderbogen erinnern, werden das Piedestal nicht aus dem Wege räumen, auf dem die großen Dichter aller Zeiten standen und aus dem auch Victor Hugo steht.

Es ist wahr, er erscheint als verworrener Phantast, wenn er den poetische Dreifuß mit dem politische vertauscht, und auch seine Muse hat ihre Marotte, ihre Unarten, ihre versteinerten prophetischen Gesten, eine oft verwirrende Mosaik von Bildern, welche sie aus allen Zonen und aus allen Zeiten zusammenträgt: doch wie edel und hinreißend ist ihr Schwung, wie unerschöpflich groß ihr Gedankenreichthum, welche genialen Witze umzucken sie, wenn sie ihr olympisches Haupt schüttelt! Und wie bewundernswerth ist ihre Jugendlichkeit! In den Werken des achtzigjährigen Dichters herrscht noch dasselbe Feuer, wie in den „Herbstblättern“ und „Dämmerungsgesängen“ des jungen Poeten. Wohl finden sich hier und dort greisenhafte Wendungen, eine zitterige Nachschrift der schwunghaften Züge seiner Jugend; doch wie verschwinden einige verblaßte Verse gegen die anderen, in denen ein lebensfreudiges Genie pulsirt, besonders bei der großen Fülle der gebotenen poetischen Gaben, und welchen steifen und verschnörkelten poetische Stil schrieb unser großer Dichter Goethe in dem gleichen Alter!

Victor Hugo ist früher kein Feind der Deutschen gewesen; die deutsche Sagenwelt hat ihn mächtig angezogen; hat doch die romantische Schule Frankreichs zum Theil in deutscher Poesie ihre Wurzeln geschlagen. Man lese seine „Briefe vom Rhein“ aus dem Jahre 1839: wie vertieft er sich in die geschichtlichen Erinnerungen, in die Sagenwelt des Rheins, wie giebt er sich dem landschaftlichen Zauber hin, der die Ufer des deutschen Stromes umschwebt!

Diese Briefe sind allzu sehr in Vergessenheit gerathen: es finden sich Bemerkungen darin, welche für die heutige Zeit von besonderem Interesse sind. Natürlich nimmt Victor Hugo das linke Ufer des Rheins für Frankreich in Anspruch. Doch erscheint er gleichzeitig als ein nicht unglücklicher Prophet, wenn er Preußens künftige Größe vorher verkündet: er findet es abgeschmackt, daß das alte Preußen von den Rheinlanden durch sich dazwischenschiebende Staaten getrennt wird. Das könne nur eine provisorische Lage sein.

„Preußen strebt darnach,“ sagt er, „ein großes zusammenhängendes Königreich zu werden, mächtig zu Land und Meer, und es wird dieses Ziel erreichen.“ „Für Hannover,“ heißt es weiter, „ist die Einverleibung in Preußen ein großer Schritt zur Freiheit, Würde und Größe; für Preußen bedeutet der Besitz von Hannover den Zusammenschluß des Staates, das Forträumen aller Hindernisse der Verbindung, die Vereinigung der Rheinlande mit dem alten Preußen.“

So hat Victor Hugo im Jahre 1839 das Jahr 1866 prophezeit und die Annexion gerechtfertigt; auch in der Vorrede zu den „Burggrafen“, einem Drama, zu welchem ihn seine Rheinreise begeistert hat, spricht er „von dem großen kriegerischen Messias, den Deutschland erwartet“, von dem wiedererstandenen Kaiser, während er sich darüber zu rechtfertige sucht, daß er einen deutsche Stoff für die französische Bühne behandelt. So wenig litt der junge Victor Hugo an Deutschenhaß, daß er in dem großen Monologe des „Hernani“ von dem jungen Karl dem Fünften sogar Karl den Großen einen „Kaiser Deutschlands“ nennen läßt, was man jetzt in Frankreich als eine strafwürdige Ketzerei betrachten würde.

Nach dem „schrecklichen Jahr“ unseres Dichters ist das nun freilich anders geworden; die Deutschen haben sich auf einmal in Barbaren, in Hunnen und Vandalen verwandelt, ja Victor Hugo schlägt hier Töne an, die eines großen Dichters ganz unwürdig sind, indem er Zeitungslügen in pomphafte Verse bringt. Da erscheint ihm die Gaunerei als Schwester der Eroberung: auf den Rücken des Siegers hebt man einen Bettelsack, und während man darauf wartet, Elsaß und Lothringen zu gewinnen, begnügt man sich damit, eine Uhr vom Nagel eines Uhrmachers zu stehlen. Man will unermeßlichen Ruhm sich erwerben, aber man findet, daß es schade sei, einen Spiegel zu zerbrechen, und besser, ihn fortzutragen. Gewiß zieht man die Ehre allem Andern vor, doch der Mensch braucht Tabak, und man stiehlt ihn. Mitten im Getümmel eines Krieges, in welchem der Zwerg Napoleon das große Frankreich ausliefert, auf diesen Schlachtfeldern, wo Marceau, Hoche und Condé fehlen, während Metz verkauft und Straßburg bombardirt wird, denkt man an seinen kleinen Hausstand und wie man die Geliebte ausmöblirt auf Kosten der Besiegten. Mit fünf Milliarden kehrt man in die Walhalla zurück, in Räubereien den schielenden Beduinen und den stumpfnasigen Baschkiren ähnlich; Schinderhannes setzt die falsche Nase des Gottes Mars auf. Das ist eine kleine Blüthenlese aus diesem widerwärtigsten Gedichte der Sammlung, in welchem der Ton eines an die Straßenecken angehefteten Pasquills herrscht.

Trotz aller poetischen Schmähungen kann sich der alte Victor Hugo nicht ganz verleugnen; in seinem Herzen ist noch ein Winkel, wo die jugendliche Begeisterung für den deutschen Geist nicht ganz verglommen ist, und aus dieser glühenden Asche schlägt wie eine Flamme ein Hymnus auf Deutschland empor, den man mit größtem Erstaunen unter diesen Schmähgedichten findet, ein Hymnus, wie ihn schöner und schwunghafter kaum ein deutscher Sänger gedichtet hat und dessen einziger Fehler in der Ueberschwänglichkeit der [797] Ausdrucksweise besteht. Doch die Begeisterung für Deutschland ist für uns Deutsche selbst in ihren Übertreibungen nur schön und herzerhebend. Einige Blüthen aus diesem Kranze, den uns der feindliche Dichter auf’s Haupt setzt, wollen wir hier zu einem kleinen Strauße zusammenbinden.

„Keine Nation ist gerechter als du. Zur Zeit, als die ganze Erde noch ein Ort des Schreckens war, warst du unter den starken Völkern das gerechte Volk. Ein dunkles Diadem schmückte deine erhabene Stirn, und dennoch glänzest du wie Indien, das Fabelland. O Land der blauäugigen Menschen, erhabene Klarheit im düstern Grund Europas, ein unnahbarer gewaltiger Ruhm hüllt dich ein. Lange, wie die Eiche, die dem Epheu ihre Arme bietet, warst du die Kämpferin für das alte Recht der Besiegten. Wie man Silber und Blei in Erz mischt, wußtest du in ein innig Herrschervolk zwanzig Völker zu verschmelzen, die Hunnen die Dacier, die Sigambern. Der Rhein bot dir das Gold, Bernstein das baltische Meer. Die Musik ist dein Hauch, deine Seele Harmonie und Weihrauch; sie läßt in mächtigen Hymnen den Schrei des Adlers mit dem Gesange der Lerche wechseln. Deutschland hat mehr Helden, als der Athos Gipfel hat. Teutonia erscheint dicht unter den erhabenen Wolken, wo der Stern mit dem Blitze sich vermählt; seine Gipfel in der Nacht sind wie ein Wald; über seinem Haupte schwebt ein Horn des Sieges, und seine Legende gleicht seiner Geschichte. Seid stolz, ihr Deutschen! Nur der Titanenfuß paßt für eure Sandale!“

Und gegenüber diesem volltönenden Lobgesang auf Deutschland, der trotz seiner vielen unklaren Bilder echte Begeisterung athmet, hat der Dichter für sein Frankreich nur drei Worte, aber Worte, in denen die ganze Inbrunst des Heimathsgefühls und der Vaterlandsliebe pulsirt. „O ma mère!“ Das ist schön und echt dichterisch, und um dieses Gedichtes willen mag man Victor Hugo die hundert galligen Lästerungen verzeihen, mit denen er Deutschland begeifert.

Solche Milderungsgründe stehen aber den späteren Dichtern, die in dasselbe Horn stoßen, nicht zur Seite; auch sind sie an Talent dem geübten Altmeister weit untergeordnet. Der Akademiker Victor de Laprade dichtete ein Lied: „An Gretchen“, in welchem nicht nur alle thörichten Anklagen gegen die Deutschen und ihr Benehmen in dem letzten Kriege wiederholt werden, sondern in dem auch ein widerwärtiger Cynismus herrscht.

Dieses Lied scheint in Frankreich leider! sehr volksthümlich geworden zu sein; die deutschen Frauen und Mädchen werden darin in schmachvoller Weise an den Pranger gestellt. Da wird die deutsche Romantik und Gefühlsseligkeit persifliert: Gretchen sitzt nachdenklich am Fenster, entblättert poetisch eine Blume des deutschen Rheins und denkt an ihren Herrn und Meister. Er ist im Felde – Prinz oder Doctor, Fritz oder Faust – und macht in Burgund oder in der Champagne seine kleine Beute. Gretchen, die Schöne mit dem Goldhaare, hat eben geschrieben, und ihre Hand, welche noch von Tinte befleckt ist, hat Schiller, Goethe, Dante citirt, um zu beweisen, daß man nirgends außer in dem alten Deutschland die wahre Liebe in den Herzen und das wahre Genie in den Köpfen findet. Jetzt befragt sie mit Spannung das Orakel eines Maßliebchens – und warum? Die Blume soll ihr sagen, ob ihr Geliebter in den Schlössern, die er plündert, recht gute Beute macht, ob er ein wenig, ob viel oder ob übermäßig viel mit nach Hause bringen wird. Gretchen braucht ja noch einige feine Battisttaschentücher für festliche Gelegenheiten. Auch eine werthvolle Perle fehlt noch ihrer Kronenschnur: nun, man kann sie ja in Paris finden, in dem verwünschten Babylon. Das Gretchen des Herrn von Laprade ist nämlich eine deutsche Baronesse, eine Hofdame: [798] Hofdame: um so schmachvoller, daß sie, was keine französische Marketenderin thun würde, gestohlene Hemden und Schmucksachen trägt!

Wir werden daran erinnert, daß die Franzosen auch in deutschen Betten geschlafen und in Deutschland als Herren befohlen haben; doch sie haben nichts bei uns gestohlen als höchstens die Herzen, und die deutschen Frauen haben gern die ihren Reizen gebührenden Huldigungen angenommen. Am Schlusse werden die deutschen Damen ersucht, sich nicht zu beunruhigen: man wolle ja nichts zurückhaben, keine Halstücher und Jacken, keine Bänder und verblichenen Hüte. Und übrigens: ein loyaler Friede löscht unsern ganzen Goll aus: „fahrt fort, ihr guten Deutschen, unsere schmutzige Wäsche zu beschmutzen!“

Wir haben bei der Inhaltsangabe dieses unwürdigen Gedichtes noch einige Stellen fortgelassen, in denen die Muse des Akademikers allzu lebhaft den poetischen Cancan tanzt. Dieses Poem sowie viele andere dichterische Actenstücke des Nationalhasses hat Deroulède, der Held der Straße Saint-Marc, in seiner Zeitschrift „Le Drapeau“ gesammelt; er hat die Sammlung zugleich mit seinen eigenen lyrischen Ergüssen vermehrt. Das Blatt erscheint erst seit Beginn dieses Jahres: ein Beweis dafür, daß die feindliche Wendung gegen Deutschland jetzt mehr als je wieder populär geworden ist. „Le Drapeau“ ist das Organ der patriotischer Liga, welche gegen den deutschen Turnverein mit um so größerem Unrecht in’s Feld rückte, als sie ja nichts ist als eine freie Uebersetzung desselben in’s Französische. In der That will jener französische Verein sich im Turnen, Fechten und Schießen üben und hat zugleich das freiwillige Samariterthum in sein Programm aufgenommen.

Das sind jedenfalls berechtigte Tendenzen, und die Freunde der Turnkunst müssen sich freuen, daß auch Paris jetzt seine Hasenhaide bekommt. Ebensowenig wird man gegen die Verherrlichung des nationalen, besonders des militärischen Ruhmes einwenden können, wenn nur das goldene Buch des „Drapeau“, das ihn feiert, nie in Conflict geräth mit der geschichtlichen Wahrheit, und nie in den Ton des „Horribiliscribifax“ verfällt. Dagegen ist das eifrige Schüren der nationalen Feindschaft gegen Deutschland, wie es dieses Blatt betreibt, durchaus verwerflich. Eine Blüthenlese aus der deutschen Kriegslyrik von 1870 ist dazu auserlesen die französische Kampfeslust von Neuem anzustacheln; selbst alte Gedichte von Rückert aus der Zeit der Befreiungskriege werden zu diesem Zwecke hervorgesucht; jedenfalls ist dies eine eigenthümliche Methode, die Franzosen mit unserer Nationalliteratur bekannt zu machen. Bringt dagegen irgend ein deutsches Witzblatt eine satirische Caricatur über die „große Nation“, so wird dieselbe von französischer Seite sofort in gehässigster Weise als eine Probe deutscher Frechheit, mit den nöthigen Glossen versehen, im „Drapeau“ zum Abdruck gebracht. Zahlreiche Illustrationen stellen die Kämpfe in Bazeilles dar; denn wer in Frankreich den deutschen Vandalismus an den Pranger stellen will, braucht blos dieses Wort in den Mund zu nehmen.

Dazwischen läßt nun Deroulède selbst den kriegerischer Hörnerruf erschallen; er ist zwar ein Hitzkopf, aber jedenfalls ein talentvoller Lyriker, durchsichtiger in seinen Gedankengängen, volksthümlicher in seinen Refrains als Victor Hugo. In einem seiner Gedichte: „La Diane“ läßt er den Weckruf ertönen für das „schlummernde, von Räubern überwachte“ Frankreich. „Eine schwere Last ist der Haß,“ ruft der Dichter aus, „und Vergessenheit, der Friede des menschlichen Gemüthes, führt zur Verzeihung; aber Metz weint, aber Straßburg wacht. O töne, töne, Horn, daß bei deiner Fanfare das große Frankreich, das sich verirrt hat, wieder seinen alten Ton anschlage! Oeffnen wir Herz und Ohren, und möge die Sprache Corneille’s uns die Seele Cato’s einhauchen!“ Die Seele Cato’s! Das können wir abwarten; bis dahin wird Metz noch lange weinen müssen. Einen ähnlichen Geist athmen die anderen Gedichte des „Drapeau“; doch die Prosa schlägt einen ruhigeren Ton an, und es giebt unter den Mitarbeitern Pessimisten, welche nicht zögern auszusprechen, daß bei dem unglücklichen Ausgange eines neuen deutsch-französischen Krieges Frankreich werde fürchten müssen, aus der Reihe der europäischen Großmächte gestrichen zu werden.

Oft sind die Gesänge der Dichter die Sturmvögel, welche großen Ereignissen vorausfliegen; ebenso oft aber verrauschen sie spurlos als der Ausdruck persönlicher Empfindungen, welche nicht die Nation zu ergreifen vermögen. Möglich, daß der Revanchegedanke noch einmal in Frankreich zur Herrschaft gelangt … wir würden es bedauern; denn die beiden großen und hochbegabten Völker diesseits und jenseits der Vogesen sind berufen, in schönem Bunde die höchsten Aufgaben der Cultur zu lösen, ein Streben, bei welchem sich ihre Vorzüge ergänzen; leider hat der letzte Krieg eine Kluft zwischen ihnen aufgerissen, die sich wohl so bald nicht wieder schließen wird.

Rudolf von Gottschall.