Textdaten
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Autor: F. B.
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Titel: Festungsbriefe aus Mainz
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 34, S. 546–547
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[546] Festungsbriefe aus Mainz. Das goldene Mainz ist zu einem ehernen Mainz geworden; es starrt von Bajonneten und Kanonen. Zwölfhundert Feuerschlünde sind bereit, ihre todbringenden Geschosse auszuschleudern; Wall um Wall, Graben um Graben sammt einem Halbdutzend kleiner Malakoffs umschließt die ehemalige Residenz der Reichs-Erzkanzler von Deutschland, die nunmehr als einer der bedeutendsten oder als der bedeutendste Waffenplatz Europas gilt, und Mainz, unsere eigentlichste „Wacht am Rhein“, ist auch jetzt wieder bereit, den Schrecken einer Belagerung, deren es seit dem Jahre 1792 so manche an sich hat vorüberziehen sehen, zu begegnen.

Doch die Festung ist heute, da wir diese Zeilen schreiben, wohl gerüstet, den alten Erbfeind zu empfangen; ihre Armirung ging mit einer wunderbaren Schnelligkeit vor sich, in kaum drei Tagen war die Riesenarbeit vollendet. Wie erstaunten die guten Mainzer, als man Thore und Zugbrücken, welche seit 1866 nicht mehr geschlossen und aufgezogen worden waren, „probirte“! Schon glaubten die ängstlichsten der ängstlichen Gemüther an einen allzunahen Ueberfall des Feindes. Freilich, zu den schönen Zeiten des seligen Bundestages, da noch Oesterreich sich mit Preußen in die treue Behütung der Festung theilte, waren die Thore der ganzen Stadt, selbst nach dem zu der Stadt gehörigen und von drei- bis viertausend Menschen bewohnten Gartenfelde zu, mit dem Glockenschlage Zehn geschlossen worden, und wer nicht so glücklich war, einen Thorpaß zu besitzen (leider wurde derselbe stets nur für Einen Tag gegeben), mußte im Freien campiren, wenn es ihm nicht gerade gelang, dem der deutschen Sprache meist ganz unkundigen Landsknecht aus Böhmen oder Italien ein beliebiges Stück bedruckten Papieres als Thorpaß unter die Nase zu halten und sich auf diese Weise durchzuschwindeln.

Ja, man trieb in früherer Zeit die Gamaschenknöpferei so weit, die Brückenthore von Mainz und Castel um zehn Uhr Abends – und das Alles, wohl gemerkt, im tiefsten Frieden – zu sperren, daß sich häufig genug Leute in die Nothwendigkeit versetzt sahen, die Nacht hindurch auf der Brücke zu campiren. So passirte es einst einem hiesigen Arzte, daß er, – von Castel kommend, das Brückenthor von Mainz geschlossen fand.

„Herr Corporal von der Wache,“ rief der Arzt, „wollen Sie mir nicht das Thor öffnen?“

„Das kann i mach’n wie i will,“ antwortet ihm lakonisch der Böhme.

„Nun, wenn Sie das können, so öffnen Sie die Thür, ich bin der Doctor N.“

„Das kann i thun und kann’s bleiben lassen,“ brummt es jenseits.

„Aber, lieber Freund, ich muß unbedingt in die Stadt,“ ruft unser Arzt, dem bereits die Geduld auszugehen beginnt, „ich komme soeben von Castel.“

„Das kann i glauben und a nit,“ erwidert der unerschütterliche Krieger.

Verzweifelnd entschließt sich Doctor N., in Castel zu übernachten; doch, o Hand des Verhängnisses, auch dort ist das Thor unterdessen geschlossen worden und kein Parlamentiren hilft.

Noch einmal rennt unser Freund über die Brücke zurück, einen neuen Sturm auf das Mainzer Thor zu versuchen aber seiner eindringlichen Suade wird nun die Antwort: „Wenn’s jetzt nit glei a Fried gebe, wern’s eingesperrt a no.“

Dem Jünger Aesculap’s bleibt keine Wahl; er muß, vor dem strömenden Regen Schutz suchend, in ein Brückenschiff hinabklettern, von wo er am kommenden Morgen zum nicht geringen Erstaunen der inzwischen angekommenen Brückenknechte, bis auf die Haut durchnäßt, schimpfend und fluchend emportaucht.

Das eben Erzählte klingt, wie gesagt, nun bald wie ein „Märchen aus alter Zeit“, und heute fällt es Niemandem mehr ein, selbst jetzt in der Kriegszeit, die Thore der inneren Umwallung zu schließen.

Das ist eine Wohlthat, welche unsere „braven Landleute“ nicht genug schätzen können; denn von allen Seiten strömen sie Tag für Tag in die Stadt, theils Lebensmittel einzukaufen, theils Neuigkeiten zu hören, theils von ihren eingezogenen Söhnen Abschied zu nehmen, zu deren Auffindung [547] freilich oft genug ein Gang zu den umfangreichen und weitgedehnten Festungswerken nothwendig ist. Denn dort sind Tausende von Soldaten beschäftigt, Kanonen auf die Wälle zu bringen, Schanzkörbe aufzurichten, zwischen den verschiedenen Forts Palissaden aufzustellen und Erdschanzen aufzuwerfen. Officiere sprengen hin und her, Befehle bringend und austheilend; lange Wagenzüge schaffen aus den vor der Stadt gelegenen Friedensmagazinen Pulver in die Stadt. Mit ihnen kreuzen sich da und dort Abtheilungen Artillerie, welche schweres Festungsgeschütz transportiren; daneben baut man Baracken für die Kriegsbesatzung; Hunderte von Pferden werden vorbeigeführt, um auf dem benachbarten Felde von der Militärcommission gemustert zu werden – das Geschrei der Fuhrleute, das Wiehern der Pferde, das Knarren der Wagen, der Gesang der arbeitenden Soldaten, dazwischen rechts und links Horn- und Trommelsignale bilden ein wahrhaft betäubendes Concert, und doch greift auch in diesem scheinbaren Wirrwarr jedes Rad des gewaltigen Mechanismus schnell und richtig ein.

So drängen sich vor einem Thore wie vor dem anderen Wagen, Reiter und Fußgänger; Musik voran marschirt ein Bataillon in die äußeren Forts, unter dem brausenden Jubelruf der Zuschauer, die plötzlich aufschreiend rechts und links zur Seite weichen – ein endloser Provianttrain sperrt die Passage; ihm folgen ganze Heerden von Schlachtvieh, welche in den Wallgräben der oberen Festung untergebracht werden. Auch in der Stadt selbst herrscht ein überaus reges Leben. Die Bevölkerung, mit allen Eventualitäten des Kriegszustandes vertraut, weiß zu gut, daß ihre Hauptsorge auf die Beschaffung des Proviantes gerichtet zu sein hat, und jeder Einwohner muß sich, wenn der Belagerungszustand erklärt wird, auf vier Monate verproviantiren. Wer dieser Maßregel nachzukommen nicht im Stande ist, wird unnachsichtig aus der Stadt gewiesen.

Unter solchen Umständen ist es natürlich, daß die Verkaufsläden im ersten Momente geradezu gestürmt wurden. Reis, Kaffee, Chocolade, Hülsenfrüchte, Fleischextract, Mehl, Rum, Zucker wurden in einem Athem verlangt, doch zur Verzweiflung der ehrsamen Hausmutter, des sorgenden Hausvaters und der keifenden Köchin waren den auf solchen Andrang nicht vorbereitet gewesenen Händlern schon in den ersten Tagen die Vorräthe ausgegangen. Die Bauern aber, die den Markt mit ihrem Besuche beehren, machen sich die Umstände zu Nutzen und verlangen horrende Preise. So wird das Pfund Butter mit zwanzig bis fünfundzwanzig Silbergroschen bezahlt.

Den Anblick größten Tumults bietet natürlich der Ludwigsbahnhof, auf dem die ankommenden Militärzüge mit tausendstimmigem Hurrah empfangen und die durchziehenden Truppen mit Erfrischungen bedacht werden. Hier geht es Tag und Nacht fort in wildem Treiben, reich an heiteren, aber auch an tief ergreifenden Scenen, aus denen ich nur eine herausgreifen will, die ich nie vergessen werde.

In einer der letzten Nächte wartete ein blutjunger Fähnrich auf dem Bahnhofe. Er erzählte uns, daß er von seinem Vater, der mit seinem Regimente die Stadt passirte, Abschied nehmen wollte. Der Zug kam und der Vater, der Obrist des Regiments, ein alter Soldat mit schweeweißem Haar, schloß den Sohn in die Arme. Während die anderen Officiere sich an einem Glase feurigen Rheinweins stärkten, gingen Beide, sich eng umschlungen haltend, doch ohne zu sprechen, auf und nieder. Man sah es ihnen an, ihre Herzen sprachen zu einander, aber die Erregung erstickte ihre Stimme. Da tönt das Signal zur Abfahrt – Einen heißen Kuß drückt der Vater auf des Sohnes Lippen, nicht fähig ein Wort des Abschieds zu sprechen; einen letzten Blick wirft er dem Sohne zu – eine Welt von Wehmuth lag in diesem Blicke; da tönt das zweite Signal. Hastig springt der Greis zurück, noch einmal das Kind zu umschlingen. Er küßt ihm Mund und Stirn und preßt es an seine Brust – so heiß und innig.

Seiner selbst nicht mehr mächtig, sprang der alte Mann in den Wagen, die quellenden Thränen zu bergen. Das war ein Abschied von Männern, so stumm und doch so unendlich beredt. Wir Alle verstanden die Sprache dieser Herzen und uns Allen ward das Auge feucht.

Die Armirung der Festung ist, wie ich schon am Anfang dieser Zeilen sagte, vollendet. Die Gymnasien und Schulen sind zu Casernen umgewandelt, und wo vor wenig Tagen noch der Gelehrte die alten Classiker interpretirte, docirt jetzt der stramme Feldweibel seinen handfesten Hörern unter derben Soldatenflüchen die ultima ratio regis.

Noch sind die Wälle und der Festungsrayon nicht rasirt. Der Gouverneur der Festung, Prinz Woldemar von Schleswig-Holstein, welchem die Stadt zu großem Danke verpflichtet ist, hat erklärt, daß er die Rasirung bis zum letzten Augenblick aufschieben wolle, wenn ihm die Stadt für diesen Fall dreitausend Arbeiter und dreihundert Wagen zur Verfügung stelle, und Alt und Jung, Arm und Reich, der Kaufmännische Verein voran, eilten herbei, sich als Arbeiter für die Demolirung einschreiben zu lassen, um so die schönen Villen, die Fabrikgebäude und die herrlichen Anlagen vor dem sichern Verderben vielleicht zu retten.

Wir zweifeln nicht, daß sie auch werden erhalten bleiben; wie es aber auch immer gehe, was uns das Kriegswetter auch bringen möge:

Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein.

F. B.