Fastnacht (1892/4)
FASTNACHT.
Es war Fastnachtsdienstag, und ich saß in behaglich verhüllendem Domino unter der Galerie des licht- und farbendurchflutheten Festsaals, in welchem die große Redoute der Stadt ein wogendes Meer abenteuerlicher Gestalten in Kostümen aller Zeiten und Länder versammelt hatte; es schien, als hätten sich im träumenden Gehirn eines Geschichtsprofessors die leibhaftigen Vertreter sämmtlicher darin aufgespeicherter Daten ein Stelldichein gegeben und das einengende Gehäuse gesprengt, um nun hier als durchgegangene Wirklichkeit aufzutauchen. Ich hatte mich aus dem Durcheinander von Lachen und Tanz in diese ruhige Ecke gerettet und sah mit höchst philosophischer Befriedigung in das Gewühl der Menschenwellen.
Das Verlangen, die Welt des gemessenen Verkehrs und verkehrter Gemessenheit von Zeit zu Zeit tüchtig auf den Kopf zu stellen und zu versuchen, ob man sie nicht auch so eine Weile ganz unterhaltend im Gleichgewicht balancieren könne – dieses Verlangen muß doch tief in der menschlichen Natur gegründet sein, und es ist nur schade, daß uns nicht der Name des Redlichen aufbehalten ist, welcher es zuerst fertig brachte, das Kaleidoskop des Lebens umzudrehen und in edler Narrethei das oberste zu unterst zu kehren, Freiheit und Gleichheit wenigstens für die maskierte Menschheit zu schaffen; ein Denkmal würde ihm gebühren, diesem königlichen Vater des Prinzen Karneval – das war der letzte Schluß der Weisheit, die sich mir in meinem stillen Beobachtungswinkel aufdrängte. Eine klassische Erinnerung aus der Schulzeit stieg dabei in mir auf, die Worte des römischen Dichters:
„Süß ist’s, wenn weithin im Meere aufrauschen die Fluthen im Sturme,
Anzuschauen vom Land der andern gewaltige Mühsal.“
Und um meine Phantasie vollends in klassisches Fahrwasser zu lenken, tauchte jetzt eine baumlange Gestalt vor mir auf, dünn und antik, offenbar eine Verkörperung des grausamsten der Cäsaren, denn in der Hand trug sie ein Scepter mit der goldenen Umschrift „Nero“. Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, es gab in der ganzen Stadt keinen zweiten von solcher Körperlänge außer dem Steuerdirektor; der Gute, welcher dem blutdürstigen Römer soviel biederes, langbeiniges Sichgehenlassen beimischte, hätte sich also die Maske sparen können – von allen Seiten schallte ihm zur Begrüßung sein wahrer Name entgegen.
Aber war er auch nicht dazu angethan, dämonisches Cäsarenthum zu verkörpern, mich führte er doch zurück in die Zeit altrömischer Fastnacht, das Fest der Saturnalien spielte sich ab vor meinen Blicken.
Einst als noch Saturn mit göttlicher friedlicher Hand über die Erde herrschte, so erzählte sich das alte Rom, da war kein Krieg, kein Streit, keine Arbeit und kein Unterschied von Freien und Sklaven; und nun, da man es anders hatte, da sollte die sonnige Zeit des ersten Menschheitsglückes am frohen Dezemberfeste des Gottes wiedererstehen. Die Gerichte feierten, die Männer legten die Waffen ab und die ernste Toga, in leichtem bequemen Gewand gab man sich der Fröhlichkeit hin. Auf den Straßen schritten die Festzüge, die Häuser hallten wieder von Gesang und Gasterei. In allerhand Vermummungen gefiel sich die entfesselte Freude, die Standesunterschiede schwiegen, der Sklave war frei für die Dauer des Festes – er saß obenan beim Mahle und sein Herr bediente ihn. Ueberall eine umgekehrte Welt!
Und aus dem alten Rom wuchs in meinen Gedanken das neue empor, aus dem Feste der Saturnalien der Karneval: Umwälzungen von Jahrhunderten, eine neue Religion, moderne Bauten und moderne Menschen – und doch die gleiche Fröhlichkeit, dieselbe Freude, jede engende Schranke vergessen, Mensch unter Menschen sein zu können, der Bande und Unterschiede des Lebens, der Thorheiten der Zeit mit lachendem Munde spotten zu dürfen! Bunte Teppiche schmücken die Balkone am Korso, wo helle Lust und lichte Schönheit sich zusammengefunden haben, in der langgestreckten Straße wogen die närrischen Scharen, die einander mit soviel Weisheit zu überschütten suchen, es tobt der Kampf, in dem Confetti und kecke Scherze die friedlichen Geschosse sind, ja dort auf dem Korso drängt sich wohl in dieser Stunde, da ich hier sitze, die nächtliche Menge, mit Moccoli, mit Kerzchen bewaffnet – jede große Sorge des Daseins ist vergessen und nur die kleine Sorge lebt in jedem, das eigene Flämmchen vor dem Verlöschen zu schützen, die der anderen auszublasen mit dem Kriegsgeschrei, das die höchste Wonne einzuschließen scheint „Löscht die Kerzen aus – moccoli, smorzate moccoli!“
Ja, südliches Naturell, ein leichteres Herz, als unter nordischem Himmel schlägt, gehört dazu, um solchen Festes Unverstand ohne die Wehmuth zu genießen, daß vor dem fahlen Lichte des Aschermittwochs die ganze Herrlichkeit versinken müsse – mit diesem Stoßseufzer kehrte ich zu meiner Umgebung zurück, hatte aber sofort Anlaß, mich selbst Lügen zu strafen. Denn wie ich nun aufs neue die Scene vor mir betrachtete, da zeigte sie eine so unverfälschte Fröhlichkeit, das Gepräge so rückhaltlosen Vergessens, daß alle Einwände gegen nordische Schwerfälligkeit sammt dem drohenden Aschermittwoch mir wie Nebel verschwanden, und meinen Domino fester zusammenraffend, stürzte ich selbst mit übermüthigem Narrenspruch ins Gewühl, bereit, jeden Verunglimpfer deutschen Faschings, vom mittelalterlichen Mummenschanz und Fastnachtsspiel an bis zum modernen Maskenball, die Schärfe meiner Zunge spüren zu lassen.
Wie wohlthuend, einmal so recht von Herzen die Wahrheit zu sagen, diese Tugend lachend zu üben, die im Ernste gepflogen nur zu oft wie eine derbe Operation wirkt, hier dagegen, unter Scherz und Narrenfreiheit verhüllt, wie ein Nadelstich, bei dem sich der Betroffene erst besinnen muß, ob er sich ärgern soll oder lachen darf; wie gut das schmeckt, unter der Maske sich selbst zu geben und lästige Formen abzuwerfen! und wie frühlingsduftig muthet es an, im Vorbeigehen dem frischen Geplauder jenes Paares hinter der Säule dort zu lauschen – da fliegt das heute gesetzliche „Du" mit einer Fertigkeit hinüber und herüber, die sehr auf sonstige ungesetzliche Uebung schließen läßt. Harmlose Munterkeit, beflissene Narrenwürde, edler Eifer in der Kunst des Unsinns überall und im Nu – der Aschermittwoch vor der Thür!
Es ist spät geworden; der Morgen zieht mit bleichem Dämmer herauf, wie ich den Saal verlasse. Ein häßlicher Nebel kriecht die Straßen entlang und malt die Welt grau in grau – Aschermittwoch! Vor mir steht an einem Hause eine groteske Gestalt, beim Näherkommen erkenne ich den Kaiser Nero. Der grimme Cäsar schließt seine Hausthür auf; das Scepter hat er demüthig in die Tasche des Ueberziehers gesteckt, er mag ahnen, daß oben eine zarte Frauenhand nach dem glänzenden Symbol der Herrschaft greifen werde, um es nun wieder ein Jahr lang unbestritten zu führen, er mag still überlegen, daß Fastenpredigten noch immer nicht ausgestorben seien: „Aschermittwoch!“ steht auf seinem Gesicht, „Aschermittwoch!“ klingt es aus den Worten, die er bedenklich vor sich hinsummt:
„So kommt der Tag heran –
O ging’ er wieder!“