Für alle Chignons tragende Damen

Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Für alle Chignons tragende Damen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 5, S. 79–80
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Warnung vor Parasiten in Haarersatzteilen
Blätter und Blüthen
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[79] Für alle Chignons tragenden Damen. In der zweiten Nummer des hundertundeinundvierzigsten Jahrganges der St. Petersburger Zeitung vom 2. (14.) Januar machen wir die Bekanntschaft eines unsichtbaren Ungeheuers, das aber durch seine Massenhaftigkeit wohl noch furchtbarer ist, als das bekannte ähnliche Monstrum, die Trichine. Die St. Petersburger Zeitung gründet ihre Mittheilung auf medicinisch-wissenschaftliche Autorität und Untersuchung, welche in dem zu Petersburg erscheinenden „Archiv der gerichtlichen Medicin und öffentlichen Hygieine“ (Gesundheitspflege) zum ersten Male bekannt gemacht worden ist und zwar von dem deutschen Naturforscher Herrn Lindemann. Er sagt im Wesentlichen Folgendes: daß er ein neues mikroskopisches Schmarotzerthierchen, genannt Gregarine (d. h. in Heerden auftretendes Infusorium), näher beobachtet habe; es sei ein protocoisches Thierchen, ein auf der niedrigsten Stufe der Entwickelung des thierischen Organismus befindliches, komme nur parasitisch vor, nur als Schmarotzerthierchen, und zwar fast in allen Theilen des thierischen und menschlichen Körpers, also auch im Blute. Mit ihm schwimmt es im Körper auf und ab und nimmt, durch das Blut genährt, so zu, daß es nicht mehr seiner Neigung, in die inneren Röhrchen der Haare zu steigen, folgen kann und endlich im Körper oder in den Haaren selbst sitzen bleibt. Hier vermehrt sich die Gregarine dermaßen, daß sie bald ganze Colonien bildet, die Blutgefäße verstopft und dadurch eine ganze Reihe von Krankheiten erzeugt, wie Wassersucht, Engbrüstigkeit, die sogenannte Bright’sche Krankheit u. s. w. Sie kommt am auffallendsten in den menschlichen Haaren vor; aber das mit Gregarinen erfüllte Haar unterscheidet sich nur unter bewaffnetem oder sehr scharfem Auge von dem gesunden und zwar durch dunkelbraune Knötchen, die sich meist an den freien Enden des Haares befinden, Diese Knötchen sind ganze Colonien von Gregarinen. Herr Lindemann ließ sich von einem Friseur in Nishni-Nowgorod dreißig verschiedene Haarproben geben, von denen er zwanzig gregarinös fand. Er forschte nun nach den Orten, aus welchen diese Haare vorzugsweise bezogen werden; so erfuhr er, daß sie meist von den ärmsten Leuten, besonders von den Frauen und Mädchen der Mordwinen und Burlaken an der Wolga stammen. Wenn der Burlake im Frühlinge zur Arbeit auszieht, legt er vielleicht ein reines Hemd an, zieht es aber bestimmt nicht eher aus, als bis er im Herbste zurückkehrt. Daß sich bei dieser Lebensweise Strafthiere der Unreinlichkeit auf seinem Körper einfinden und entsetzlich vermehren, ist natürlich genug. Durch seine letzten Versuche hat Herr Lindemann entdeckt, daß fast jedes solche Strafthier (besonders die Laus, deren Nennung wir wenigstens in Parenthese nicht vermeiden können) in ihrem Darmcanale eine ungeheuere Menge Gregarinen enthält, und er überzeugte sich durch weitere Experimente auf’s Vollständigste, daß die Gregarinen der Menschenhaare von diesem Ungeziefer herstammen.

Wie kommen nun aber die Gregarinen in’s Fleisch und Blut der Menschen?

Hierbei sind die Damen die Hauptschuldigen, wirkliche Damen, reizende Geschöpfe in geschmackvollster Balltoilette, die blumengeschmückt, brillantenstrahlend, heiter, geistreich, im Vollgenusse des Lebens auch nur Glück und Leben um sich her zu verbreiten scheinen. Nein, es klingt zu entsetzlich, als daß wir diese Beschuldigung nicht wenigstens beschränken müßten und zwar auf die zusammengeknäulten Zöpfe von eignen und fremden Haaren, welche die Modedamen in mehr oder weniger großen Wulsten unter dem beschönigenden Namen Chignons auf dem Hinterkopfe tragen.

Die Sache geht so zu. Herr Lindemann überzeugte sich durch viele Versuche, daß die Gregarinen vom Austrocknen nicht sterben und auch nicht ausgekocht werden können. (?) Die Mittel, welche sie tödten könnten, wie Säuren, Alkalien, Aether etc., dürfen nicht angewendet werden, da diese die Haare selbst angreifen. Es bleibt den Friseuren also nichts Anderes übrig, als die zusammengekauften Haare, mögen sie noch so gregarinös sein, zu den Chignons und Lockenbauten der Modedamen zu verwenden. Nun überzeugte sich Herr Lindemann ebenfalls, daß sich die Gregarinen selbst bei einer nur schwachen Erhöhung der Temperatur und namentlich beim Zuströmen von Wasserdämpfen beleben, schnell wachsen und in einigen Stunden zu der vollständigen Entwickelung gelangen, welche ihre schnelle Vermehrung zur Folge hat. Wie kommen sie nun in das Innere des menschlichen Organismus?

Unter den glänzendsten Verhältnissen der modernen Gesellschaft. Man stelle sich einen Ballsaal vor. Die strahlenden Kronleuchter, der Tanz, die [80] vielen Menschen steigern die Temperatur und die Ausdünstungen bald so sehr, daß sich die unzähligen unsichtbaren Unholde in den aus fremden Haaren aufgebauschten Zopfwulsten der Damen schnell massenhaft beleben, schnell wachsen und sich schnell vermehren, indem sie, wie alle diese untergeordneten Thierchen, in viele sogenannte Keimkörner zerfallen. Diese fliegen nun im Ballsaale zu Millionen umher, werden eingeathmet, fallen auf die angebotenen Erfrischungen, kurz, gelangen auf hundert Wegen in das Innere der Menschen, durchdringen und vergiften alle Körpertheile und vermehren sich dermaßen, daß sie wie Legionen böser Geister durch alle Haare wieder emporsteigen und neues Unheil nach allen Seiten verbreiten. Ein entsetzliches Gemälde! Mögen die Modedamen zunächst vor den Bündeln und Wulsten des Unheils, das sie mit fremden Haaren auf ihrem sonst reizenden Nacken aufbauschen, erschrecken und sich mit ihrem eigenen schönen Haar begnügen lernen.

Für die Aerzte und Naturforscher ergiebt sich die ernste Aufgabe[WS 1], die Entdeckungen des Herrn Lindemann genauer zu prüfen, damit, wenn sie sich als begründet erweisen, die geeigneten Mittel gegen die Verbreitung dieser Ungeheuer ergriffen werden können. Die Damen aber werden gut thun, sofort mit heroischem Entschluß aufzuhören, sich, wenn auch mit fremden Federn, wenigstens nicht mehr mit fremden Haaren zu schmücken und viel schöner ohne künstliche Buckel im Nacken zu erscheinen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. im Original: Aufggbe