Europa’s Allerhöchster
Durch Saussure, den berühmten Genfer Naturforscher, war im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts der Montblanc für die Wissenschaft neu entdeckt und der Welt bewiesen, daß der Willenskraft, dem Muth und der Ausdauer selbst der „König der europäischen Berge“, dessen Majestät Jahrhunderte lang für unnahbar gegolten hatte, endlich unterthan werden mußte. Aber auch das romantische Interesse war geweckt; die Saussure’sche Besteigung und deren Beschreibung fielen in eine Periode, wo durch die Schriften Rousseau’s und die allgemeine Richtung der Zeit überhaupt mit der Empfindsamkeit auch der Sinn für die schöne
[140] Natur auf einmal wie aus langen Fesseln befreit erschien. Chamounix wurde bald ein Wallfahrtsort aller Naturfreunde und auch die Zahl der Montblancbesteigungen mehrte sich von Jahr zu Jahr. Lange Zeit hindurch stellte das reiche Albion das stärkste Contingent, denn eine Montblancbesteigung verlangte immer noch nicht blos Muth und Ausdauer, sondern vor allen Dingen auch eine vollgespickte Börse. Noch 1849 giebt J. G. Kohl die Kosten eines solchen Unternehmens auf eintausend Franken an. Nicht minder wie der romantische Reiz wirkte bei den Engländern auch namentlich der Ruhm, der mit einer Montblancbesteigung verbunden war. Noch bis vor zehn Jahren etwa war ein solcher kühner Reisender bei seiner Rückkehr längere Zeit der Löwe des Tages in den Salons von London, und für solche Ehre wagt ein junger Gentleman schon etwas. Es kam sogar vor, wie Murray 1847 in seinem berühmten Handbuch erzählt, daß ein Engländer bei vollkommen trübem Wetter, wo nach der Erklärung der Führer durchaus nichts zu sehen war, den Gipfel erstieg, nur um sagen zu können, er sei dagewesen. Kleine Motive für große Unternehmungen sind eben bei den Engländern nicht selten: ein nicht geringer Theil der sogenannten britischen Originalität beruht darauf.
Eine entschieden heiterere und anziehendere Erscheinung, als jener im Nebel auf den Montblanc steigende Gentleman, ist ohne Zweifel die geistreiche, muntere Französin, Fräulein d’Angeville, welche häufig als die erste Montblancbesteigerin genannt wird. Dies ist nicht ganz richtig, denn schon früher wurde das Haupt des Bergriesen von einem weiblichen Fuß unter den Pantoffel gebracht, wie wir gleich sehen werden. Der Herr Herausgeber dieser Blätter äußerte mir den ganz ausdrücklichen Wunsch, den Lesern der Gartenlaube etwas Näheres über diese interessante Erscheinung mittheilen zu können. Ich habe das Mögliche gethan, um in der mir gestellten kurzen Frist dieser Aufgabe zu entsprechen. Professor Dr. Galiffe, der ausgezeichnete Genfer Geschichtsforscher, hatte auf meine Bitte die Güte, sich direct an die Dame zu wenden, und diese ihrerseits die Gefälligkeit, umgehend zu antworten. Da liegt nun dieser Brief vor mir, in dem Fräulein d’Angeville nach einigen Eingangsworten schreibt: „Indem ich Ihren Brief artikelweise beantworte, erwidere ich für’s Erste und Zweite, daß niemals ein in’s Einzelne gehender Bericht über meine Montblancbesteigung erschienen ist, wohl aber fand sich und zwar in fast allen Blättern der Schweiz und Frankreichs die Nachricht von dieser Expedition mit Lobeserhebungen über den Muth derjenigen, welche sie unternommen und glücklich vollendet hatte; denn zu jener Zeit, im September 1838, galt das für schwierig für einen Mann und unmöglich für eine Frau! … Die Einzige, welche diesen hohen Gipfel vor mir berührt hat, war eine Bäuerin aus dem Thal, Namens Marie Paradis, dreißig Jahre vor mir (1809); sie lebte noch im Jahre 1838 und erzählte mir selbst, sie habe diese Besteigung nicht mit ihren eigenen Kräften ausführen können. Auf der Hälfte des Weges habe sie sich schon sehr ermüdet gefühlt und nach Zurücklegung des zweiten Dritttheils wurde sie abwechselnd von den Führern bis zum Gipfel getragen. Mich anbelangend, so bin ich, obgleich durch eine betäubende, fast möchte ich sagen, lethargische Schlafsucht belästigt, unausgesetzt auf meinen eigenen Beinen gegangen, ohne daß mir ein einziges Mal der Gedanke beigekommen wäre, auf mein Vorhaben zu verzichten. Auf dem Gipfel angelangt, kam ich sofort wieder zu dem normalen Zustand, blieb eine Stunde oben und schrieb fünf Briefe. Im Schneeschlitten, im Laufschritt oder auch in dem von der Tageshitze erweichten Schnee fortrutschend, bin ich nach Chamounix zurückgekehrt, wo mich ein förmlicher Triumph erwartete. Keine üble Folge für meine Gesundheit hat mich meine Verwegenheit bereuen lassen, ausgenommen, daß ich acht Tage lang schmerzende Augen und das Gesicht verbrannt hatte und eine neue Haut bekam, wie die Boas.“
Das ist es, was die tapfere Dame heute, achtundzwanzig Jahre nach ihrer Heldenthat, uns mitzutheilen die Güte hatte. Murray erzählt noch, daß sie sich oben von den Führern emporheben ließ, um mit vollster Sicherheit behaupten zu können, so hoch, wie noch kein Mensch vor ihr in Europa, gewesen zu sein. Da auch dieser Engländer sich auf directe Mittheilungen von Fräulein d’Angeville stützt und dieser humoristische Zug ihrem ganzen heiteren Wesen zu entsprechen scheint, so wollen wir ihn nicht übergehen. Einen anderen interessanten Beitrag zur Charakteristik der merkwürdigen Frau liefert mir noch eine waadtländische Zeitung vom August 1863. Darin heißt es:
„Eine fünfundsechszigjährige Dame hat, von einem einzigen Führer begleitet, in zehn Stunden das Oldenhorn (9260 Fuß hoch, in den waadtländischen Alpen) vom Hotel des Diablerets aus bestiegen. Auf dem Rückweg brach bereits die Nacht an, als der Führer plötzlich gestand, den rechten Weg verloren zu haben. Die unerschrockene Reisende nahm ihren Muth zusammen und erklärte, an dem Ort, wo man sich gerade befand, den Tag erwarten zu wollen, um sich nicht unnöthiger Weise Gefahren auszusetzen. Allein der Führer entgegnete, er sei zu erhitzt, um in dieser Höhe ohne Obdach übernachten zu können. Man trennt sich also, die Dame bleibt und der Führer steigt, so gut es gehen will, zur nächsten Sennhütte hinab, eine Laterne zu holen. Endlich kehrt er mit dieser zurück und nun findet sich, daß die tapfere Sechszigerin unmittelbar an einem furchtbaren senkrechten Felsenabgrunde zwei Stunden verweilt hat. Der Rückweg wurde darauf ohne weitere Schwierigkeiten vollendet. Das Alles klingt sehr unwahrscheinlich, allein es genügt, den Namen der Dame zu nennen, um alle Zweifel zu zerstreuen: es war Fräulein d’Angeville, die kühne Montblancbesteigerin von ehemals, welche am Anfang der letzten Woche diesen ihren neuesten abenteuerlichen Plan ausgeführt hat. Sie wohnt gegenwärtig in Lausanne.“
Später hat sich die Zahl der Montblancbesteigerinnen gemehrt, und allein aus der letzten Saison 1865 werden deren vier genannt.
Die schwierigsten Aufgaben, die Auffindung einer gangbaren Straße zum Montblancgipfel und seine ersten Besteigungen, waren, wenn auch mit vielen Gefahren und Mühseligkeiten, doch ohne Unglücksfälle gelöst worden. Aber der überwundene Bergriese hat darum doch noch seine Rache genommen und später manches Opfer verlangt. Gar mancher Führer hat seine Kühnheit, oft auch seine Unvorsichtigkeit, mit dem Leben büßen müssen, mancher muthige Alpensohn liegt unter dem Schnee herabgestürzter Lawinen begraben oder seine Gebeine bleichen in unzugänglichen Schluchten. Eine der entsetzlichsten Katastrophen ist diejenige, welche sich 1820 bei einer Besteigung durch den russischen Hofrath Dr. Hamel ereignete. Am 18. August trat dieser, von zwei Engländern, J. Dornford und G. Henderson, und zwölf Führern begleitet, die Reise an. Man übernachtete an den Grands-Mulets unter einem Zelt, wo man auch den folgenden Tag wegen schlechten Wetters zubringen mußte. Der 20. August brachte wieder Sonnenschein, so daß die Reise fortgesetzt werden konnte. Kurz nach sieben Uhr Morgens erreichten die Wanderer jene drei übereinander liegenden Schneefelder, welche gewissermaßen die letzten Stufen unter dem Hauptgipfel bilden. Um acht und ein halb Uhr betraten sie das höchste und die Führer wünschten den Fremden bereits Glück, daß nun alle Gefahren überwunden seien. Es wurde ein kleines Frühstück eingenommen, dann ging es unter Scherzen und Lachen weiter bei herrlichstem Wetter. In einer Reihe hintereinander gehend, schritten die Wanderer, das Schneefeld hinan, Dr. Hamel war der Letzte. Man sprach jetzt nicht mehr, da der Luftmangel sich empfindlich fühlbar machte. Plötzlich fühlt Dr. Hamel den Schnee unter seinen Füßen weichen, der Schnee häuft sich um ihn und reißt ihn unaufhaltsam fort: Hamel glaubt sich allein von einer Schneelawine überschüttet. Es gelingt ihm, den Kopf hervorzuarbeiten, da sieht er, daß der ganze Abhang in Bewegung ist und daß er sich nahe bei einem gähnenden Felsschlund befindet. Mit Anstrengung der letzten Kräfte bringt er es dahin, festen Fuß zu fassen; er sieht auch Henderson, Dornford und drei Führer aus dem Schnee auftauchen. Er glaubt schon Alle gerettet, als auch noch Andere wieder erscheinen, und schon stoßen die Reisenden ein freudiges Hurrah aus. Aber drei Führer sind und bleiben verschwunden: Pierre Balmat, der älteste Sohn jenes P. Balmat, der sich unter Saussure’s Führern befand, Pierre Carrier, der schon elf Mal den Montblanc bestiegen hatte, und Aug. Terraz. Die Reisenden steigen in die Schlucht hinab, sie suchen überall, sie rufen die Namen: das Schweigen des Todes ist die Antwort. Alle späteren Versuche, die die Verunglückten wieder aufzufinden, waren vergebens, erst in den letzten Jahren hat man einige ihrer Ueberreste am Fuße des Bossonsgletschers entdeckt. –
Inzwischen hat auch der Montblanc selbst, der „Urzeuge der Schöpfung“, den Einfluß der fortschreitenden Cultur erfahren. Manche gähnende Abgründe haben heute durch ein festes eisernes
[141][142] Geländer ihre Schrecken verloren und der Felsen an den Grands-Mulets, unter dessen Abhang man sonst die Nacht verbringen mußte, trägt jetzt eine aus Steinen aufgeführte, mit Bretern gedeckte, sieben Fuß breite, zwanzig Fuß lange Hütte, in der sich zwei Glasfenster und ein eiserner Ofen befinden, wo es sich denn ganz behaglich übernachten läßt. Ein humoristischer Engländer, der hier vor einigen Jahren auch ein kostbar gebundenes Fremdenbuch stiftete, hat dieser Hütte sogar den allerdings etwas allzu stolz-euphemistischen Namen „Hôtel impérial des Grands-Mulets“ gegeben. Die Natur selbst scheint die Ersteigung des Montblanc bedeutend erleichtern zu wollen, denn manche Thalgletscher, wie z. B. die früher so sehr gefürchteten Bossonsgletscher, sind bedeutend geschmolzen und gesunken, so daß ihre einst so drohenden Eisspalten jetzt nur noch eine geringe Gefahr bieten. Andrerseits haben sich die Kosten bedeutend gemindert und Dr. Piachaud aus Genf gebrauchte bei einer Besteigung im Jahre 1864 Summa Summarum zweihundert und fünfzig Franken, ohne sich irgend einen Comfort zu versagen. Seiner Beschreibung, die in vieler Hinsicht als mustergültig anzusehen ist, entnehmen wir den nachfolgenden gedrängten Auszug.
Die beiden Reisenden, Dr. Piachaud und der tüchtige Genfer Landschaftsmaler Loppé, der außer den Führern von allen Sterblichen wohl schon am häufigsten auf dem Montblanc war – „es ist nur ein Spaziergang,“ pflegt er zu sagen – traten am 27. Juli 1864 um acht Uhr Morgens ihre Wanderung von Chamounix aus an. Sie hatten vier Führer, zwei für jede Person, und einen Packträger bei sich, was vollkommen genügt. Für den ersten Tag ist ein gewöhnlicher Reiseanzug der geeignetste; für den zweiten muß man warme Winterkleider haben, welche der Packträger bis zu den Grands-Mulets trägt. Ebenso dürfen starke, nägelbeschlagene Gebirgsschuhe nicht fehlen. Für das Gesicht dient eine Maske aus weißem Leinen zum Schutz gegen die stechenden Sonnenstrahlen; die Augen werden durch eine blaue Brille gegen den blendenden Schnee gewaffnet.
Von Chamounix geht der Weg zunächst durch ein anmuthiges Tannen- und Lärchengehölz, dann über den wildrauschenden Bergbach Dard und hierauf einen steilen Abhang hinan bis zu der Pierre Pointue in etwa zwei und einer halben Stunde. Dort findet sich eine kleine Schenke, welche von der Frau eines Führers gehalten wird und von wo aus man den ganzen Bossonsgletscher von seinem Ursprung an dem großen Plateau bis zu seinem Ende gegen das Chamounixthal übersehen kann. Bis zu der Pierre à l’Echelle, einem breiten Felsen, steigt man dann zwischen Rhododendren und einer noch üppigen Alpenvegetation in ein und einer halben Stunde hinauf. Der Felsen hat seinen Namen von den Leitern, welche man oft bei den Gletscherübergängen nöthig hat und welche hier unter einem Steinvorsprung aufbewahrt werden. Hier verläßt man, wie unser Reisender sich ausdrückt, das feste Land, um von nun an, wie es unsere Abbildung zeigt, nur auf Schnee und Eis weiter zu schreiten. Bei dem Uebergang über den Gletscher bieten die von der benachbarten Aiguille du Midi von Zeit zu Zeit mit der Schnelligkeit einer Kanonenkugel herabrollenden Steine manche Gefahren. Von dem Punkt an, wo der Bossonsgletscher sich mit dem Taconnygletscher vereinigt, mehren sich die Spalten, welche man jetzt jedoch unter der Leitung geschickter Führer meistens zu umgehen weiß. Gegen vier Uhr Nachmittags langten die Reisenden an der oben beschriebenen Hütte an den Grands-Mulets, etwa dreitausend Meter über dem Meer, an, wo sich eine herrliche Aussicht über die nächstgelegenen Alpenspitzen, dieses ganze Chaos hervorragender Hörner, Felsenzacken und Schneefelder, weiter über die niederen Ketten des Chablais bis zum blauen Leman darbietet. Dr. Piachaud kann diese Excursion zu den Grands-Mulets allen Reisenden, welche den vollen Genuß einer Hochalpenwanderung haben wollen, aber eine Besteigung des Montblanc selbst fürchten, nicht genug empfehlen.
Während die Führer das Abendessen im „Hotel Impérial“ bereiteten, zeichnete Loppé, auf einem etwas höher gelegenen Gletscher sitzend, einige Studien in sein Skizzenbuch und Dr. Piachaud sah sich unter der „magern Flora“ dieser Einöde um. Großartig stellte sich endlich der Sonnenuntergang ein. Als die Sonne hinter der bläulichen Jurakette verschwunden war und tief unten das Chamounixthal schon im dunkelsten Schatten lag, zeigten sich alle benachbarten Alpengipfel noch im flammendsten Purpur, bis auch sie endlich, der Montblancgipfel zuletzt, sich in jene bleierne Todtenfarbe hüllten, welche erst mit dem Morgenroth wieder verschwindet. Die Reisenden suchten, nachdem sie sich noch durch eine Tasse Thee erwärmt, ihr selbstbereitetes Lager in dem Karawanserai, wo inzwischen noch eine Schaar Engländer eingetroffen war. Diese brachen mit ihren Führern schon eine halbe Stunde nach Mitternacht auf, während unsere Reisenden erst um zwei ein halb Uhr ihre Wanderung antraten, nachdem sie sich noch durch eine Tasse warmen Weins zu ihrem beschwerlichen Tagewerk gestärkt hatten. Beim Schein einer Laterne wird der Gletscher betreten und nun wird die „cérémonie de la corde“ vorgenommen, d. h. die Verbindung der Wanderer durch ein starkes Seil. Diese Maßregel ist unerläßlich, ihre Vernachlässigung hat schon eine Menge Unglücksfälle herbeigeführt, so noch kurz vor der Reise des Dr. Piachaud den Tod eines jungen Mannes aus Chamounix selbst.
Nach dreistündigem Marsch langten die Wanderer in einer Höhe von zwölftausend Fuß am Anfang des sogenannten Grand-Plateau an, wo ein kleiner Halt gemacht wurde, um eine Erfrischung einzunehmen, obwohl in dieser Höhe schon wenig Appetit vorhanden ist. Um so großartiger ist das Naturschauspiel, welches sich hier darbietet: man befindet sich, wie Piachaud sagt, gewissermaßen in einem ungeheueren Circus, der ringsum von den riesigen Gipfeln Dôme du Goûté, Bosse du Dromédaire, dem eigentlichen Montblancgipfel, Corridor, Mont-Maudit und Montblanc du Tacul umragt wird, welche den Himmel mit ihren majestätischen Spitzen zu tragen scheinen. Hinter dem letztgenannten Berg trat gerade die Sonne hervor, als die Reisenden anlangten.
Von dem bezeichneten Punkt führen drei Wege zum Montblancgipfel. Der erste ist der, welchen Saussure einschlug und auf welchem später die Katastrophe bei der Expedition des Dr. Hamel sich ereignete; dieser Weg wird schon seit langer Zeit wegen der durch Lawinen drohenden Gefahren nicht mehr betreten. Der zweite Weg über den Dôme du Goûté und les Bosses du Dromédaire, obwohl ihn 1861 mehrere Engländer glücklich zurücklegten, ist gleichfalls außerordentlich beschwerlich. Der dritte Weg, den auch unsere Reisenden einschlugen, ist der weiteste, aber bequemste und sicherste. Nach drei Viertelstunden langten die Reisenden am Corridor an, einem breiten Schneeabhange zwischen dem Mont-Maudit und den Rochers-Rouges. Im Profil des Montblanc, wie man es von Genf aus sieht und mit demjenigen Napoleon’s des Ersten verglichen hat, bildet dieser Theil die Lippen, die unteren Rochers-Rouges die Nase, die oberen das Auge, die Calotte das „welthistorische Hütchen“. Große Schwierigkeit bietet die Ersteigung einer steilen einhundertfünfzig Meter hohen Schneemauer, welche den Namen Mur de la Côte erhalten hat; hier müssen Stufen in den harten Schnee gehauen werden, und die Reisenden brauchten drei Viertelstunden, sie zu erklimmen. Dann aber sind auch alle wirklichen Gefahren überstanden; dagegen stellen sich jetzt die Einflüsse des Luftmangels, erschwerter Athem, Schläfrigkeit, Muthlosigkeit in hohem Grade ein. Piachaud fühlte sie dermaßen, daß er nicht weiter gehen zu können glaubte und fast nur mit Gewalt fortgebracht werden konnte. Endlich um neun ein halb Uhr setzten die Reisenden den Fuß auf den höchsten Gipfel, einen von West nach Ost streichenden Grat, den Piachaud der Gestalt nach mit einem Eselsrücken vergleicht. Das erste, was die Reisenden hier fanden, war die „Visitenkarte“ der bereits vor ihnen hinaufgestiegenen jungen Engländer: zwei Champagnerflaschen, welche hier zu leeren eine geheiligte Sitte unter allen britischen Montblancbesteigern ist. Die Aussicht, welche sich den Reisenden darbot, war im Süden durch Nebel beschränkt, um so unermeßlicher gegen Osten, Norden und Westen: alle Alpenketten Savoyens, des Wallis, des Berner Oberlandes, der Jura und die weiten Länderstrecken, welche sich an diese Gebirge reihen, lagen zu ihren Füßen. Das erste moralische Gefühl, welches sich Piachaud’s hier oben bemächtigte, war das der Befriedigung, alle Schwierigkeiten glücklich überwunden zu haben: „ein Beweis,“ meint er, „daß wir sehr zu dieser Art von Stolz geneigt sind, selbst wenn wir auch unmittelbar vorher unsere Schwäche haben kennen lernen.“ Der hervorstechendste physische Eindruck war der der Kälte, sonst war alles Uebelbefinden verschwunden. Wegen dieser durch heftigen Wind vermehrten Kälte drangen die Führer darauf, nach zwanzig Minuten den Rückweg anzutreten. Er wurde glücklich zurückgelegt, obgleich das Hinabsteigen des Mur de la Côte noch größere Schwierigkeiten [143] darbot, als das Hinaufklimmen, und auch noch manche andere Fährlichkeiten zu bestehen waren. Auf dem Grand-Plateau ließ es sich Loppé nicht nehmen, noch einige Gletscher-, Eis- und Schneefelderstudien zu zeichnen, die wir in ihrer Ausführung später auf Genfer Ausstellungen wegen ihrer überwältigenden Naturwahrheit bewundern konnten. In der Hütte an den Grands-Mulets wurde zwei Stunden ausgeruht und ein stärkendes Mahl eingenommen, während sich draußen ein Gewitter entlud, und um sieben ein halb Uhr Abends langten die Reisenden, zwar ermüdet, aber höchst befriedigt von ihren Erlebnissen und den gewonnenen reichen Eindrücken aller Art, in Chamounix wieder an.[1]
Ein von der Direction der Führercompagnie zu Chamounix am Schluß der Saison 1865 aufgestelltes Verzeichniß giebt die Gesammtzahl der Montblancbesteigungen von 1786 bis heute auf zweihundertdreiundneunzig an; einhundertundsiebenundachtzig waren von Engländern, neununddreißig von Franzosen und Savoyarden, einundzwanzig von Amerikanern, neunzehn von Deutschen und neun, von Schweizern ausgeführt worden. Eine der merkwürdigsten und in socialer Hinsicht für unsere Zeit charakteristischesten Besteigungen fand im September 1865 statt, als eine Anzahl in Chamounix in Dienst stehender Kellner und Commis, denen sich mehrere Modistinnen (wahrscheinlich die schon oben erwähnten vier Damen) anschlossen, dieses Wagniß fast ohne Führer unternahm und, wenn auch mit vielen Schwierigkeiten, doch glücklich überstand. Damit wären also jene kühnen Unternehmungen, welche bis zur neuesten Zeit immer noch einen gewissen exclusiven Beigeschmack trugen, vollständig demokratisirt und auch an der Geschichte der Montblancbesteigungen der Culturfortschritt schlagend nachgewiesen worden. Aristokraten unter den Bergsteigern, die immer gern etwas Apartes für sich haben wollen, suchen sich bereits neue, gewagtere Ziele, und der englische, schweizerische und andere Alpenclubs sorgen dafür, daß unsere Nachkommen schwerlich noch jungfräuliche Alpengipfel zu überwinden finden werden.
- ↑ Sowohl die sehr gelungene Abbildung wie überhaupt die Anregung zu dem obenstehenden Artikel verdanken wir Herrn Rudolf Bunge in Köthen, der vor einigen Jahren unter besonders ungünstigen Umständen bis nahe zur Spitze des Montblancs gelangte und uns über diese seine interessante Bergsteigung ein reichhaltiges Material übergab, dessen Benützung wir uns vorbehalten. Die Redaction.