Ernst Moritz Arndt’s letzter Wunsch
Von einem Rheinländer.
Es war wenige Tage nach seinem vom ganzen deutschen Volke gefeierten neunzigsten Geburtstage, daß der jugendlichste aller Greise, Ernst Moritz Arndt, in einer kleinen, traulichen Versammlung und bei einem Glase rheinischen goldenen Weines, die um ihn vereinten Freunde durch sein Feuer, seine Geistesfrische und die liebevolle Wärme, die sein ganzes Wesen wohlthuend durchglühte, erfreute und rührte. Man sah es dem heitern Jubilar an, wie wohl es ihm that, nach der Aufregung der letzten Tage, in denen er Deputationen und Festgeschenke aus allen Theilen Deutschlands hatte empfangen und wenigstens einige hundert telegraphische Depeschen beantworten müssen, endlich wieder einmal in engerem Kreise zu weilen. Unter den Anwesenden befanden sich Dahlmann, der unerschütterliche und glänzende Streiter für Recht und Freiheit, den das Vaterland seitdem leider auch verloren, Welcker, der ehrwürdige Nestor der Archäologen und Bruder des berühmten deutschen Volksmannes, und der rheinische Dichter Wolfgang Müller. Das Gespräch bewegte sich froh und heiter hin und her, zumeist aber lauschten wir dem herrlichen Alten, dem ein unerschöpflicher Redestrom von den Lippen zu fließen schien. Mit einer seltenen Elasticität des Geistes eilten seine Gedanken von einem Gegenstande zum andern, während er daneben für Jeden, auf dem gerade sein treues Auge ruhte, ein liebevolles Wort oder eine kleine Neckerei übrig hatte. So klopfte er z. B. mitten heraus aus einer Erörterung über die Deutschland im Westen eigentlich [794] zukommenden Grenzen, einem jungen Manne, den er sehr lieb hatte, mit der Hand wider die linke Seite der Brust und behauptete, trotz aller gegenteiligen Versicherungen desselben, er allein wisse, daß in dem unruhig pochenden Dinge da drinnen seit kurzem eine allerliebste Königin eingezogen sei. Einem aus Berlin anwesenden Gaste lieferte er aus dem Stegreife eine höchst humoristische und diesem durchaus nicht schmeichelhafte Erklärung der im Altdeutschen feststehenden Bedeutung seines Familiennamens, und Müller, den er nicht gleich wiedererkannt hatte, rief er plötzlich die sehr komisch wirkenden Worte zu: „Seid Ihr nicht Königswinter?“ So heißt nämlich das romantisch gelegene rheinische Städtchen am Fuße des Drachenfels, dessen Namen der Dichter zur Unterscheidung von einer Legion anderer Müller seinem Namen zugefügt halte. Am liebsten aber schweiften seine Gedanken in der reichen und großen Vergangenheit, die er nicht nur erlebte, sondern in die, er selber auch als einer der Tüchtigsten und Thatkräftigsten mit eingriff. Bald schilderte er uns die Tage der tiefsten Erniedrigung unseres Vaterlandes unmittelbar nach der Schlacht von Jena, bald den großartigen Aufschwung und die stammende Begeisterung des deutschen Volkes in den Freiheitskriegen, dann wieder seinen unvergeßlichen Freund, den er selber so treffend den politischen Luther Deutschlands nannte, den Freiherrn von Stein, und endlich seine ferne Heimath, die schöne Küste der blauen Ostsee und das von nordischer Sage verklärte Rügen.
Von hier kam er, ohne einen zu großen Sprung zu wagen, aus Schleswig-Holstein und mit großer Strenge auf „den putzigen kleinen Dänen“ zu reden, eine Gesammtbezeichnung eines ganzen Volkes, die, als er sie früher einmal öffentlich gebrauchte, die reizbaren Kopenhagener zu einer Beschwerde durch den dänischen Bundestagsgesandten in Frankfurt aufstachelte. Einmal in Seeland, war auch die Küste Skandinaviens nicht mehr fern und mit ihr seine Schweden und Norweger, für die er von jeher eine zärtliche Vorliebe hatte. Es war überhaupt rührend zu bemerken, wie die Völker Europas, je nachdem sie entweder selber Germanen oder doch germanischer Abkunft waren, seinem Herzen näher oder ferner standen. So sprach er z. B. von den Dänen keineswegs als von uns angeborenen Feinden, was er von den Franzosen that, sondern nur wie von einem eitlen und naseweisen kleinen Burschen, den seine allzu langmüthigen Vettern endlich einmal auf die Finger klopfen müßten, damit er sich gegen so ehrwürdige und mächtige Verwandte mit dem geziemenden Respecte betragen lerne. Die Schweden aber zog er selbst den Engländern vor, auf die er doch sonst große Stücke hielt; sie kamen ihm gleich nach den Deutschen. Diesmal steigerte er sich in ihrer Bewunderung sogar zu der Behauptung, daß, ich weiß nicht mehr in welchem Kriege, ein einziges finnländisches Dragonerregiment sechs polnische Uhlanenregimenter in die Flucht geschlagen und gänzlich aufgerieben habe! –
Wer von uns Allen, die wir den feurigen Greis, mit dem schneeweißen Haare, aber der noch kräftigen, untersetzten Gestalt, in voller Geistesfrische vor uns sahen und seine mächtig tönende Stimme vernahmen, hatte gedacht, daß ein paar Wochen später der Winter seine weiße Flockendecke über seinen Grabhügel streuen würde? Mußten wir doch im Gegentheil glauben, daß der theuere Alte, dem so eben wieder alle deutschen Stämme wie einem gemeinsamen Vater ihre Huldigungen dargebracht, uns und seinem Volke noch lange erhalten bleiben werde, da er an seinem neunzigsten Geburtstage körperlich und geistig so aufrecht vor uns dastand. Unser Wirth sprach daher nur unser Aller Gedanken aus, als er zum Schlüsse des heiteren Mahles sein Champagnerglas erhebend ausrief: „Stoßen wir darauf an, daß wir in zehn Jahren den hundertsten Geburtstag unseres Vaters Arndt feiern!“ – „Nein,“ erwiderte Arndt, „das hundertste Jahr erreiche ich nicht. Mir träumte einst, als ich noch jung war, ich sähe meinen Leichenstein und darauf zur Linken die Zahl Neun, während die zur Rechten befindliche Ziffer meinem Auge unleserlich blieb. Seit dieser Zeit – ja, lächelt nur über des Alten Aberglauben – stand es mir fest, daß ich wohl einmal das 60 Jahr erreichen, aber auch nicht weit darüber hinaus kommen würde, und Ihr werdet bald sehen, daß ich mich nicht täuschte. Was thut’s auch? habe ich doch lange genug gelebt, um noch eine große Hoffnung mitzunehmen und die heißt: Deutschland! Wir sind zwar noch weit entfernt von der Erfüllung des großen Gedankens, der mein ganzes Dasein durchdrang und bestimmte; noch weit entfernt von dem Tage, da ein einziges großes Volk vom adriatischen Meere und den Alpen bis zu den Belten, von der Schelde und der Maas bis zum Niemen wohnen wird. Aber wir haben doch schon große Schritte auf dieses Ziel hin gethan, und daß wir’s erreichen, dafür wird nächst Gott das deutsche Volk selber sorgen. Nur einen Wunsch habe ich noch für mich persönlich und möchte ich erfüllt sehen, bevor ich scheide. Ich erhielt gestern von unsern vlämischen Brüdern in Belgien eine ebenso herzliche wie feierliche Einladung zu dem nächsten großen Vlamen-Congresse. Seht, da möchte ich noch hin, um jenem herrlichen, uns so nahe verwandten Stamme ein Abschiedswort aus vollem Herzen zuzurufen, ehe diese Lippen für immer verstummen. Glaubt mir, von den Vlamändern, die seit zwei Jahrzehnten angefangen haben, so tapfer für die große Idee ihrer nationalen Zusammengehörigkeit mit uns zu streiten, wird uns vielleicht noch einmal ein Anstoß kommen, der uns aus unserer immer noch erschreckenden Gleichgültigkeit gegen unsere nationale Existenz und aus unserer unglückseligen Stammes-Eifersüchtelei aufrütteln und in unseren hochherzigen Brüdern jenseits der Maas ein leuchtendes Vorbild erkennen lassen wird. Denn die Vlamänder haben, obgleich nicht mehr zum Reiche gehörig und dessen Schutze längst entrückt, niemals aufgehört, seitdem sie sich wieder als Germanen empfanden, das große Ganze im Augen zu behalten, während wir Anderen das nur locker noch zusammenhängende und schon so sehr zerrissene Vaterland durch unsere widerwärtigen konfessionellen Vorurtheile, unseren lächerlichen Provincialismus und die damit zusammenhängenden traurigen Stammesgehässigkeiten womöglich noch tiefer in seinem Innern spalteten!“ –
So sprach Vater Arndt wenige Tage zuvor, ehe er uns für immer entrückt ward. Uns, den Hinterbliebenen, aber sollen diese Worte ein theueres Vermächtniß und ein Grund mehr sein, unsern Brüdern in Belgien unser ganzes Herz zuzuwenden, ja ihnen mit dem Schwerte in der Hand beizuspringen, wenn der Gallier es wagen sollte, die Bedingungen ihres nationalen Daseins zu bedrohen.
Aber stehen uns denn die Vlamänder wirklich so nahe? wird vielleicht mancher unserer Leser fragen. Es sei mir, um hierauf zu antworten, vergönnt, wenigstens nur Einiges von den Untersuchungen mitzutheilen, zu denen mich gerade Vater Arndt’s Interesse an dem vlämischen Bruderstamme zuerst anregte.
Unser norddeutsches Tiefland, das eigentlich schon in Frankreich auf der Wasserscheide zwischen Schelde und Somme beginnt und sich bis in die russischen Ostseeprovinzen fortsetzt, wird von einer Reihe nahe verwandter Stämme bewohnt. Man kann sie sämmtlich unter dem allgemeinen Begriffe „niederdeutsch“ zusammenfassen, wie denn, in unmittelbarem Anschluß an diese Bezeichnung, Holländer und Belgier noch bis zum Jahre 1830 gemeinsam „Niederländer“ genannt wurden. Auch eine besondere Mundart, das „Plattdeutsche“, ist so ziemlich allen Stämmen gemein. Nicht weniger ist der äußere Habitus dieses einige zwanzig Millionen umfassenden Menschenschlages derselbe. Dies zeigt sich nicht etwa allein in dem verwandten Gepräge, das eine ähnliche Beschäftigung und Landesbeschaffenheit einer Bevölkerung aufdrückt, also hier z. B. überseeischer Handel, Schifffahrt, Zusammenleben in großen volkreichen Städten und Seeplätzen, Anbau fetter von Dämmen geschützter Marschländer u. s. w., auch nicht allein in der Wirkung, die ein beständiger Kampf mit den Elementen, mit Wellen und Sturm, und ein Horizont, der ferne Welttheile umfaßt, auf Seele und Körper üben, sondern weit mehr noch in den charakteristischen Kennzeichen ein und derselben Race, so wie in der wunderbar übereinstimmenden Gemüthsart und Charakteranlage, der wir beim Vlamänder wie beim Friesen und Ostpreußen, beim Niederländer wie beim Holsteiner oder Schleswiger begegnen. Bei allen finden wir dasselbe zähe und entschlossene Festhalten an ihren Rechten und Traditionen, dieselbe Anhänglichkeit an Vaterland und Stammeseigenthümlichkeit, an der es leider manchen Süddeutschen, z. B. den Elsässern, so gänzlich mangelt, denselben behaglichen und phlegmatischen Gleichmuth, gewürzt durch einen derben Mutterwitz, und vor allem dieselbe Entwicklung eines schönen Unabhängigkeits- und Freiheitssinnes, für den, eben so wie in älterer Zeit die Freiheitskriege der Niederländer, in unseren Tagen die Kämpfe der Schleswig-Holsteiner glänzendes Zeugniß ablegen.
Die Holländer und Belgier dürfen sich der freiesten Verfassungen in ganz Europa rühmen. Aehnlich beziehungsvoll sind die Bewohner Ostpreußens und der nördlichen Hälfte der Rheinprovinz, also gerade desjenigen Theils, der noch mit in die große niederdeutsche Ebene hineinreicht, die politisch fortgeschrittensten ganz [795] Preußens. Die an Hannovers Nordseeküste wohnenden Friesen endlich sind der Kern jener Opposition, die weder an eine Dauer des „Welfenreiches“ bis an das Ende der Tage glauben, noch sich, außer für die deutsche, für eine hannöver’sche Nationalität erwärmen will. Und selbst in Pommern und Mecklenburg regt sich in neuester Zeit wieder jener zähe und von seinem Rechtsbewußtsein getragene Widerstandsgeist gegen die Uebergriffe von Junkern und Pfaffen, der dereinst die zur Hansa gehörigen Städte dieser Lande auszeichnete.
Aber das Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit aller Niederdeutschen reicht noch weiter als bis zu den Zeiten der Hansa zurück. Schon Civilis, der kühne Heerführer der heidnischen Vorfahren der heutigen Niederländer, der Bataver, forderte, als er sich gegen die Römer empörte, die Seinen zum Bündniß mit Deutschland auf, indem er sie darauf hinwies, daß die Deutschen ihre „Blutsverwandten“ seien. Das Bewußtsein dieser nationalen Zusammengehörigkeit tritt auch in späteren Epochen mannigfach hervor. Im Mittelalter standen die Niederlande, von verschiedenen Herzögen und Grafen beherrscht, unter der Oberlehnsherrlichkeit der deutschen Kaiser, später bildeten sie sogar einen der zehn Kreise des deutschen Reiches. Und neben einer solchen äußeren wuchs auch die tiefste innerste Gemeinschaft zwischen Niederländern und Deutschen. Dies lehrt am überzeugendsten die deutsche Reformation. Ihr unwiderstehliches Eindringen in die Herzen und Gemüther der ihren deutschen Nachbarn gleichgearteten Niederländer gab den ersten Anlaß zum Abfall derselben von dem finster katholischen Spanien. Und hier wird es nun schon interessant für den Punkt, von dem wir ausgingen, für das germanische Element in Belgien, daß es gerade die vlämischen Provinzen der Niederlande waren, in denen die Bewegung zuerst und am gewaltsamsten aufloderte. Wenn auch Belgien wieder katholisirt wurde, so lebt doch auch heute noch in seinen Bewohnern der alte germanisch-protestantische Geist der Freiheit fort und liefert in den Brüsseler Kammern den Ultramontanen seine Schlachten. –
Auch in der Kunst gingen Niederländer und Deutsche von jeher Hand in Hand. Der Vater der gesammten Kunstentwicklung in den Niederlanden, Johann van Eyck, ist im Limburg’schen, also dem Theile Hollands geboren, der heute noch zu Deutschland gehört, und empfing seine erste Anregung durch die altdeutsche Malerschule im benachbarten „heiligen“ Köln. Nach den Freiheitskriegen spaltete sich die niederländische Schule bekanntermaßen in die nördliche holländische und die südliche flandrische. Während der bedeutendste Meister der ersteren, Rembrandt vom Rhein, am vaterländischsten unserer Ströme geboren wurde, sollte auch der hervorragendste Meister der flandrischen Schule, Peter Paul Rubens, Deutschland angehören. Er sowohl wie der herrlichste Held der Freiheitskriege der Niederländer, Wilhelm von Oranien, stammen aus dem kleinen Ländchen Nassau.
Wie in der Malerei die Niederländer von Deutschland her die erste Anregung empfingen, so sollten in der Tonkunst die Deutschen umgekehrt bei den Niederländern in die Schule gehen. Schon im neunten Jahrhundert begegnen wir in dem vlämischen Kloster St. Amand einem Mönche Hukbald, der den Versuch wagt, Gesang mit mehreren Stimmen zu begleiten. Doch erst mit Orlandus Lassus erreicht die niederländische Tonkunst ihre höchste Blüthe. Mit ihm beginnt auch die Einwirkung derselben auf Deutschland und zwar durch den herrlichen thüringischen Meister Ekkard, der des Lassus persönlicher Schüler war. Wir machen noch ganz besonders darauf aufmerksam, daß es hauptsächlich die vlämischen Provinzen waren, in denen jenes selbstständige Leben der Tonkunst begann, das später einen so mächtigen Einfluß auf Deutschland üben sollte. Eine solche Thatsache gewinnt noch an Bedeutung, wenn wir hinzufügen, daß auch in neuester Zeit die Tonkunst die Vlamänder wieder mit ihren deutschen Brüdern verknüpfen sollte.
Als es nämlich französischen Ränken in Verbindung mit der Julirevolution gelungen war, die vlämischen Provinzen von Holland zu trennen, hoffte die ländergierige und herrschsüchtige französische Nation, sowie sie auf ähnlichen Umwegen uns Deutschen Elsaß und Lothringen entrissen, bereits auch den ersten Schritt zur Einverleibung Belgiens in Frankreich gethan zu haben. Die wallonischen und französischen Elemente der belgischen Bevölkerung machten jedoch ihr durch Frankreich erlangtes Uebergewicht bald in einer Weise geltend, welche die Vlamänder, die die Majorität der Einwohner bilden, erst stutzen ließ und endlich zum Widerstande trieb. Sie war vielleicht die erste Ursache, daß die Vlamänder sich wieder ihrer deutschen Abstammung erinnerten, und in dem Bewußtsein ihrer geistigen Zusammengehörigkeit mit einer Nation von fast fünfzig Millionen die moralische Kraft zu jenem herzerhebenden Aufschwunge fanden, der bereits vor mehr als fünfzehn Jahren anhub und jetzt beinahe schon das große Ziel, den vlämischen Stamm für immer vor Französirung sicher zu stellen, erreicht hat. Und hierzu hat nun eben auch die Tonkunst abermals mit beigetragen.
Wir haben die nationale Bedeutung der Zusammenkünfte Tausender von Männern ein und derselben Abstammung an dem Frankfurter Schützenfeste und den deutschen Turnerfesten zu erkennen Gelegenheit gehabt. Aehnlich wirken seit einer Reihe von Jahren Musikfeste, bei welchen sich vlämische und deutsche Männer die Hände schütteln und die ihre politische Bedeutung schon durch ihren Namen „Deutsch-vlämische Männergesangfeste“ bekunden. Das erste in größerem Maßstabe gefeierte fand in Köln noch unter Felix Mendelsohn’s Direction statt; nach diesem glänzte vor allen Festen das zu Gent. Der ganze Ort, mit seinen ehrwürdigen, alterthümlichen Gebäuden und blühenden modernen Vorstädten, halte sich mit Fahnen und Blumen bedeckt, an seinen Fenstern standen schöne Frauen und Jungfrauen, und eine festlich durch die Straßen wogende Volksmenge harrte der Ankunft der deutschen Brüder. Der geschmückte Dampfzug, der die Ersehnten endlich brachte, wurde von den vlämischen Sängerbünden mit endlosem Jubel empfangen und unter dem Vorantritt rauschender Musikchöre wie im Triumph durch die Stadt nach der Sängerhalle geleitet, wo aus dem Herzen dringende Ansprachen, die die Blutsverwandschaft der Vlamänder und Deutschen betonten, mit dem Vortrage deutscher und vlämischer Lieder wechselten.
Den Sängerfesten folgten bald jene auch aus Deutschland zahlreich beschickten vlämischen Congresse, zu deren einem, wie wir Eingangs dieser Zeilen erzählten, der alte Arndt kurz vor seinem Tode eine so glänzende Einladung erhielt. Bei der großartigsten dieser Versammlungen, die in Antwerpen tagte, ward ein seitdem bei den Vlamen Nationallied gewordenes Gedicht vertheilt, dessen Namen, aus dem Vlämischen in’s Deutsche übersetzt, wörtlich lautet: „Das große deutsche Vaterland!“ – In Brüssel ward sogar unter dem Namen „der Pangermane“ ein Journal begründet, dessen Ausgabe ausschließlich in der Wahrung vlämisch-deutscher Interessen besteht. Die vlämische Literatur war schon früher erwacht und hatte, wie die Malerei in de Kayser, in Hendrick Conscience einen glänzenden Führer gefunden. Und als 1859 in Belgiens Hauptstadt eine Ausstellung von Cartons deutscher Maler stattfand, erschien in feierlichem und zahlreichem Zuge eine Künstler-Deputation aus Gent und legte bei den apokalyptischen Reitern des Altmeisters Cornelius einen Lorbeerkranz nieder, dessen golddurchwirktes Band die Inschrift trug: „Het gentsche Kunstgenootschap aen hunne duitsche Kunstbroeders.“
Wichtiger aber als dies Alles ist die Stellung, die die vlämische Bevölkerung Belgiens seit dem Beginn der nationalen Bewegung auf politischem Gebiete eingenommen. Die Vlamen haben es durch ihre entschiedene Haltung dahin gebracht, daß ihrer Sprache eine weit gerechtere Berücksichtigung zu Theil ward, als dies früher unter vorwaltend französischen Einflüssen geschah. Die trauten Mutterlaute ertönen seitdem nicht nur allein im häuslichen und Familienkreise, wo sie niemals verdrängt wurden, sondern gelangen auch in den verschiedensten Gebieten des öffentlichen Lebens zu der ihnen gebührenden Geltung. Ja, es ist so weit gekommen, daß eine Regierung mit französischen Tendenzen in Belgien gegenwärtig unmöglich sein würde. Wir führen hierfür nur ein Beispiel an.
Als der französische General Espinasse bei einer vor drei Jahren in Lille gehaltenen Festrede die Worte aussprach: „Ich hoffe, daß Lille bald aufhören wird eine Grenzfestung zu sein,“ antworteten ihm die Belgier durch die Befestigung von Antwerpen, unbekümmert um den Chorus gereizter und drohender Stimmen, in den die französische Presse hierüber ausbrach. –
Man könnte mit Recht fragen, warum die Holländer, die uns in allen Beziehungen wenigstens ebenso nahe verwandt sind, wie die Vlamänder, sich bis zum heutigen Tage so viel zurückhaltender und fremder zu ihren deutschen Brüdern gestellt haben, als jene. Die Antwort ist leicht. Es droht den Holländern weder, wie den Vlamen, unmittelbare Gefahr durch einen ländergierigen, übermächtigen Nachbar, da Deutschlands Bestrebungen im Gegensatze [796] zu Frankreich immer nur auf eine Geistesgemeinschaft mit seinen Stammesbrüdern gerichtet sind, noch haben sie ihre Nationalität im eigenen Lande, wie die Vlamen gegen Wallonen und Franzosen, zu behaupten, da ganz Holland von Niederdeutschen bewohnt ist. Dazu kommt noch die Erinnerung an die vielen Verluste und Einbußen, die sie im Laufe der Zeiten erdulden mußten. Die Engländer stürzten ihre Herrschaft zur See, und Frankreich brachte sie um Belgien. Solche Erlebnisse machen ein nicht mehr die Weltgeschicke mitentscheidendes und wenig zahlreiches Volk mißtrauisch und ängstlich und mußten es, indem sie es seine herrliche, ruhmreiche Geschichte unter einem falschen Gesichtspunkte auffassen ließen, zu einem kalten, vornehmen Zurückziehen auf sich selber veranlassen. Doch haben sich auch bei den Holländern in letzter Zeit die ersten Merkmale einer tieferen Erkenntniß ihres Verhältnisses zu ihren deutschen und vlämischen Brüdern kund gethan. Bei der Eröffnung der Eisenbahn zwischen Köln und Amsterdam sprachen die in der Metropole des Rheinlandes versammelten holländischen Festgäste in warmer, begeisterter Rede das Bewußtsein ihrer inneren Zusammengehörigkeit mit Deutschland aus. Als wenige Tage später die nach Amsterdam geladenen Deutschen in großer Anzahl anlangten, empfingen die Holländer ihre Gäste auf dem Bahnhöfe mit Arndt’s „Was ist des Deutschen Vaterland?“ –
Hoffen wir denn, daß das in dem Arndt’schen Liede enthaltene schöne Wort, Deutschland solle reichen, „so weit die deutsche Zunge klingt und Gott im Himmel Lieder singt,“ in den Herzen und Gemüthern unserer vlämischen und holländischen Bruder zur Wahrheit werde. Dann dürften sie dereinst neben den tausendfachen äußeren auch die tiefen inneren Beziehungen mit Deutschland erkennen. Ist es nicht bezeichnend für die letzteren, daß gerade unsere beiden größten Dichter die Niederländer verherrlichen? Nie sind sie wahrer und rührender in ihrer Vaterlandsliebe, Treue und Tüchtigkeit dargestellt worden, als in Goethe’s Egmont. Nur das verwandte Herz kann in so bewegter Weise das Bruderherz schildern. Und wie schwärmerisch begeistert spricht Schiller durch seinen Posa oder in seiner Geschichte des Abfalls der Niederlande von unseren vlämischen und holländischen Brüdern! Möchten die Niederländer darum den Schweizern in der Anerkennung des großen Dichters nacheifern, der die Befreiung zweier uns so nahe verwandter Völker in flammender Schilderung der Nachwelt überlieferte.
Des alten Arndt letzter Wunsch ging zu Euch, Ihr theuern vlämischen Bruder. Das Geschick hat ihm denselben nicht erfüllt. So kommt denn zu uns an dem nicht mehr fernen Tage, da des greisen Helden Standbild am linken Ufer des Rheins sich enthüllen wird, und macht durch Eure Gegenwart des unvergeßlichen Mannes Wort in neuer und herrlicher Wese wahr: „Der Rhein Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze!“