Erstes Kapitel Entstehung der Arten (1860)
von Charles Darwin, übersetzt von Heinrich Georg Bronn
Drittes Kapitel
[50]
Zweites Kapitel.


Abänderung im Natur-Zustande.


Variabilität. Individuelle Verschiedenheiten. Zweifelhafte Arten. Weit verbreitete, sehr zerstreute und gemeine Arten variiren am meisten. Arten grössrer Sippen in einer Gegend beisammen variiren mehr, als die der kleinen Sippen. Viele Arten der grossen Sippen gleichen den Varietäten darin, dass sie sehr nahe aber ungleich mit einander verwandt sind und beschrankte Verbreitungs-Bezirke haben.

     Ehe wir von den Prinzipien, zu welchen wir im vorigen Kapitel gelangten, Anwendung auf die organischen Wesen im Natur-Zustande machen, müssen wir kürzlich untersuchen, in wieferne diese letzten veränderlich sind oder nicht. Um diesen Gegenstand angemessen zu behandeln, müsste ich ein langes Verzeichniss trockner Thatsachen aufstellen; doch will ich diese für mein künftiges Werk versparen. Auch will ich nicht die verschiedenen Definitionen erörtern, welche man von dem Worte »Species« gegeben hat. Keine derselben hat bis jetzt alle Naturforscher befriedigt. Gewöhnlich schliesst die Definition ein unbekanntes Element von einem besondren Schöpfungs-Akte ein. Der Ausdruck »Varietät« ist eben so schwer zu definiren; gemeinschaftliche Abstammung ist meistens mit einbedungen, obwohl so selten erweislich. Auch hat man von Monstrositäten gesprochen, die aber stufenweise in die Varietäten übergehen. Unter einer »Monstrosität« versteht man nach meiner Meinung irgend eine beträchtliche Abweichung der Struktur in einem einzelnen Theile, welche der Art entweder nachtheilig oder doch nicht nützlich ist und sich gewöhnlich nicht vererbt. Einige Schriftsteller gebrauchen noch den Ausdruck »Variation« in einem technischen Sinne, um Abänderungen durch die unmittelbare Einwirkung äussrer Lebens-Bedingungen zu bezeichnen, und die Variationen dieser Art gelten nicht für erblich. [51] Doch, wer kann behaupten, dass die zwergartige Beschaffenheit der Konchylien im Brackwasser des Baltischen Meeres, oder die verringerte Grösse der Pflanzen auf den Höhen der Alpen, oder der dichtere Pelz eines Thieres in höheren Breiten nicht auf wenigstens einige Generationen vererblich seye? und in diesem Falle würde man, glaube ich. die Form eine »Varietät« nennen.

     Dagegen gibt es manche geringe Verschiedenheiten, welche man als individuelle bezeichnen kann, da man von ihnen weiss, dass sie oft unter den Abkömmlingen von einerlei Ältern vorkommen, oder unter solchen die wenigstens dafür gelten, weil sie zur nämlichen Art gehören und auf begrenztem Räume nahe beisammen wohnen. Niemand unterstellt, dass alle Individuen einer Art genau nach demselben Model gebildet seyen. Diese individuellen Verschiedenheiten sind nun gerade sehr wichtig für uns, weil sie der natürlichen Züchtung Stoff zur Häutung liefern, wie der Mensch in seinen kultivirten Rassen individuelle Verschiedenheiten in gegebener Richtung zusammenhäuft. Diese individuellen Verschiedenheiten betreffen in der Regel nur die in den Augen des Naturforschers unwesentlichen Theile; ich könnte jedoch aus einer langen Liste von Thatsachen nachweisen, dass auch Theile, die man aus dem physiologischen wie aus dem klassifikatorischen Gesichtspunkte als wesentliche bezeichnen muss, zuweilen bei den Individuen von einerlei Art variiren. Ich bin überzeugt, dass die erfahrensten Naturforscher erstaunt seyn würden über die Menge von Fällen möglicher Abänderungen sogar in wichtigen Theilen des Körpers, die ich im Laufe der Jahre nach guten Gewährsmännern zusammengetragen habe. Man muss sich aber auch dabei noch erinnern, dass Systematiker nicht erfreut sind Veränderlichkeit in wichtigen Charakteren zu entdecken, und dass es nicht viele Leute gibt, die ein Vergnügen daran fänden, innre wichtige Organe sorgfältig zu untersuchen und in vielen Exemplaren einer und der nämlichen Art mit einander zu vergleichen. So hätte ich nimmer erwartet, dass die Verzweigungen des Hauptnerven dicht am grossen Zentralnervenknoten eines Insektes in der nämliche Species abändern könne, sondern hätte vielmehr gedacht, Veränderungen dieser Art konnten nur langsam [52] und stufenweise eintreten. Und doch hat Mr. Lubbock kürzlich an Coccus einen Grad von Veränderlichkeit an diesen Hauptnerven nachgewiesen, welcher zumeist an die unregelmässige Verzweigung eines Baumstamms erinnert. Ebenso hat dieser ausgezeichnete Naturforscher ganz kürzlich gezeigt, dass die Muskeln in den Larven gewisser Insekten von Gleichförmigkeit weit entfernt sind. Die Schriftsteller bewegen sich oft in einem Zirkelschluss, wenn sie behaupten, dass wichtige Organe nicht variiren; denn dieselben Schriftsteller zählen praktisch diejenigen Organe zu den wichtigen (wie einige wenige ehrlich genug sind zu gestehen), welche nicht variiren, und unter dieser Voraussetzung kann dann allerdings niemals ein Beispiel von einem variirenden wichtigen Organe angeführt werden; aber von einem andern Gesichtspunkte aus lassen sich deren viele aufzählen.

     Mit den individuellen Verschiedenheiten steht noch ein andrer Punkt in Verbindung, der mir sehr verwirrend zu seyn scheint; ich will nämlich von den Sippen reden, die man zuweilen »proteische« oder »polymorphe« genannt hat, weil deren Arten ein ungeordnetes Maass von Veränderlichkeit zeigen, so dass kaum zwei Naturforscher darüber einig werden können, welche Formen als Arten und welche als Varietäten zu betrachten seyen. Man kann Rubus, Rosa, Hieracium unter den Pflanzen, mehre Insekten- und Brachiopoden- Sippen unter den Thieren als Beispiele anführen. In den meisten dieser polymorphen Sippen haben einige Arten feste und bestimmte Charaktere. Sippen, welche in einer Gegend polymorph sind, scheinen es mit einigen wenigen Ausnahmen auch in andern Gegenden zu seyn und, nach den Brachiopoden zu urtheilen, in früheren Zeiten gewesen zu seyn. Diese Thatsachen nun scheinen in soferne geeignet Verwirrung zu bewirken, als sie zeigen, dass diese Art von Veränderlichkeit unabhängig von den Lebens-Bedingungen ist. Ich bin zu vermuthen geneigt, dass wir in diesen polymorphen Sippen Veränderlichkeit nur in solchen Struktur-Verhältnissen begegnen, welche der Art weder nützlich noch schädlich sind und daher bei der natürlichen Züchtung nicht berücksichtigt und befestigt worden sind, wie nachher erläutert werden soll. [53]

     Diejenigen Formen, welche zwar einen schon etwas mehr entwickelten Art-Charakter besitzen, aber andren Formen so ähnlich oder durch Mittelstufen so enge verkettet sind, dass die Naturforscher sie nicht als besondre Arten aufführen wollen, sind in mehren Beziehungen die wichtigsten für uns. Wir haben allen Grund zu glauben, dass viele von diesen zweifelhaften und und eng-verwandten Formen ihre Charaktere in ihrer Heimath- Gegend lange Zeit beharrlich behauptet haben, lang genug um sie für gute und ächte Species zu halten. Praktisch genommen pflegt ein Naturforscher, welcher zwei Formen durch Zwischenglieder mit einander verbinden kann, die eine als eine Varietät der anderen gewöhnlichern oder zuerst beschriebenen zu behandeln. Zuweilen treten aber sehr schwierige Fälle, die ich hier nicht aufzählen will, bei Entscheidung der Frage ein, ob eine Form als Varietät der anderen anzusehen seye oder nicht, sogar wenn beide durch Zwischenglieder enge miteinander verkettet sind; auch die gewöhnliche Annahme, dass diese Zwischenglieder Bastarde seyen, will nicht immer genügen um die Schwierigkeit zu beseitigen. In sehr vielen Fällen jedoch wird eine Form als eine Varietät der andern erklärt, nicht weil die Zwischenglieder wirklich gefunden worden, sondern weil Analogie den Beobachter verleitet anzunehmen, entweder dass sie noch irgendwo vorhanden sind, oder dass sie früher vorhanden gewesen sind; und damit ist dann Zweifeln und Vermuthungen eine weite Thüre geöffnet.

     Wenn es sich daher um die Frage handelt, ob eine Form als Art oder als Varietät zu bestimmen seye, scheint die Meinung der Naturforscher von gesundem Urtheil und reicher Erfahrung der einzige Führer zu bleiben. Gleichwohl können wir in vielen Fällen uns nur auf eine Majorität der Meinungen berufen; denn es lassen sich nur wenige wohl-bezeichnete und wohl-bekannte Varietäten namhaft; machen, die nicht schon bei wenigstens einem oder dem anderen sachkundigen Richter als Spezies gegolten hätte.

     Dass Varietäten von so zweifelhafter Natur keinesweges selten seyen, kann nicht in Abrede gestellt werden. Man vergleiche die von verschiedenen Botanikern geschriebenen Floren [54] von Grossbritannien, Frankreich oder den Vereinten Staaten mit einander und sehe, was für eine erstaunliche Anzahl von Formen von dem einen Naturforscher als gute Arten und von dem andern als blosse Varietäten angesehen werden. Herr H. C. Watson, welchem ich zur innigsten Erkenntlichkeit für Unterstützung aller Art verbunden bin, hat mir 182 Britische Pflanzen bezeichnet, welche gewöhnlich als Varietäten eingereiht werden , aber auch schon alle von Botanikern für Arten erklärt worden sind: dabei hat er noch manche leichtere aber auch schon von einem oder dem anderen Botaniker als Art aufgenommene Varietät übergangen und einige sehr polymorphe Sippen gänzlich ausser Acht gelassen. Unter Sippen, welche die am meisten polymorphen Formen enthalten, führt Babington 251, Bentham dagegen nur 112 Arten auf, ein Unterschied von 139 zweifelhaften Formen! Unter den Thieren, welche sich zu jeder Paarung vereinigen und sehr ortwechselnd sind, können dergleichen zweifelhafte zwischen Art und Varietät schwankende Formen nicht so leicht in einer Gegend beisammen vorkommen, sind aber in getrennten Gebieten nicht selten. Wie viele dieser Nordamerikanischen und Europäischen Insekten und Vögel sind von dem einen ausgezeichneten Naturforscher als unzweifelhafte Art und von dem anderen als Varietät oder sogenannte klimatische Rasse bezeichnet worden! Als ich vor vielen Jahren die Vögel von den einzelnen Inseln der Galapagos-Gruppe mit einander verglich und Andre sie vergleichen sah, war ich sehr darüber erstaunt, wie gänzlich schwankend und willkührlich der Unterschied zwischen Art und Varietät ist. Auf den Inselchen der kleinen Madeira-Gruppe kommen viele Insekten vor, welche in Wollastons bewundernswürdigem Werke als Varietäten charakterisirt sind, die aber ohne allen Zweifel von vielen Entomologen als besondre Arten aufgestellt werden würden. Selbst Irland besitzt einige wenige jetzt allgemein als Varietäten angesehene Thiere, die aber von einigen Naturforschern für Arten erklärt worden sind. Einige sehr erfahrene Ornithologen betrachten unser Britisches Rothhuhn {Lagopus) nur als eine scharf bezeichnete Rasse der Norwegischen Art, während die meisten solche für eine unzweifelhaft eigentümliche [55] Art Grossbritanniens erklären. Eine weite Entfernung zwischen der Heimath zweier zweifelhaften Formen bestimmt viele Naturforscher dieselben für zwei Arten zu erklären; aber nun fragt es sich, welche Entfernung dazu genüge? Wenn die zwischen Europa und Amerika gross genug ist, kann dann auch jene zwischen erstem Kontinente und den Azoren oder Madeira oder den Canarischen Inseln oder Irland genügen? Man muss zugeben, dass viele von hoch-befähigten Richtern als Varietäten betrachtete Formen so vollkommen den Charakter von Arten besitzen, dass sie von andern hoch-befähigten Beurtheilern für gute ächte Spezies erklärt werden. Aber es ist vergebene Arbeit die Frage zu erörtern, ob es Arten oder Varietäten seyen, so lange noch keine Definition von dem Begriffe dieser zwei Ausdrücke allgemein angenommen ist.

     Viele dieser stark ausgeprägten Varietäten oder zweifelhaften Arten verdienten wohl eine nähere Beachtung, weil man vielerlei interessante Beweis-Mittel aus ihrer geographischen Verbreitung, analogen Variationen, Bastard-Bildungen u. s. w. herbeigeholt hat, um die ihnen gebührende Rangstufe festzustellen. Ich will hier nur ein Beispiel anführen, das von den zwei Formen der Schlüsselblumen, Primula veris und Pr. elatior. Diese zwei Pflanzen weichen bedeutend im Aussehen von einander ab; jede hat einen anderen Geruch und Geschmack; sie blühen zu etwas verschiedener Zeit und wachsen an etwas verschiedenen Standorten; sie gehen an Bergen bis in verschiedene Höhen hinauf und haben eine verschiedene geographische Verbreitung; endlich lassen sie sich nach den vielen in den letzten Jahren von einem äusserst sorgfältigen Beobachter, Gärtner, angestellten Versuchen nur sehr schwierig mit einander kreutzen. Man kann also schwerlich bessre Beweise dafür wünschen, dass beide Formen verschiedene Arten bilden. Auf der andern Seite aber werden sie durch zahlreiche Zwischenglieder mit einander verkettet, und es ist sehr zweifelhaft, dass Solches Bastarde sind; Diess ist, wie mir scheint, ein überwiegendes Maass von Experimental-Beweis dafür, dass sie von gemeinsamen Ältern abstammen und mithin nur als Varietäten zu betrachten sind. [56]

     Sorgfältige Forschung wird in den meisten Fällen die Naturforscher zur Verständigung darüber bringen, wofür die zweifelhaften Formen zu halten sind. Doch müssen wir bekennen, dass es gerade in den am besten bekannten Gegenden die meisten zweifelhaften Formen gibt. Ich war über die Thatsache erstaunt, dass von solchen Thieren und Pflanzen, welche dem Menschen in ihrem Natur-Zustande sehr nützlich sind oder aus irgend einer anderen Ursache seine besondre Aufmerksamkeit erregen, fast überall Varietäten angeführt werden. Diese Varietäten werden jedoch oft von einem oder dem andern Autor als Arten bezeichnet. Wie sorgfältig ist die gemeine Eiche studirt worden! Nun macht aber ein Deutscher Autor über ein Dutzend Arten aus den Formen, welche bis jetzt stets als Varietäten angesehen wurden; und in diesem Lande können unter den höchsten botanischen Gewährsmännern und vorzüglichsten Praktikern welche sowohl zu Gunsten der Meinung, dass die Trauben- und die Stiel-Eiche gut unterschiedene Arten seyen, wie auch andre für die gegentheilige Ansicht nachgewiesen werden.

     Wenn ein junger Naturforscher eine ihm ganz unbekannte Gruppe von Organismen zu studiren beginnt, so macht ihn anfangs die Frage verwirrt, was für Unterschiede die Arten bezeichnen, und welche von ihnen nur Varietäten angehören; denn er weiss noch nichts von der Art und der Grösse der Abänderungen, deren die Gruppe fähig ist; und Diess beweiset eben wieder, wie allgemein wenigstens einige Variation ist. Wenn er aber seine Aufmerksamkeit auf eine Klasse in einer Gegend beschränkt, so wird er bald darüber im Klaren seyn, wofür er diese zweifelhaften Formen anzuschlagen habe. Er wird im Allgemeinen geneigt seyn, viele Arten zu machen, weil ihn, so wie die vorhin erwähnten Tauben- oder Hühner - Freunde das Maas der Abänderung in den seither von ihm studirten Formen betroffen macht, und weil er noch wenig allgemeine Kenntniss von analoger Abänderung in andern Gruppen und andern Gegenden zur Berichtigung jener zuerst empfangenen Eindrücke besitzt. Dehnt er nun den Kreis seiner Beobachtung weiter aus, so wird er noch auf andre Schwierigkeiten stossen; er wird einer grossen [57] Anzahl nahe verwandter Formen begegnen. Erweitern sich seine Erfahrungen noch mehr, so wird er endlich in seinem eignen Kopfe darüber einig werden, was Varietät und was Spezies zu nennen seye; aber er wird zu diesem Ziele nur gelangen, indem er viel Veränderlichkeit zugibt, und er wird die Richtigkeit seiner Annahme von andern Naturforschern oft in Zweifel gezogen sehen. Wenn er nun überdiess verwandte Formen aus andern nicht unmittelbar angrenzenden Ländern zu studiren Gelegenheit erhält, in welchem Falle er kaum hoffen darf die Mittelglieder zwischen diesen zweifelhaften Formen zu finden, so wird er sich fast ganz auf Analogie verlassen müssen, und seine Schwierigkeiten werden sich bedeutend steigern.

     Eine bestimmte Grenzlinie ist bis jetzt sicherlich nicht gezogen worden, weder zwischen Arten und Unterarten, d. i. solchen Formen, welche nach der Meinung einiger Naturforscher den Rang einer Spezies nahezu aber doch nicht gänzlich erreichen, noch zwischen Unterarten und ausgezeichneten Varietäten, noch endlich zwischen den geringeren Varietäten und individuellen Verschiedenheiten. Diese Verschiedenheiten greifen, in eine Reihe geordnet, unmerklich in einander, und die Reihe weckt die Vorstellung von einem wirklichen Übergang.

     Daher werden die individuellen Abweichungen, welche für den Systematiker nur wenig Werth haben, für uns von grosser Wichtigkeit, weil sie die erste Stufe zu denjenigen geringeren Varietäten bilden, welche man in naturgeschichtlichen Werken der Erwähnung werth zu halten pflegt. Ich sehe ferner diejenigen Abänderungen, welche etwas erheblicher und beständiger sind, als die nächste Stufe an, welche uns zu den mehr auffälligen und bleibenderen Varietäten führt, wie uns diese zu den Subspezies und endlich Spezies leiten. Der Übergang von einer dieser Stufen in die andre nächst-höhere mag in einigen Fällen lediglich von der lang-währenden Einwirkung verschiedener natürlicher Bedingungen in zwei verschiedenen Gegenden herrühren; doch habe ich nicht viel Vertrauen zu dieser Ansicht und schreibe den Übergang von einer leichten Abänderung zu einer wesentlicher verschiedenen Varietät der Wirkung der natürlichen [58] Züchtung mittelst Anhäufung individueller Abweichungen der Struktur in gewisser steter Richtung zu, wie nachher näher auseinandergesetzt werden soll. Ich glaube daher, dass man eine gut ausgeprägte Varietät mit Recht eine beginnende Spezies nennen kann; ob sich aber dieser Glaube rechtfertigen lasse, muss aus dem allgemeinen Gewichte der in diesem Werke beigebrachten Thatsachen und Ansichten ermessen werden.

     Es ist nicht nöthig zu unterstellen, dass alle Varietäten oder beginnenden Spezies sich wirklich zum Range einer Art erheben. Sie können in diesem Beginnungs-Zustande wieder erlöschen; oder sie können als solche Varietäten lange Zeiträume durchlaufen, wie Wollaston von den Varietäten gewisser Landschnecken-Arten auf Madeira gezeigt[1]. Gedeihet eine Varietät derartig, dass sie die älterliehe Species in Zahl übertrifft, so sieht man sie für die Art und die Art für die Varietät an: sie kann die älterliche Art aber allmählich auch ganz ersetzen und überleben; oder endlich beide können wie unabhängige Arten nebeneinander fortbestehen. Doch, wir werden nachher auf diesen Gegenstand zurückkommen.

     Aus diesen Bemerkungen geht hervor, dass ich den Kunstausdruck »Species« als einen nur willkürlich und der Bequemlichkeit halber auf eine Reihe von einander sehr ähnlichen Individuen angewendeten betrachte, und dass er von dem Kunstausdrucke »Varietät« nicht wesentlich, sondern nur insofern verschieden ist, als dieser auf minder abweichende und noch mehr schwankende Formen Anwendung findet. Und eben so ist die Unterscheidung zwischen »Varietät« und »individueller Abänderung« nur eine Sache der Willkür und Bequemlichkeit.

     Durch theoretische Betrachtungen geleitet habe ich geglaubt, dass sich einige interessante Ergebnisse in Bezug auf die Natur und die Beziehungen der am meisten variirenden Arten darbieten würden, wenn man alle Varietäten aus verschiedenen wohlbearbeiteten [59] Floren tabellarisch zusammenstellte. Anfangs schien mir Diess eine einfache Sache zu seyn. Aber Herr H. C. Watson, dem ich für seine werthvollen Dienste und Hilfe in dieser Beziehung sehr dankbar bin, überzeugte mich bald, dass Diess mit vielen Schwierigkeiten verknüpft seye, was späterhin Dr. Hooker in noch bestimmterer Weise bestätigte; Ich behalte mir daher für mein künftiges Werk die Erörterung dieser Schwierigkeiten und die Tabellen über die Zahlen-Verhältnisse der variirenden Spezies vor. Dr. Hooker erlaubt mir noch beizufügen, dass, nachdem er meine handschriftlichen Aufzeichnungen und Tabellen sorgfältig durchgelesen, er die folgenden Feststellungen für vollkommen wohl begründet halte. Der ganze Gegenstand aber, welcher hier nothwendig nur sehr kurz abgehandelt werden muss, ist ziemlich verwickelt, zumal Bezugnahmen auf das »Ringen um Existenz«, auf die »Divergenz des Charakters« und andre erst später zu erörternde Fragen nicht vermieden werden können.

     Alphons DeCandolle u. a. Botaniker haben gezeigt, dass solche Pflanzen, die sehr weit ausgedehnte Verbreitungs-Bezirke besitzen, gewöhnlich auch Varietäten darbieten, wie sich ohnediess schon erwarten lässt, weil sie verschiedenen physikalischen Einflüssen ausgesetzt sind und mit anderen Gruppen von Organismen in Mitbewerbung kommen, was, wie sich nachher ergeben soll, von noch viel größerer Wichtigkeit ist. Meine Tabellen zeigen aber ferner, dass auch in einem beschränkten Gebiete die gemeinsten, d. h. die in den zahlreichsten Individuen vorkommenden Arten und jene, welche innerhalb ihrer eignen Gegend am meisten; verbreitet sind (was von »weiter Verbreitung« und in gewisser Weise von »Gemeinseyn« wohl zu unterscheiden), oft zur Entstehung von hinreichend bezeichneten Varietäten Veranlassung geben, um sie in botanischen Werken aufgezählt zu finden. Es sind mithin die am üppigsten gedeihenden oder, wie man sie nennen kann, dominirenden Arten, nämlich die am weitesten über die Erd-Oberfläche ausgedehnten, die in ihrer eignen Gegend am allgemeist verbreiteten, es sind die an Individuen reichsten Arten, welche am öftesten wohl ausgeprägte [60] Varietäten oder, wie man sie nennen möchte, Beginnende Species liefern. Und Diess ist vielleicht vorauszusehen gewesen; denn so wie Varietäten, um einigermaassen bleibend zu werden, nothwendig mit andern Bewohnern der Gegend zu kämpfen haben, so werden auch die bereits herrschend gewordenen Arten am meisten geeignet seyn Nachkommen zu liefern, welche, mit einigen leichten Veränderungen, diejenigen Vorzüge noch weiter zu vererben im Stande sind, wodurch ihre Ältern über ihre Landesgenossen das Übergewicht errungen haben.

     Wenn man die eine Gegend bewohnenden und in einer Flora derselben beschriebenen Pflanzen in zwei gleiche Haufen theilt, wovon der eine alle Arten aus grossen, und der andre alle aus kleinen Sippen enthält, so wird man eine etwas grössere Anzahl sehr gemeiner und sehr verbreiteter oder herrschender Arten auf Seiten der grossen Sippen finden. Auch Diess hat vorausgesehen werden können: denn schon die einfache Thatsache, dass viele Arten einer und der nämlichen Sippe eine Gegend bewohnen, zeigt etwas in der organischen oder unorganischen Beschaffenheit der Gegend für die Sippe Günstiges an, daher man erwarten durfte, in den grösseren oder viele Arten enthaltenden Sippen auch eine verhältnissmässig grosse Anzahl herrschender Arten zu finden. Aber es gibt so viele Ursachen, welche dieses Ergebniss zu verhüllen streben, dass ich erstaunt bin, in meinen Tabellen doch noch ein kleines Übergewicht auf Seiten der grossen Sippen zu finden. Ich will hier nur zwei Ursachen dieser Verhüllungen anführen. Süsswasser- und Salz-Pflanzen haben gewöhnlich weit ausgedehnte Bezirke und eine starke Verbreitung; Diess scheint aber mit der Natur ihrer Standorte zusammenzuhängen und hat wenig oder gar keine Beziehung zu dem Arten-Reichthum der Sippen, wozu sie gehören. Ebenso sind Pflanzen von unvollkommenen Organisations-Stufen gewöhnlich viel weiter als die hoch organisirten verbreitet und auch hier besteht keine nahe Beziehung zur Grösse der Sippen. Die Ursache dieser letzten Erscheinung soll in unseren Kapiteln über die geographische Verbreitung erörtert werden.

     Indem ich die Arten nur als stark ausgeprägte und wohl [61] umschriebene Varietäten betrachtete, war ich im Stande vorauszusagen, dass die Arten der grösseren Sippen einer Gegend öfter, als die der kleineren, Varietäten darbieten würden; denn wo immer sich viele einander nahe verwandte Arten (die der grösseren Sippen) gebildet haben, werden sich im Allgemeinen auch viele Varietäten derselben oder beginnende Arten zu bilden geneigt seyn, — wie da, wo viele grosse Bäume wachsen, man viele junge Bäumchen aufkommen zu sehen erwarten darf. Wo viele Arten einer Sippe durch Variation entstanden sind, da sind die Umstände günstig für Variation gewesen und möchte man mithin auch erwarten, sie noch jetzt günstig zu finden. Wenn wir dagegen jede Art als einen besonderen Akt der Schöpfung betrachten, so ist kein Grund einzusehen, weshalb verhältnissmässig mehr Varietäten in einer Arten-reichen Gruppe als in einer solchen mit wenigen Arten vorkommen sollten.

     Um die Richtigkeit dieser Voraussagung zu beweisen, habe ich die Pflanzen-Arten in zwölf verschiedenen Ländern und die Käfer-Arten in zwei verschiedenen Gebieten in je zwei einander fast gleiche Haufen getheilt, die Arten der grossen Sippen auf der einen und die der kleinen auf der andern Seite, und es hat sich beharrlich überall dasselbe Ergebniss gezeigt, dass eine verhältnissmässig grössre Anzahl von Arten bei den grossen Sippen Varietäten haben als bei den kleinen. Überdiess bieten die Arten der grossen Sippen, welche überhaupt Varietäten haben, eine verhältnissmässig grössere Varietäten-Zahl dar, als die der kleineren. Zu diesen beiden Ergebnissen gelangt man auch, wenn man die Eintheilung anders macht und alle Sippen mit nur 1—4 Arten ganz aus den Tabellen ausschliesst. Diese Thatsachen sind von klarer Bedeutung für die Ansicht, dass Arten nur streng ausgeprägte und bleibende Varietäten sind) denn wo immer viele Arten in einerlei Sippe gebildet worden sind oder wo, wenn der Ausdruck erlaubt ist, die Arten-Fabrikation thätig betrieben worden ist, müssen wir gewöhnlich diese Fabrikation noch in Thätigkeit finden, zumal wir alle Ursache haben zu glauben, dass das Fabrikations-Verfahren ein sehr langsames seye. Und Diess ist sicherlich der Fall, wenn Varietäten [62] als beginnende Arten zu betrachten; denn meine Tabellen zeigen deutlich ganz allgemein, dass, wo immer viele Arten einer Sippe gebildet worden sind, diese Arten eine den Durchschnitt übersteigende Anzahl von Varietäten oder beginnenden neuen Arten enthalten. Damit soll nicht gesagt werden, dass alle grossen Sippen jetzt sehr variiren und in Vermehrung ihrer Arten-Zahl begriffen sind, oder dass keine kleine Sippe jetzt Varietäten bilde und wachse; denn dieser Fall wäre sehr verderblich für meine Theorie, zumal uns die Geologie klar beweiset, dass kleine Sippen im Laufe der Zeit oft sehr gross geworden, und dass grosse Sippen, nachdem sie ihr Maximum erreicht, wieder zurückgesunken und endlich verschwunden sind. Alles, was hier zu beweisen nöthig ist, beschränkt sich darauf, dass da, wo viele Arten in einer Sippe gebildet worden, auch noch jetzt durchschnittlich viele in Bildung begriffen sind: und Diess ist nachgewiesen.

     Es gibt aber noch andere beachtenswerthe Beziehungen zwischen den Arten grosser Sippen und den aufgeführt werdenden Varietäten derselben. Wir haben gesehen, dass es kein untrügliches Unterscheidungs-Merkmal zwischen Arten und stark ausgeprägten Varietäten gibt; und in jenen Fällen, wo Mittelglieder zwischen zweifelhaften Formen noch nicht gefunden worden, sind die Naturforscher genöthigt, ihre Bestimmungen von der Grösse der Verschiedenheiten zwischen zwei Formen abhängig zu machen, indem sie nach der Analogie urtheilen, ob deren Betrag genüge, um nur eine oder alle beide zum Range von Arten zu erheben. Der Betrag der Verschiedenheit ist mithin ein sehr wichtiges Merkmal bei der Bestimmung, ob zwei Forme» für Arten oder für Varietäten gelten sollen. Nun haben Fries in Bezug auf die Pflanzen und Westwood hinsichtlich der Insekten die Bemerkung gemacht, dass in grossen Sippen der Grad der Verschiedenheit zwischen den Arten oft ausserordentlich klein ist. Ich habe Diess in Zahlen-Durchschnitten zu prüfen gesucht und, so weit meine noch unvollkommenen Ergebnisse reichen, bestätigt gefunden. Ich habe mich desshalb auch bei einigen genauen und erfahrenen Beobachtern befragt und [63] nach Auseinandersetzung der Sache gefunden, dass sie in derselben übereinstimmen. In dieser Hinsicht gleichen demnach die Arten der grossen Sippen den Varietäten mehr, als die Arten der kleinen. Nun kann man die Sache aber auch anders ausdrücken, und sagen, dass in den grösseren Sippen, wo eine den Durchschnitt übersteigende Anzahl von Varietäten oder beginnenden Spezies noch jetz fabricirt worden, viele der bereits fertigen Arten doch bis zu einem gewissen Grade Varietäten gleichen, insofern sie durch einen weniger als gewöhnlich grosses Maass von Verschiedenheit von einander getrennt werden.

     Überdiess stehen die Arten grosser Sippen in derselben Beziehung, wie die Varietäten einer Art zu einander. Kein Naturforscher glaubt, dass alle Arten einer Sippe in gleichem Grade von einander verschieden sind; sie werden daher gewöhnlich noch in Subgenera, in Sektionen oder noch untergeordnetere Gruppen getheilt. Wie Fries bemerkt, sind diese kleinen Arten-Gruppen gewöhnlich wie Satelliten um gewisse andere Arten geschaart. Und was sind Varietäten anders als Formen-Gruppen von ungleicher wechselseitiger Verwandtschaft um gewisse Formen versammelt, um die Stamm-Arten nämlich? Unzweifelhaft ist ein grössrer Unterschied zwischen Arten als zwischen Varietäten; insbesondere ist der Betrag der Verschiedenheit der Varietäten von einander oder von ihren Stamm-Arten kleiner, als der zwischen den Arten derselben Sippe. Wenn wir aber zur Erörterung des Princips, wie ich es nenne, der »Divergenz des Charakters« kommen, so werden wir sehen, wie Diess zu erklären, und wie die geringeren Verschiedenheiten zwischen Varietäten erwachsen zu den grösseren Verschiedenheiten zwischen den Arten.

     Es gibt da noch einen andern Punkt, welcher mir der Beachtung werth scheint. Varietäten haben gewöhnlich eine beschränktere Verbreitung, was schon aus dem Vorigen folgt; denn wäre eine Varietät weiter verbreitet, als ihre angebliche Stamm-Art, so müsste deren Bezeichnung umgekehrt werden. Es ist aber auch Grund vorhanden zu glauben, dass diejenigen Arten, welche sehr nahe mit anderen Arten verwandt sind und [64] insoferne Varietäten gleichen, oft engre Verbreitungs-Grenzen haben. So hat mir z. B. Herr H. C. Watson in dem wohl-gesichteten Londoner Pflanzen-Katalog (vierte Ausgabe) 63 Pflanzen bemerkt, welche als Arten darin aufgeführt sind, die er aber für so nahe mit anderen Arten verwandt hält, dass ihr Rang zweifelhaft wird. Diese 63 gering-werthigen Arten verbreiten sich im Mittel über 6,9 der Provinzen, in welche Watson Grossbritannien eingetheilt hat. Nun sind im nämlichen Kataloge auch 53 anerkannte Varietäten aufgezählt, und diese erstrecken sich über 7,7 Provinzen, während die Arten, wozu diese Varietäten gehören, sich über 14,3 Provinzen ausdehnen. Daher denn die anerkannten Varietäten eine beinahe eben so beschränkte mittle Verbreitung besitzen, als jene nahe verwandten Formen, welche Watson als zweifelhafte Arten bezeichnet hat, die aber von Britischen Botanikern gewöhnlich für gute und ächte Arten genommen werden. Endlich haben dann Varietäten auch die nämlichen allgemeinen Charaktere, wie Species; denn sie können von Arten nicht unterschieden werden, ausser, erstens, durch die Entdeckung von Mittelgliedern, und das Vorkommen solcher Glieder kann den wirklichen Charakter der Formen, welche sie verketten, nicht berühren. — und ausser, zweitens, durch ein gewisses Maass von Verschiedenheit, indem zwei Formen, welche nur sehr wenig von einander abweichen, allgemein nur als Varietäten angesehen werden, wenn auch verbindende Mittelglieder noch nicht entdeckt worden sind; aber dieser Betrag von Verschiedenheit, welcher zur Erhebung zweier Formen zum Arten-Rang nöthig, ist ganz unbestimmt. In Sippen, welche mehr als die mittle Arten-Zahl in einer Gegend haben, zeigen die Arten auch mehr als die Mittelzahl von Varietäten. In grossen Sippen lassen sich die Arten nahe, aber in ungleichem Grade, mit einander verbinden zu kleinen um gewisse Arten geordneten Gruppen. Sehr nahe miteinander verwandte Arten sind von offenbar beschränkter Verbreitung. In all' diesen verschiedenen Beziehungen zeigen die Arten grosser Sippen eine strenge Analogie mit Varietäten. Und man kann diese Analogie'n klar begreifen, wenn Arten einstens nur Varietäten gewesen und aus diesen hervor- [65] gegangen sind; wogegen diese Analogie'n ganz unverständlich seyn würden, wenn jede Spezies von den andern unabhängig erschaffen worden wäre.

     Wir haben nun gesehen, dass es die am besten gedeihende und herrschende Spezies grösserer Sippen ist, die im Durchschnitte genommen am meisten variirt; und Varietäten haben, wie wir hernach finden werden, Neigung in neue und unterschiedene Arten überzugehen. Dadurch neigen auch die grossen Sippen zur Vergrößerung, und in der ganzen Natur streben die Lebens-Formen, welche jetzt herrschend sind, noch immer mehr herrschend zu werden durch Hinterlassung vieler abgeänderter und herrschender Abkömmlinge. Aber durch nachher zu erläuternde Abstufungen streben auch die grösseren Sippen immer mehr im kleine auseinander zu treten. Und so werden die Lebens-Formen auf der ganzen Erde in Gruppen und Untergruppen weiter abgetheilt.


  1. Albers hat dieselbe Beobachtung auf Madeira gemacht, aber eine andre Folgerung daraus gezogen: dass nämlich diese Formen, die während unermesslicher Zeiträume immer dieselben geblieben, nicht in einander übergehen und nicht eine Spezies bilden.     D. Ü.


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