Textdaten
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Autor: Unbekannt
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Titel: Englisches „Hochleben“
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aus: Die Gartenlaube, Heft 10, S. 154–155
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Englisches „Hochleben“.

Die regierenden Classen Englands sind nun größtentheils wieder beisammen in London. Was wollen sie alle in London? Regieren oder wenigstens sich an diesem Geschäfte der tausend Herren des Parlaments möglichst betheiligen. Merkwürdiges Geschäft der obersten englischen „Compagnie“. Die Minister und deren unmittelbare Beamte kriegen allerdings viel Geld und haben außerdem jährlich 70 bis 80 Millionen Pfund[1] – man bedenke, daß dies 500,000,000 Thaler sind – der Staatseinnahme zu placiren; aber die eigentlichen Gesetzgeber des Parlaments – die nun wieder sechs Monate lang fast alle Nächte bis 12, 2, 3, 4 Uhr sitzen, reden, Reden anhören und abstimmen, den Tag über tausenderlei Briefe, Petitionen, Deputationen und Consultationen durchmachen müssen – diese Herren thun dies nicht nur Alles umsonst (nichts von euren 3 Thaler-Diäten, womit das Parlamentsmitglied kaum seinen Stiefelwichser würde befriedigen können), thun dies nicht nur Alles umsonst, sag’ ich, sondern lassen sich’s auch Tausende von Thalern kosten, um sich die gehörige Anzahl von Wählern zu kaufen, nur um in dieses brodlose Geschäft hineinzukommen.

„Wer erklärt mir, Oerindur,
Diesen Zwiespalt der Natur?“

Brodlos ist’s wohl, antwortet Oerindur, aber ein desto besseres Sammel-Geschäft, wobei man die braune Butter aus Bierkrügen trinken könnte, wie jener Hirtenknabe thun wollte, wenn er König wär. Das Parlament ist, wie es der unerschrocken witzige Drummond und später Cobden dem Unterhaus in’s Gesicht bewies, eine Börse, ein Bazar, worin mit Anstellungen, Beförderungen, Connexionen, Concessionen, Monopolen und Privilegien, Pensionen, Titeln, selbst Töchtern gehandelt wird, also gelegentlich auch Heirathsbureau und Hymenfackelhandlung. Dabei handelt es sich um möglichst viele und große Antheile von den 500 Millionen, welche die obersten Zehntausend jährlich aus den Taschen des Volkes zum Wohle des Staats verzehren. Hie und da fällt ein guter Auftrag, ein fettes Amt ab, das seinem Eigenthümer an 25 bis 40,000 Thaler jährlich eintragen kann. Man sieht, daß bei dem brodlosen Geschäft ein bescheidener Mann noch ganz gut auskommen kann, zumal wenn man bedenkt, daß noch eine gute Menge andere Millionen aus indirecten und Lokal- oder Gemeindesteuern im Stellen- und Beförderungsbazar vergeben werden.

In die Geheimnisse des Detailgeschäfts können wir nicht so leicht eindringen. Es sind eben Geheimnisse. Die Betheiligten bilden eine Art Freimaurerthum.

Die obersten Zehntausend haben aber auch noch über fabelhaft große Privatmittel zu verfügen. Etwa zehn Familienhäupter stehen sich auf eine Million Pfund jährlicher Einkünfte, mit dem Herzog von Bedford, Haupt der Russel-Familie, an der Spitze. Zu Gunsten des Decimalsystems nimmt man dann 30 Familien an, die einen Uebergang von der Million bis zu 100,000 Pfund bilden. Die Zahl der Hunderttausendpfünder wird dann mit 100 angesetzt. Es folgen tausend Crösus, die jährlich jeder zwischen 50,000 und 100,000 einnehmen und oft viel mehr ausgeben. Ich selbst hab’ einmal für eine verwittwete Herzogin einige kleine Arbeiten im Gebiete der deutschen Literatur ausgeführt und sie dabei klagen gehört, daß sie sich einschränken müsse und mir nicht so viel bieten könne, als meine Arbeit werth wäre. Sie honorirte zwar überraschend hoch, aber die arme Frau hatte doch geklagt mit ihrem knappen Wittwengehalte von 75,000 Pfund jährlich, einer halben Million jährlich oder guten tausend Thalern täglich. Etwa 2500 Mitglieder der obersten Zehntausend steigen in ihren Einkünften herab bis zu je 20,000 Pfund. Mit ungefähr dieser Summe muß sich Jeder der etwa 6000 Unglücklichen begnügen, welche die Zahl der obersten Gesellschaftsschicht vollmachen.[2]

Natürlich sind dies sehr runde und allgemeine Zahlen, die ich aus einem englischen Buche, wo Alles genauer ausgeführt war, entnommen habe. Man kann sich getrost bedeutende Summen abziehen oder auch noch aufbürden lassen, im Ganzen bleibt’s dasselbe: ungefähre Vorstellung von den ungeheuern Geldmassen, welche durch die obersten Zehntausend fließen. Die Reihen von Palästen, in denen sie um den Hydepark herum wohnen, sind allein viel größer als Berlin. Jeder dieser Paläste mästet ein Dutzend bis zwanzig dienstbare Geister, die sich meist selbst wieder bedienen lassen, und hält sich so und so viel Wagen- und so und so viel Reitpferde. Was mögen sie eigentlich mit diesen vielen Dienstboten und Pferden und Millionen von Pfunden machen? Schulden, ja Schulden. Das ist ihr Hauptgeschäft. Es läßt sich kaum erklären. Aber man bedenke, daß die 10 bis 20 dienstbaren Geister in jedem Hause eine Art von Harpyien bilden, die Alles benaschen, beknabbern, übertheuern, fälschen, verprassen, zum Theil heimlich verkaufen, was ihnen und beiläufig auch der Herrschaft in’s Haus geliefert wird. Vor einiger Zeit stand der Weinkellermeister eines solchen Oberstzehntausendmann’s vor Gericht, dem nachgewiesen ward, daß er durch ein Privatmauseloch im Keller für mehrere Tausend Pfund Wein verkauft hatte. Sie geben auch Bälle und glänzende Gesellschaften, die dienstbaren Geister im unterirdischen [155] Geschoß. Die obere Schicht derselben (Haushalter, Wirthschafterin etc.) essen das Geflügel eben so wenig ohne Speck, wie die Herrschaft oben. Auch kommt ihnen Wein zu und allen eine gute Portion Bier täglich. Und was kosten die seidenen Strümpfe und täglich weißen Handschuhe, Halstücher etc. und der in das Haar der Kutscher und hintenstehenden Lakaien eingekleisterte, außerdem hochbesteuerte Puder!

Man bedenke dies und dann auch, daß die obersten Zehntausend alle ihre ungeheuren Bedürfnisse auf Credit nehmen und daß sie nie gemahnt werden dürfen. Niemand hat dies Gesetz gegeben, aber sie halten’s, als wär’s bei Todesstrafe verboten, irgend Etwas baar zu bezahlen. Baar bezahlen ist gemein. Die obersten Zehntausend und die unmittelbar darunter zu ihnen aufstrebenden hochrespectablen Familien bezahlen Fleischer, Bäcker, Schuster, Schneider, Weinlieferanten, Puder- und Haarkünstler, Putzmacherinnen, Juweliere u. s. w. alle 2–3–5 Jahre, oft in noch größeren Zwischenräumen (Wellington alle 9 Jahre, wie ich wiederholt hörte) und öfter gar nicht. Da sie nun gleichwohl nicht gemahnt werden dürfen, machen die Lieferanten, wenn sie’s nicht mehr aushalten können, allemal Bankerott, d. h. sie übergeben die Einziehung ihrer mit 300 Procent Zinsen und idealen Posten geschwellten Rechnungen ihrem Advocaten, der nun das Geld scharf und geschäftsmäßig eintreibt. Das ist denn allemal ein glänzender Lohn langen Wartens, nur nicht für die Herrschaften, die blechen müssen. Ich sagte: „idealen Posten“. Das bedarf einer Laterne.

Ideale Posten nennt man, „was sich nie und nirgends hat begeben“ und doch unverschämt theuer bezahlt wird. So sind z. B. „ideale Hosen“ sehr Mode, welche auf folgende Weise gemacht werden. Der „Fußmann“ oder Kammerdiener des Lord Nudle oder des Sir Dudle kommt zum Schneider des Lord Nudle oder des Sir Dudle und sagt: Geben Sir mir mal 3 Pfund und setzen Sie dem Lord Nudle oder dem Sir Dudle ein Paar Hosen für 5 Guineen auf die Rechnung. So setzt er sie für 5 Guineen auf die Rechnung, und die idealen Hosen sind angemessen, zugeschnitten, genäht und gebügelt, abgeliefert und zerrissen – Alles zauberhaft geschwind.

Aehnlich entstehen ideale Posten auf allen andern Rechnungen, besonders denen der Köchinnen, die vielleicht bald den Fleischerburschen oder den „Fußmann“ mit 1000 Pfund „Ersparniß“ heirathen und ein „Public-Haus“ kaufen wollen. Wenn Lord Nudle oder Sir Dudle die Rechnungen endlich bezahlen, können und dürfen sie nicht forschen und fragen, was ideal und was real darin sei. Das thut kein „Gentleman“, kein „Gentleman“ darf dies thun. Und so bezahlt er, daß ihm die Haare zu Berge stehen und er oft borgen muß trotz der 20–30 und mehr Tausend Pfund jährlicher Renten. Er darf natürlich auch nie selbst bestellen oder direct mit dem Handels- und Verkehrsvolke, den „trades people“ verkehren. Das geht eben so wenig, wie die Königin direct mit einem gewöhnlichen Arbeiter sprechen darf, so daß erst unlängst die Scene vorkam, daß die Majestät im höchsten Interesse für eine neue Erfindung den Erfinder (einen Arbeiter!) selbst näher befragen wollte und ihn citiren ließ, um ihre Fragen an einen Hofcavalier zu richten, der sie gegen den Arbeiter wiederholte, worauf der Arbeiter dem Hofcavalier antwortete, der die Antwort dann der Königin mittheilte. Man denke sich die Scene lebhaft. Königin und Arbeiter stehen dicht neben einander. Fragen und Antworten werden direct geführt, aber eine dritte Person muß Alles wiederholen, damit die englische Hof-Etikette, unter der die Königin selbst oft sehr leiden mag, nicht verletzt, die ungeheuere Kluft zwischen der Trägerin der Krone und dem Träger eines Ordens der Intelligenz nicht von Geist und Vernunft übersehen werde.

Man sieht schon, wie diese Herrschaften ihr Geld verläppern, ohne dessen eigentlich froh zu werden. Es ist unverschämt theuer in England, reich zu sein, und soll in den meisten Fällen mehr kosten, als man dran wenden kann. Wir sind aber noch nicht zu Ende. Die obersten Zehntausend geben sich immerwährend gegenseitig Gesellschaften, Bälle und Concerte. Es versteht sich von selber, daß die Damen dabei immer neue Kleider tragen und immer etwas Fehlendes an der Garderobe ergänzen – natürlich allemal auf Credit. Was dabei jedesmal an Victualien und Delikatessen verzehrt wird, geht in’s Fabelhafte, die Rechnung dafür aber in’s mit sich selbst multiplicirt Fabelhafte. Ich kenne ein Paar deutsche Notabilitäten der Musik hier, die mit der Aristokratie Tausende von Pfunden jährlich machen. Lady Stanley oder Herzog Aston geben eine „Party“ und wollen dazu ein Privat-Concert geben. Sie schicken zu einem der „etablirten“ Musik-Notabilitäten und bestellen sich eins „erster Classe“ mit den ersten Sängerinnen und Virtuosen. Der Concertmacher kriegt sie theils umsonst, theils à 10 Guineen, wofür auf der Rechnung je 20 stehen. So streicht er für sein Concert, wobei er selbst nicht als Künstler wirkte, – freilich oft nach langem Warten, seine 200 Guineen ein und wiederholt diese Operation während der Saison vielleicht zwei bis dreimal wöchentlich.

Die obersten Zehntausend haben meist Landsitze und große Schlösser mit Parks, Wildstand, Aufsehern, Wärtern, Dienstboten zu Dutzenden. Das muß erhalten und bezahlt werden, wie der Hausstand in London, auch während sie 5–6 Monate im Jahre verreist sind und sich vom Rheine bis zum Nil und Mississippi herumtreiben. Sie reisen natürlich nicht mit Felleisen und auf beiden Seiten hervorhängenden Stiefelsohlen, wie weiland die deutschen Handwerksburschen, sondern mit Gefolge, oft auch mit Equipage und einer besonderen Küche darin. Das kostet Geld, während zu Hause auf den Landsitzen und in der Londoner Residenz auch manchmal noch wo anders – die Rechnungen wacker fortlaufen und der Kutscher, der Fußmann, die Haushälterin sich umfangreichere Kleider machen lassen müssen, weil der zunehmende Talg auf den Rippen in den alten durchaus kein Unterkommen mehr finden kann.

Beiläufig ist nicht zu übersehen, daß die Herren sich stark an der Wett-Börse betheiligen und sie bei einem einzigen Rennen allerdings Tausende gewinnen können, öfter aber verlieren, wie dies auch bei der modernen Art, Leute zu „rädern“ (in den Spielhallen), Mode sein soll. „Auch manchmal wo anders?“ Ja, aber wo? Man sagt’s nicht gern, man spricht nicht gern davon. Aber ganze Straßen verkünden’s mit Lapidarschrift, ganze Schwadronen von Damen mit flatternden Gewändern und Federn und Schleiern zu Pferde im Hyde-Park oder zu Wagen auf dem Corso um die Serpentine herum plaudern das Geheimniß täglich mit Vielhundertpferdekraft aus. Diese Damen leben wie Millionärinnen und säen und spinnen nicht und sammeln nicht in die Scheuern, und wenn sie der himmlische Vater nicht ernährt, wissen sie doch sehr gut, wo Barthel den Most holt. Sie werden, glaub’ ich, von der Aristokratie aus purer Edelherzigkeit und im „Cultus des Schönen“ so glänzend unterhalten. Der edle Lord mit dem Silberhaar oder der ehrenwerthe Sir mit gar keinem auf dem ehrwürdigen Haupte ist hoffentlich nicht selbst betheiligt, aber er hat Söhne, Enkel, Neffen, junge oder alte Sünder von Verwandten, welche sich ihre „Herzenskönigin“ halten, die, wenn’s ihr knapp wird, mit Oeffentlichkeit droht. So muß der „Alte“ herausrücken, um die Sache zu vertuschen und den Stammbaum rein zu halten vor der Welt.

Auch giebts arme, liederliche Anhängsel zu unterstützen und – das sei zuletzt als versöhnlicher Schluß gesagt – für Noth und Elend, Hospitäler und Wohlthätigkeitsanstalten mit Summen, die des Namens, Ranges und Standes wegen fett aussehen müssen, sorgen zu helfen. Mancher Fremde in Noth, mancher Schwindler und Heuchler mit angenommenem hohen Namen weiß sich Zutritt zu so’nem geplagten Fünfzig- oder Hunderttausendpfünder zu verschaffen, dem es unmöglich ist, ihn mit 6 Pence oder sonst einer Münze abzuspeisen. Er giebt ihm eine hübsche Anweisung auf seinen Bankier. –

Man überblicke diese flüchtigen Striche zu einem Bilde des englischen Hochleben(„high life“) und danke Gott, daß man nicht englischer Lord geworden, sondern mit Gevatter Schneider und Handschuhmacher für wohlerworbene, entbehrliche Silber- oder Neugroschen um die Ecke herum Abends einkneipen und ’n Töpfchen Bier und ein Würstchen schmausen’, aber es auch gleich bezahlen kann.



Anmerkungen (Wikisource)


  1. Das Budget, im Anfange dieses Jahrhunderts 20, schwankte während der letzten 10 Jahre zwischen 70–80, und läuft während des laufenden Jahres auf 72 Millionen.
  2. Die hohen Familien mit geringeren Jahresrenten gehören nicht eigentlich mehr unter die „obersten“.