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Einsegnungsunterricht 1917
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9. Stunde
am Donnerstag, den 11. Oktober vormittags.
Lied 319. Psalm 9, 1-15. Kollekte 231, 70.
Die Kirche der Reformation in ihrer Abgrenzung gegen andere Kirchen.
Von der ewigen Kirche sind wir bei unserm Unterricht ausgegangen, der Kirche, die auf Gottes ewigen Gnadenrat sich gründet, in Christo ihr ewiges Haupt besitzt und durch den Gottesgeist, den ewigen, Kräfte der Ewigkeit in dieser Zeitlichkeit in sich birgt. Diese ewige Kirche Gottes ist auch in Wahrheit eine und kann nur eine sein; denn sie ist ja die Gesamtheit der Gläubigen, derer| die aus allerlei Zeiten und Völkern durch den Glauben in Verbindung stehen mit Christo, dem ewigen Haupt. Wir haben nun freilich auch gesehen, wie die ewige Kirche Gottes in der Zeit ins Dasein trat, eine irdische Entwicklung durchgemacht hat, durch menschliche Mittel und menschliche Werkzeuge gebaut wird und dadurch auch vielfach auf Pfade des Irrtums kam, von welchen Gott sie dann nach seiner Gnade wieder zurückführte zur Wahrheit. Wir haben aber auch schon wiederholt anzudeuten Anlaß gehabt, wie nun eben die Kirche längst nicht mehr eine ist, sondern geteilt in Konfessionen.

Wir halten daran fest, daß die Kirche doch noch eine ist. Sie ist nicht nur eins als die unsichtbare Gemeinde der Gläubigen, sondern doch auch einigermaßen in der sichtbaren Erscheinung. Es gibt doch noch Glaubensbekenntnisse, welche die verschiedenen Konfessionen gemeinsam haben. Wir haben gehört, daß in derjenigen unserer Bekenntnisschriften, die am meisten polemische, d. h. angriffsweise vorgehende Haltung hat, in den schmalkaldischen Artikeln, von Luther vorangestellt sind die Artikel von der göttlichen Majestät, in welchen kein Zwiespalt auch in den Tagen der Reformation gewesen ist. So haben die Verfasser, die Sammler des Konkordienbuches vorangestellt – ehe sie zu den besonderen Bekenntnissen unserer Kirche weiterschritten – die 3 ökumenischen d. h. allgemeinen Glaubensbekenntnisse: das apostolische, das nizänische und das athanasianische. Das mittlere unter denselben, das nizänische ist das eigentlich ökumenische Bekenntnis, das die ganze Christenheit teilt. Das apostolische wird dem Inhalt nach ja auch von der ganzen Christenheit angenommen, da es in dem nizänischen enthalten ist; aber die morgenländische Kirche kennt es wenigstens in dieser Form nicht, sondern gebraucht auch bei der Taufe nur das Nicänum. Das dritte ökumenische Glaubensbekenntnis trägt seinen Namen „athanasianische“ nicht mit Recht, denn es hat mit Athanasius, dem Bischof von Alexandrien, absolut nichts zu tun; es ist einige Jahrhunderte später, wohl in Südfrankreich, entstanden und wird von der morgenländischen Kirche entschieden abgelehnt um einiger Bestimmungen willen, die den Differenzpunkt, den Streitpunkt zwischen morgenländischer und abendländischer Kirche gebildet haben. Seine Berechtigung hat das athanasianische Glaubensbekenntnis gleichwohl in dem Ganzen unserer Bekenntnisschriften; denn es ist das geschichtliche Denkmal dafür, daß die abendländische Kirche nach ihrer Trennung von der morgenländischen noch Jahrhunderte hindurch eine gemeinsame Entwicklung genommen hat und daß wir mit vielem, was wir haben und üben, an diesem Besitz der alten abendländischen Kirche festhalten und dankbar davon Gebrauch machen. Zugleich bildet es den Uebergang von den allgemeinen zu den besonderen Bekenntnissen.

| Dies sind die ökumenischen, d. h. allgemeinen Glaubensbekenntnisse. Freilich sonst, abgesehen von den Grundartikeln der göttlichen Majestät, wie Luther sagt, ist ein großer Unterschied und Zwiespalt auch in der Lehre vom Heil und wir müssen unsere Betrachtungen über die Kirche der Reformation damit beschließen – ehe wir noch auf die Zukunft der Kirche zu reden kommen –, daß wir sprechen:
von der Kirche der Reformation in ihrer Abgrenzung gegen andere Kirchen.

Es wird uns da entgegentreten:

1. der Gegensatz zur griechisch- und römisch-katholischen Kirche,
2. die Scheidung von der Schweizer Reformation,
3. die Gefährdung durch die Sekten,
4. das Eindringen der Union.


I.
Die Katholiken messen die ganze Schuld an der vorhandenen Spaltung der Kirche, wie wir auch schon berührt haben, der Reformation bei. Wir leugnen ja nicht, daß die Reformation leider zu einer weiteren Trennung innerhalb der abendländischen Kirche geführt hat; aber die Schuld haben wir mit allem Ernst vor Gott denen zuzuweisen, die das Zeugnis Luthers nicht annahmen. Es muß auch immer wieder darauf hingewiesen werden gegenüber der Anschuldigung der Katholiken, als ob die Reformation an jeglicher Trennung in der Kirche schuld sei, daß schon lange zuvor zwischen Morgen- und Abendland eine starke Trennung sich vollzogen hatte. Es geht diese Trennung bis auf das vorhin als im eigentlichen Sinn ökumenisch bezeichnete nizänische Glaubensbekenntnis zurück. Als man im Jahre 385 bei der 2. Kirchenversammlung in Konstantinopel das Nicänum noch einmal durchnahm und erweiterte, besonders in seinem 3. Artikel, in dem, was auf den heiligen Geist sich bezog, da setzte man aus der Schrift heraus, aus Joh. 15, 26 arglos die Worte ein: Ich glaube auch an den heiligen Geist . ., „der vom Vater ausgehet.“ So heißt es dort: „Wenn aber der Tröster kommen wird, welchen ich euch senden werde vom Vater, der Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht.“ Aber man sieht hier wie bedenklich es ist, einzelne Worte aus dem Zusammenhang zu reißen. Der Herr hat deutlich gesagt: „Ich werde den Geist senden vom Vater“, wie er ein andermal sagt: „welchen mein Vater senden wird in meinem Namen“ (Joh. 14,26). Da ist doch durch den Zusammenhang und den Vergleich mit dem andern Wort deutlich gesagt, daß der Geist gesandt ist vom Vater und vom Sohn und wie er in der Zeit vom Vater und vom Sohn gesandt wird, so geht er gewiß auch ewig vom Vater und vom Sohn aus. Im Abendland wurde man aus diesen Mangel, auf diesen kleinen Irrtum| aufmerksam und setzte die Worte „und vom Sohne“ oder wie es lateinisch heißt: filioque ein. Das durfte man der Sache nach tun, hätte es aber nicht tun sollen, ohne die morgenländische Kirche gleich zu Rate zu ziehen. Das tat aber der Papst nicht, der aus eigener Machtvollkommenheit dies Wort einsetzte und das wollte wiederum die morgenländische Kirche sich nicht gefallen lassen, da sie die päpstlichen Ansprüche ablehnte. So ist es über diesen an sich unbedeutenden Punkt zur Trennung gekommen oder er ist wenigstens bei derselben immer wieder vorgeschoben worden. Noch im Jahre 1439 haben die letzten Vergleichsverhandlungen, die auch scheiterten, stattgefunden. Man sieht also hier, der tatsächliche Grund der Trennung war doch der Papst, der den Anspruch machte, auch Beschlüsse der Kirchenversammlungen abändern und Einschiebungen machen zu können. Die Lehre selber betrifft die Seligkeit wahrlich nicht; obwohl es zweifellos das Rechte sein wird zu glauben und zu bekennen, daß der heilige Geist vom Vater und vom Sohne ausgeht. Die Trennung kommt geschichtlich schon daher, daß das römische Reich sich im Jahre 395 teilte in ein morgenländisches und abendländisches Reich. Da ging auch die Christenheit in den beiden Reichen ihre getrennten Wege. Die morgenländische Kirche ist geblieben, was die Kirche überhaupt seit den Tagen Konstantins geworden war, eine hierarchische Staatskirche. Sie stellt eine Hierarchie dar in starker Abhängigkeit vom Staat. Dies letztere besonders in Rußland, wo sie stark vertreten ist. Ueberall aber hat sie die Art der Verfassung eines weltlichen Reiches. Bischöfe üben die kirchliche Gewalt, über denselben stehen Erzbischöfe, dann Metropolitane und endlich Patriarchen. Den Papst in Rom erkannte sie nicht an bis auf diesen Tag. Im übrigen teilt die morgenländische Kirche fast alle Irrtümer der römischen Kirche. Sie hat auch die Lehre von der Verdienstlichkeit der guten Werke; sie lehrt auch 7 Sakramente, statt der Firmung hat sie das Chrisma (Salbung, in unmittelbaren Anschluß an die Taufe erteilt). Beim heiligen Abendmahl hat sie nicht die Kelchentziehung, was auch ein Hauptstreitpunkt zwischen der griechischen und römischen Kirche ist. Die kleinen Kinder lassen sie schon zum Abendmahl zu. Im Gottesdienst haben sie auch den Heiligendienst, die Bilderverehrung, noch stärker wie die Katholiken; auch die Engelanbetung wird sehr geübt. Die Predigt wird zumal in der russischen Kirche fast gar nicht gepflegt. Der Gottesdienst ist nur liturgisch, aber ohne jede Beteiligung der Gemeinde. Wenn der griechisch-katholische Christ in sein Gotteshaus tritt während des Gottesdienstes, hört er vielleicht einen Augenblick hin auf den Gesang der Geistlichen und des Chores, im übrigen sucht er sich das Heiligenbild heraus, vor dem er seine besondere Verehrung vollziehen will, kauft sich eine Kerze, wirft sich zur Erde nieder und verrichtet so seine spezielle Andacht an seinen sonderlichen| Heiligen. Man kann sagen: dieser morgenländische Gottesdienst ist eine reine Versteinerung des früheren Zustandes geworden. Weil sie der Gemeinde blutwenig bietet, daher kommt der merkwürdige Umstand, daß diese Kirche eine Menge von Sekten hervorgebracht hat. Diese Sekten sind zum Teil noch mehr versteinert, wie der große Raskol (Schisma) in Rußland beweist, desen Anhänger, die Starowerzi oder Altgläubigen, nach Millionen zählen. Diese Spaltung kam daher, daß in der Liturgie der Name unseres Herrn Jesus in der russischen Aussprache allmählich in Issus übergegangen war, da er sonst Jissus ausgesprochen wurde. Nun wurde die ursprüngliche Form wiederhergestellt und darüber gab es eine Trennung, ein Schisma, das nun schon seit 1652 fortdauert. Andere Sekten sind mehr mystischer Art, einzelne tragen auch evangelisches Gepräge, wie die Stundisten, die durch Einfluß der aus Württemberg ausgewanderten Kolonisten entstanden sind und zu Privaterbauungsstunden um das Wort der Schrift sich versammeln. Sie sind eine der lieblichsten Erscheinungen der russischen Kirche, leider vielfach verfolgt.
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Ganz anders steht die römisch-katholische Kirche da. Sie ist bei allen Mängeln, die sie hatte, nie so völlig leblos, ja geistlich tot gewesen, wie man von der griechischen sagen kann. Auf sie hat die Reformation auch erheblich eingewirkt. Ich erwähnte schon, daß der Papst Paul IV. während seiner kurzen, nur 4jährigen Regierung in einem entscheidenden Moment die Erkenntnis gewann von der Notwendigkeit einer Reform. Er nahm sofort mit großer Energie eine Besserung der Kirche in päpstlichem Sinn in Angriff und so folgte die Periode der sogen. katholischen Restauration oder Wiederherstellung. Dieselbe bezog sich zunächst auch auf Sachen der Lehre. In der tridentinischen Kirchenversammlung 1545-1563 wurde die Lehre von etlichen der stärksten Auswüchse gereinigt; die Kirchenordnung wurde erneuert und festgestellt; das Missale romanum (das römische Meßbuch) erschien; ihm folgte das Brevarium romanum (das römische Gebetbuch der Geistlichen, das besonders die Horengebete enthält) und der Katechismus romanus, ein römisches Lehrbuch für die Schule. Das Alles hat die römische Kirche einer inneren Erneuerung und Kräftigung entgegengeführt. Auch auf das Gebiet der Heidenmission hat sich die Arbeit der römischen Kirche gerade in dieser Zeit unmittelbar nach der Reformation mit großer Tatkraft erstreckt. Den Namen des hervorragenden Missionars Franz Xaver, nannten wir schon. Nicht minder aber auf dem Gebiet der Liebestätigkeit traten bedeutende Männer auf mit großer Organisationsgabe ausgestattet und zugleich voll herzlicher Inbrunst und Frömmigkeit, Karl Borromäus, Erzbischof von Mailand, besonders auch Vinzenz von Paula, der 1618 den Orden der barmherzigen Schwestern gegründet hat. So fand eine Erneuerung der katholischen Kirche in der Zeit nach der| Reformation statt, sie ermannte sich und ging ihrerseits bald angriffsweise gegen den Protestantismus vor. Von Bedeutung auf diesem Gebiet war besonders die Begründung des Jesuitenordens durch Ignatius von Loyola.

Auch auf weitere Gebiete erstreckte sich diese innere Erneuerung der römischen Kirche. So auf das Gebiet der Kunst. Maler wie Guido Reni stellten bewußt ihre Kunst in den Dienst des Katholizismus, auf dem Gebiet der Musik geschah es durch Palestrina und andere. So hat eine innere Erneuerung des Katholizismus allerdings durch die Einwirkung der Reformation, aber im Gegensatz zu ihr stattgefunden. Auch später trat manche mehr evangelisch gerichtete Erscheinung auf dem Gebiet der römischen Kirche hervor, so im 17. Jahrhundert eine mystische Richtung in Frankreich. Auch im Anfang des vorigen Jahrhunderts hat das Wiedererwachen des christlichen Lebens in der evangelischen Kirche seine Wellen nach der römischen Kirche hingezogen. Wir brauchen nur an Männer zu erinnern, die Bayern angehörten, wie Bischof Sailer in Regensburg, Wittmann seinen Nachfolger oder den katholischen Pfarrer M. Boos, der katholisch geblieben ist, aber als ein Prediger der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, mit Recht bezeichnet werden kann.

Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts hat abermals der Katholizismus in Deutschland sich ermannt. Das Verfassungsleben in den einzelnen deutschen Staaten kam immermehr in Gang und die römische Kirche hat auf politischem Gebiet einen bedeutenden Einfluß sich zu erringen gewußt. Wir wissen, wie in unserm Lande seit einem halben Jahrhundert, im Landtag die Mehrheit entschieden dem Zentrum oder den Ultramontanen, der katholischen Partei angehört und der Einfluß der römischen Kirche auf politischem Gebiet ist auch im deutschen Reich trotz der überwiegenden Mehrheit der evangelischen Bevölkerung ein sehr mächtiger. So hat auch der Katholizismus auf dem Gebiet der Liebestätigkeit neuestens große Lebenskraft bewiesen. Gott hat ihn sichtlich erhalten wollen. Warum? Das weiß Er allein. Doch eine Mahnung für den Protestantismus darf der Katholizismus immer sein, den Gedanken der Kirche nicht völlig zu vergessen. In der evangelischen Bevölkerung lebt das Bewußtsein, daß eine Kirche Gottes gibt, die ein selbständisches Lebensgebiet ist, viel zu wenig; darum bedürfen wir eine starke Mahnung diesen Gedanken mehr im Auge zu behalten. Bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts ihn haben in unsrem Lande vielfach benachbarte evangelische und katholische Geistliche freundschaftlich miteinander verkehrt; das hat ganz aufgehört. Nur in neuester Zeit hat das Fürsorgewesen uns mehrfach wieder mit Vertretern der katholischen Kirche in eine gewisse Beziehung gebracht.

Stellen wir kurz die Unterschiede zusammen, die uns von| der katholischen Kirche trennen. Wir haben ihr den ernsten Vorwurf zu machen, daß sie aus vielen Gebieten vieles hinzutut. Was die Quelle der Wahrheit anlangt, tut die römische Kirche zu dem geschriebenen Wort die mündliche Ueberlieferung hinzu und aus diesem Irrtum wächst ein anderer hervor. Die mündliche Ueberlieferung der Kirche ist nach katholischer Auffassung im Besitz des römischen Stuhles, des Bischofs von Rom, der den Anspruch erhebt als der Nachfolger Petri das Oberhaupt der Kirche auf Erden zu sein. Da tut die katholische Kirche wieder etwas sehr Bedeutsames und Anmaßendes hinzu. Zu dem unsichtbaren Haupt der Kirche im Himmel, Christus, fügt sie ein sichtbares Haupt, das eine 3 fache Krone hat und den Anspruch erhebt über den Kaisern und Königen zu stehen. Was den Heilsweg selber anlangt, tut die römische Kirche zu dem Glauben, den sie nicht ganz wegläßt, auch die Werke hinzu. Ueber den Begriff der Rechtfertigung ist zu sagen, daß nach römischer Lehre rechtfertigen heißt: zu einem Gerechten umgestalten. Der Christ soll nicht durch die zugerechnete Gnade für gerecht erklärt und erkannt, sondern durch die eingeflößte Gnade allmählich zu einem Gerechten umgestaltet werden, um vor Gott als Gerechter dazustehen. Daß die Werke neben dem Glauben stehen, kommt ferner von dem falschen Begriff der Buße her, wornach auch die Genugtuung mit der Tat zur Buße gerechnet wird. Auch der falsche Begriff des Glaubens steht damit in Zusammenhang. Glauben heißt nach römischer Auffassung annehmen, was die Kirche lehrt, womit eine rechtfertigende Heilswirkung nicht verbunden sein kann.
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Wenn neben dem Glauben auch die Werke zur Seligkeit notwendig sind, wie die römische Kirche es ansieht, so besteht die Möglichkeit, daß ein Christ in diesem Leben nicht fertig wird mit den guten Werken, die er vollbringen, mit der Genugtuung, die er leisten soll. Und so kommt hier die Lehre vom Fegfeuer zum Vorschein. Wieder tut die katholische Kirche etwas hinzu zu Himmel und Hölle, nämlich das Fegfeuer, das Purgatorium, wie sie es nennt. Dagegen besteht auch die Möglichkeit, daß jemand mehr gute Werke fertig bringt, als er für sich nötig hat, verdienstvolle Leistungen, die nicht von jedem verlangt werden können. Daraus erwuchs der Begriff der Heiligen, die nun andern helfen, aus Grund ihrer Verdienste Fürbitte bei Gott für andere einlegen können. Hier ist auch der Schatz der überschüssigen guten Werke zu nennen, der mit dem Ablaßwesen enge zusammenhängt. Da tut die römische Kirche wieder etwas hinzu. Wir brauchen freilich einen Mittler beim Vater, wir haben ihn aber auch in Christo. Die römische Kirche tut noch Mittler hinzu, die Heiligen als himmlische Mittler und als irdische Mittler die Priester. Somit kommen wir auf das Amt. Der Amtsbegriff wird römischerseits stark gesteigert, insofern die Geistlichkeit, ein höherer, an sich schon verdienstvoller Stand, für die Gemeinde| eintritt und Opfer darbringt. Das führt uns weiter zur Sakramentslehre. Da tat die römische Kirche wiederum gewaltig viel hinzu. Aus den beiden Sakramenten, die der Herr eingesetzt hat, machte sie sieben und die Bedeutung des Sakramentes steigerte sie in gefährlicher Weise. Von der Taufe lehrt sie, daß durch sie die Erbsünde im Menschen getilgt wird, was nicht richtig ist. Beim heiligen Abendmahl begnügt sie sich nicht mit der Vereinigung der irdischen Elemente und der himmlischen Güter, sondern steigert sie zu einer Wandlung und läßt diese Wandlung eine unblutige Wiederholung des Opfers Christi sein. Da tut sie zu dem einen vollkommenen Opfer Christi noch das täglich zu wiederholende Meßopfer hinzu, wodurch das vom Herrn gestiftete heilige Mahl etwas völlig anderes geworden ist.

Im evangelischen Volk ist man gewohnt von der Dummheit der Katholiken und ihrer Lehranschauung zu reden. Das ganze System ist aber höchst klug angelegt. Es ist darauf berechnet, den einzelnen Christen in steter Abhängigkeit von der Kirche und ihrem Amt zu halten. Damit hängt es auch zusammen, daß die römische Kirche nicht will, daß der Einzelne unmittelbar und völlig seines Heilstandes gewiß werde; er braucht immer wieder die Lossprechung des Priesters. Eine Mahnung allerdings kann uns dieser römische Lehrbegriff doch wieder sein, nicht nur den Gedanken der Kirche zu stärken, sondern auch eine Mahnung, den Glauben in guten Werken ernstlich zu beweisen.


II.
Wir kommen nun zu der Scheidung von der schweizerischen Reformation. Von dem ersten, der in der Schweiz als Reformator auftrat, von Zwingli sei nur bemerkt, daß er von 1484 bis 1531 gelebt und im Jahr 1519, ernstlicher 1522 eine Reformation in Zürich begonnen hat. Er war anfangs mehr gegen äußere Mißbräuche im Volksleben aufgetreten, gegen die Wallfahrten, die ihm mit Recht ein sozialer Schaden zu sein schienen und gegen das Reislaufen, wie man das Laufen der Schweizer in fremde Kriegsdienste nannte. Nach einer schweren überstandenen Krankheit hat er die Reformation auch auf das geistliche Gebiet ausgedehnt. Calvin lebte von 1509-1564 und hat in Genf gewirkt erstmals von 1534 an. Nach 2 Jahren um seiner großen kirchlichen Strenge willen von dort vertrieben, 1541 zurückgerufen, betätigte er von dem an sein dortiges Reformationswerk. Ob Luther die Schriften Calvins, die zum Teil französisch geschrieben waren, näher gekannt hat, wissen wir nicht. Bekannt ist nur, daß er ihm einmal einen Gruß sagen ließ. Calvin trat anfangs als Anhänger, als Schüler Luthers auf, mehr im Gegensatz zu Zwingli, bis er später seine im Grund diesem gleiche Gesinnung mehr an den Tag legte. Wir wissen schon, daß| die Schweizer Reformatoren einen völligen kirchlichen Neubau versucht haben, der Reformation Luthers vorwerfend, sie sei auf halbem Wege stehen geblieben und hätte viel zu viel römisch-katholische Art in die Kirche des Evangeliums mit herübergenommen. Dieser Versuch, unter Ablehnung aller kirchlichen Ueberlieferung, unter völliger Beiseitesetzung der kirchlichen Entwicklung von vorne anzufangen, hat verhängnisvolle Folgen gehabt. Daher stammt die bunte Mannigfaltigkeit der Kirchenbildungen auf reformiertem Boden. Von der Englischen Hochkirche an, die viel Römisches an sich hat, bis herab zu den Quäkergemeinden, die das geistliche Amt ganz verwerfen, in ihren Gottesdiensten beisammen sind und warten, ob der heilige Geist auf einen kommt und wenn es nicht der Fall ist, wieder auseinandergehen, – liegt eine Menge Kirchenbildungen von der größten Verschiedenheit. Auch zu keinem einheitlichen Bekenntnis hat es die reformierte Kirche bringen können, weil jeder in der kirchlichen Neubildung seine eigenen Wege ging. Ganz besonders ist dadurch die reformierte Kirche der fruchtbare Boden für Sekten geworden, denn wenn man 1522 oder 1541 neugestaltet, so kann man nach 50 Jahren wieder von neuem anfangen, wieder eine andere Gestalt nach anderen Gedanken geben; so entstehen mit Notwendigkeit auf reformiertem Boden Sekten. Bekenntnisse haben bei der Schweizer Reformation immer nur die einzelnen Länder. Die deutschen Reformierten haben den Heidelberger Katechismus von 1562, vom selben Jahr sind die 39 Artikel der Kirche von England, 1568 kam es zur Späteren Helvetischen Konfession, die hauptsächlich die Schweizer Reformierten annahmen, 1619 zu den Beschlüssen der Synode von Dortrecht, wo das Bekenntnis der holländischen reformierten Kirche aufgestellt worden ist.
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Es ist bei der bunten Mannigfaltigkeit der Kirchenbildung gar nicht leicht die Unterscheidungslehren, die uns von der Schweizer Reformation trennen übersichtlich zusammenzustellen. Zunächst muß uns entgegentreten, wie schon hervorgehoben wurde, die gesetzliche Stellung zur Schrift unter Verwerfung der kirchlichen Ueberlieferung und Entwicklung. Die heilige Schrift wird wie ein Gesetzbuch angesehen, an das man äußerlich auch gebunden sein muß, darum verwerfen die Reformierten die kirchlichen Perikopen; die streng Reformierten verwerfen auch das freie geistliche Lied, singen nur Psalmen, dulden auch in den Bibeln keine Anmerkungen, nicht einmal die Einteilung und Angabe der kirchlichen Texte. Auch das ganze Kirchenwesen ist in sehr gesetzlicher Weise ausgestaltet: das Verbot sämtlicher Bilder in den Kirchen, bei streng Reformierten auch der Bilder Christi in den Häusern, gesetzlich strenge Sonntagsfeier verraten diesen gesetzlichen Zug. – Die Heilsgewißheit wird in gesetzlicher Weise auf die Lebenserneuerung begründet. Ueberall tritt uns ein gewisser Zug der| Willkür entgegen. Wir erinnerten schon an das Wirken der Frau im öffentlichen Gottesdienst und so kommen wir weiter auf die willkürlichen verstandesmäßigen Scheidungen, die uns im reformierten Glaubenssystem entgegentreten. Trennung des Göttlichen und Menschlichem vor allem in der Person des Herrn; denn Zwingli lehrt, Christus sei nur seiner göttlichen Natur nach allgegenwärtig, nach der menschlichen sei er im Himmel eingeschlossen – ein Auseinanderreißen der Gottheit und Menschheit, eine Verkennung des grundlegenden Satzes: „Das Wort ward Fleisch“. – Das gleiche gilt vom Heilsratschluß; da wird alles auseinandergerissen. Der göttliche Heilsratschluß steht für sich selbst da ohne Rücksicht auf menschliches Element. Das führt zur Lehre der Prädestination. Dann die Trennung von Wort und Geist, daß nicht das gepredigte Wort an sich ein Werkzeug des Geistes ist, sondern daß die geisterfüllte Persönlichkeit unmittelbar überströmt, vom Lehrenden auf den Hörenden wirkt. Damit hängt der Punkt zusammen, der schon im Donatismus der alten Kirche hervortrat, die Frage, ob auch das Wort eines Unbekehrten Glauben wirken könne, was entschieden nach unserer Lehre zu bejahen ist; auch die kirchliche Erfahrung beweist diese Lehre. Sie schrauben die christliche Wahrheit zurück in der Lehre von den Sakramenten. Sie leugnen, daß die Taufe das Bad der Wiedergeburt ist; sie sei nur ein Symbol oder Sinnbild der Aufnahme in die Kirche und eine Verheißung, daß eine Geistestaufe früher oder später erfolgen und zustande kommen könne. Sie leugnen die wahre Gegenwart des Leibes und Blutes Christi im heiligen Sakrament. Zwingli sagt sehr dürftig, es sei lediglich eine Erinnerung an den Tod des Herrn; Calvin erkennt, daß man damit dem Wort des Herrn doch nicht gerecht wird. Er lehrt einen Empfang, aber nur einen geistlichen, nur durch den Glauben, nicht vermöge der sichtbaren Zeichen. Die Kirche wird ihrem Wesen nach als lediglich unsichtbar aufgefaßt, weil eben die rechte Erkenntnis der Gnadenmittel fehlt. Weil die Kirche aber doch irgendwie in Erscheinung treten muß, läßt man sie in einem christlichen Staat in Erscheinung treten, wie Zwingli einen solchen Gottesstaat in Zürich versuchte und Calvin in gewissem Sinn in Genf für ein halbes Jahrhundert zustandegebracht hat, eine Mischung von Kirche und Staat, die den willkürlichen Charakter der Schweizer Reformation darstellt. Uns tritt es ja in der Gegenwart in bedauerlicher Weise entgegen, wie die englischen Christen der Meinung sein können, ihr Volk sei von Gott bestimmt die Weltherrschaft auf dem Meer auszuüben – auch eine Vermischung des Geistlichen und Weltlichen, das die Art der Schweizer Reformation vor Augen führen kann. Die Vorzüge sind ihr Eifer für die Werke des Reiches Gottes, die Schattenseiten: die Willkür, der fanatische Zug und das Sektenwesen.
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Wir haben schon gezeigt, wie merkwürdig sich die Extreme| der reformierten und der katholischen Kirche auf manchem Gebiete berühren. Ich möchte heute noch hinzufügen: Auch auf dem Gebiet der sogenannten Evangelisation. Es ist reformierte Weise Bekehrungen erzwingen zu wollen durch gewaltsame Eindrücke. So werden Evangelisationen veranstaltet während 10-14 Tagen, wobei täglich mehrere Predigten gehalten werden zur Besserung des kirchlichen Standes. Eine ganz ähnliche Einrichtung hat die römische Kirche in den sogenannten Missionen, die nichts anderes sind als derartige willkürliche Versuche Bekehrungen zu erzwingen. Das wird wenigstens aus allem entgegenleuchten, daß in der reformierten Kirche ein anderer Geist herrscht als in der Kirche der lutherischen Reformation. Weil aber das Sektenwesen ein besonders charakteristisches Kennzeichen der reformierten Art ist, so gehen wir zum 3. Punkt über zur


III.
Gefährdung durch die Sekten. Das Wort „Sekte“ ist aus dem Lateinischen genommen; es bedeutet nicht – wie man vielfach annimmt, – etwas Abgeschnittenes, sondern eine Richtung die man verfolgt. Das Gleiche bedeutet das griechische Wort Häresie. Im kirchlichen Sprachgebrauch unterscheidet man Häresie und Sekte, so daß zwar beide Trennung von der Kirche sind, aber Häresie mehr aus Gründen der Lehre, Sekte mehr aus Gründen des Lebens. Immer liegt der Nebenbegriff der Willkür darin und einigermaßen des mehr Vorübergehenden, während Schisma oder Spaltung mehr eine Trennung, die aus persönlichen Gründen irgendwie in der Christenheit erfolgte, bezeichnet. In der alten Kirche sind demnach Häretiker die Arianer, die sich um der Lehre willen von der allgemeinen Kirche schieden, während die Montanisten mehr als eine Sekte sich darstellen, da es sich bei ihnen mehr um das Leben gehandelt hat. Im Gebrauch des Wortes Sekte und Häresie wird man vorsichtig sein müssen und lieber von häretischen und sektiererischen Gemeinschaften oder Richtungen reden. Bei den Sekten ist nicht zu übersehen, daß sie meist von einem Punkt ausgehen, wo sie die Wahrheit vertreten und eine Mahnung für die Kirche sein müssen und ferner ist zu bedenken, daß man einer solchen Neubildung, wenn sie länger besteht, die Anerkennung einer kirchlichen Gemeinschaft nicht auf die Dauer verweigern darf. In der alten Kirche bildeten sich starke Häresien nach der Kirchenversammlung von Chalcedon 451, wo die Lehre von der Person Christi kirchlich festgesetzt wurde: die Nestorianer, die beide Naturen voneinander trennten und die Monophysiten, die die menschliche in die göttliche verwandelt werden ließen. Beide unterwarfen sich nicht den Beschlüssen der Kirchenversammlung und bildeten getrennte Kirchengemeinschaften, die bis heute bestehen. Die Nestorianer sind noch in Persien vertreten; Monophysiten sind besonders in der in den| jüngsten Jahren viel genannten armenischen Christenheit. Diese werden wir jetzt doch wohl als eine Kirchengemeinschaft anerkennen müssen und sie nicht mehr Häresie nennen dürfen. –

Dagegen ist zu sagen, wenn wegen einer Lehre, die im Bekenntnis der Kirche noch nicht mit völliger Klarheit festgestellt ist, Trennungen entstehen, wie die zwischen der Iowa- und Missouri-Synode in Nordamerika, welch letzterer die Sendlinge Löhes anfangs beigetreten waren, oder wie sie auf dem Boden der preußisch-lutherischen Kirche zwischen der Breslauer und der Immanuelsyonde wegen der Lehre vom Kirchenregiment eintraten, jetzt aber, Gott sei Dank, überwunden sind, so darf man solche Scheidungen nicht als Sekten bezeichnen, sondern nur von Trennungen reden. In der alten Kirche gab es Häresien und Sekten; wie ich gezeigt habe, ist ein Teil wieder verschwunden oder geradezu zu Kirchen geworden. – In den Tagen der Reformation entstand eine Sekte, die Wiedertäufer, die in den letzten Ausläufern jetzt noch besteht, aus der Richtung der Zwickauer Propheten hervorgegangen und 1536 von einem gewissen Menno Simons einer Erneuerung unterworfen. Während sie früher in wilder Weise gegen die Ordnung der Obrigkeit aufgetreten sind, sind sie jetzt eine friedliche Gemeinschaft geworden von Leuten, die in der Stille leben, keinen Eid leisten, keine Kriegsdienste vollziehen, die allerdings die bestehende Kirche für ein verderbtes Babel halten und deshalb als Sekte zu bezeichnen sind, obwohl sie die Kirche weiter nicht behelligen. – Auf lutherischem Boden ist nur eine gesonderte Kirchenbildung entstanden; das ist die Herrenhuter Brüdergemeinde des Grafen Zinzendorf, die ja zweifellos ein sektierisches Moment in sich trägt, weil sie eine Gemeinde von lauter Gläubigen zu sein vorgibt und behauptet, daß sie in einem speziellen Bund mit Christo, dem Heiland stehe. Das ist ein sektiererisches Moment, aber im übrigen ist doch diese Gemeinde so fest im Heilsgrund gewurzelt und steht der lutherischen Kirche in der Abendmahlslehre so gleich, daß man sie nicht als Sekte bezeichnen darf, sondern als kleine Kirchengemeinschaft anerkennen muß. Wir wissen, welches Verdienst die Brüdergemeinde auf dem Gebiet der Mission hatte und noch hat und daß sie in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Zeit des Rationalismus eine Zuflucht und ein Halt für die Gläubigen, die Stillen im Lande gewesen ist. Ob sie es jetzt auch wieder sein wird, ob sie Kraft hat gegenüber der modernen Richtung sich bei der biblischen Wahrheit zu behaupten, ist eine andere Frage.

Wenn wir von Störungen oder Gefährdungen durch die Sekten reden wollten, so bezieht sich das hauptsächlich auf die Sekten, die von der reformierten Kirche herstammen und aus Amerika oder England zu uns herübergekommen sind. Sie sind alle eins in dem Gedanken, Gemeinden von lauter Gläubigen zu bilden, oder doch| in dem Gedanken, daß die Zugehörigkeit zu ihrer Gemeinschaft eine Garantie der Bekehrung und des rechten Glaubensstandes sei; das ist ein entschieden sektiererisches Moment. Ein berechtigter Punkt ist gewöhnlich beim Auftreten der Sekten vorhanden, besonders daß in den bestehenden Kirchen der Unglaube und die Gleichgültigkeit so vielfach überwiegt. Wie anziehend ist im Gegensatz dazu der Gedanke, wenn gesagt werden kann: Bei uns sind lauter ernste Leute, lauter Gläubige. Das lockt viele, gerade die besten an. Zu Sekten dieser Art gehört der Methodismus. In Deutschland entstand seit 1678 die Bewegung des sogenannten Pietismus. Weil in den Zeiten des 30jährigen Krieges vielfach eine tote Rechtgläubigkeit aufgetreten war, wollte Philipp Jakob Spener eine Erneuerung des kirchlichen Wesens im Leben bewirken. Er konnte nicht ins Große arbeiten, dazu war er zu bescheiden, aber er wollte doch anregen. Wir sind dem Pietismus großen Dank schuldig, besonders dem älteren, der in der Hauptsache wenigstens auf kirchlichen Bahnen ging. Einer der hervorragendsten Kirchenmänner des vorigen Jahrhunderts, E. W. Hengstenberg, hat auf dem Sterbebette noch gesagt: Keine Rechtgläubigkeit ohne Pietismus, kein Pietismus ohne Rechtgläubigkeit. Das ist unser Standpunkt. – In England entstand eine ähnliche Bewegung durch John Wesley von 1729 an, wo er als Student schon einen Verein gründete, um mehr Leben in den erstorbenen Gemeinden zu wecken. Seit 1732 verband sich mit ihm Whitefield, größer als er an Gaben und besonders an Organisationsgeschick. Auf Bekehrung drängend, durchreiste er England. In 30 Jahren hat er 18 000 Predigten, meist unter freiem Himmel gehalten. Anfangs wollte er nur einen Verein bilden ohne Austritt aus der Kirche, allmählich kam er zur kirchlichen Neubildung und spottweise wurde seine Lehre und Weise Methodismus genannt, weil er nach einer bestimmten Methode verfuhr. Die Methodisten haben sich später gespalten, weil Wesley gegen die Prädestination auftrat und auch wegen der Verfassung. So gehören die in Deutschland tätigen Methodisten dem bischöflichen Methodismus an. Whitefields öfter ausgesprochener Grundsatz war: „Die Welt ist meine Pfarrei.“ Großes hat der Methodismus auf dem Gebiet der Heidenmission gewirkt. Auch die alte Christenheit betrachtete er als Missionsgebiet, in das er gerufen und berechtigt sei einzutreten. Die erste Frage, die an Glieder unserer Kirche gerichtet wird, heißt: „Bist Du bekehrt?“ Wenn die Antwort heißt: Ja, dann folgt die weitere Frage: „Wann hast Du dich bekehrt?“ Zeit und Stunde soll man angeben können. Die Taufe wird gering geachtet, die Wiedergeburt ganz im Sinne von Bekehrung gefaßt, was falsch ist. Die Bekehrung muß sich äußerlich kenntlich vollziehen durch einen Bußkampf dem ein Durchbruch zu freudigem Gnadengefühl spürbar folgt. Es fehlt das Verständnis für das allmähliche Werden des Christenlebens und das| Verständnis für die Bedeutung der Taufe und ihre Kraft. Auch das Verhältnis von Rechtfertigung und Heiligung wird verkehrt, insoferne die Heiligung eine höhere Stufe bedeutet, die der Christ nach der Rechtfertigung durch einen ähnlichen Akt der Uebergabe des Herzens an Gott vollziehen muß. Bezeichnend ist auch der Gedanke des Perfektionismus, die Möglichkeit einer Sündlosigkeit schon in diesem Leben, den der Methodismus hegt. In England und Amerika hat die Bewegung sehr segensreich gewirkt. Als aber auch außerhalb der methodistischen Kreise wieder mehr christliches Leben erwachte, steigerte sich seine Eigentümlichkeit und Willkürlichkeit noch vielmehr, besonders durch die Erweckungsversammlungen, durch welche eine rasche Bekehrung erzwungen werden will zumal beim weiblischen Geschlecht. In Deutschland wendet sich der Methodismus, und das ist ein großer Vorwurf, den wir gegen ihn erheben, immer an die schon erweckten Kreise, die durch den Dienst der Kirche schon gewonnen sind. – Ein Zweig des Methodismus ist die Heilsarmee, die dem Unglauben zu Leibe geht durch Musik und Trommelton und militärische Organisation aufweist. Ihr bleibt der Ruhm, daß sie sich, wo sie auftritt, an die wirklich Verlorenen, Verkommenen wendet. Es dürfte bekannt sein, daß in Nürnberg mehrere Kirchen und Kapellen und dazu ein Diakonissenhaus von Seiten des Methodismus gehalten werden. 1875 durchzog ein Methodist Pearsal Smith das deutsche Land um eine Erweckung hervorzurufen, welcher, der deutschen Sprache nicht mächtig, durch einen Dolmetscher zu den Versammelten redete; durch ihn entstand die moderne Gemeinschaftsbewegung. Wir erkennen viel Gutes an ihr an; doch haben wir ihr auch den Vorwurf zu machen, daß sie eine Sammlung von lauter von Gläubigen sein will, die doch tatsächlich die Kirche ersetzt und damit schließlich zur Sekte wird und daß es von ihren Anhängern so angesehen wird, als ob die Zugehörigkeit zu ihr die Zugehörigkeit zu Christo und seinem Heile garantiere. Die Taufe wird auch von Seiten der Gemeinschaft geringer geachtet und Bekehrung und Wiedergeburt miteinander verwechselt. Uebrigens sind in der Gemeinschaft zwei verschiedene Richtungen, eine kirchlich gerichtete und die extreme. Bekannt ist besonders, daß Diakonissenhäuser vom entschiedenen Christentum“ von den extremen Gemeinschaftskreisen ins Leben gerufen worden sind: in Vandsburg, in Marburg und in Gunzenhausen.
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Von den Baptisten brauche ich nur kurz zu reden. Sie entstammen den englischen Puritanern, die alles menschlich Gewordene ablehnen wollten, das Amt abschafften und den einzelnen auf sich selbst stellten. Zur Taufe muß man sich selbst entschließen und so wurde diese Richtung dazu geführt die Kindertaufe zu verwerfen und zugleich wurde die Form des Untertauchens als notwendig erklärt. Seit 1834 in Deutschland tätig, wollen sie auch Gemeinden| von lauter Heiligen sein und gehen gegen die Kirche, die sie als ein verderbtes Babel bezeichnen, sehr angriffsweise vor. Andere Sekten, die recht bezeichnend für den Geist der Willkür sind, sind die Adventisten vom 7. Tag, eine stark eschatologische, auf das Ende der Dinge gewandte Richtung. Die eine Gemeinde von lauter Gläubigen sein wollen, nehmen auch in ihren Kreisen mancherlei Mängel wahr wie wir. Wir haben hierbei den Trost, solange Gottes Wort und Sakrament da ist, ist auch noch die Kirche da. Jene dagegen sehnen sich nach dem baldigen Ende und warten mit Ungeduld auf das tausendjährige Reich. Das Warten ist recht, das Bitten um Jesu Kommen ist recht und soll von uns noch immer mehr geübt werden; aber die anmaßende Willkür ist unberechtigt, die Zeit bestimmen zu wollen und bestimmt zu behaupten, jetzt seien wir in dieser oder jener Periode. Davor muß man sich auch im gegenwärtigen Krieg hüten. Niemand sollte behaupten, daß die „eine Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit“ einen Beweis liefert, daß der gegenwärtige Krieg 31/2 Jahre dauern müsse. Das sind willkürliche Ausdeutungen; wenn die Zeit kommt, werden wir erkennen, daß das Wort der Weissagung sich erfüllt und dann wird es ein großer Trost sein. Das sage ich ganz allgemein über die eschatologische Denkweise der meisten Sekten und sektiererischen Richtungen und das gilt besonders von den Adventisten. Deren Stifter, der Amerikaner William Miller setzte 1838 das Ende der Dinge auf das Jahr 1843 fest, später auf das Jahr 1847 und später wieder auf einen anderen Termin. Diese Sekte ist chiliastisch, weil in verkehrter Weise auf das tausendjährige Reich gerichtet, baptistisch, weil sie die Kindertaufe verwerfen und judenchristlich, weil sie den Sabbat feiern statt des Sonntags, eine ganz willkürliche Sekte, von der man nicht denken sollte, daß sie in unsern Gemeinden Anhänger finden könne.
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Von den Irvingianern wollen wir nicht ausführlicher reden; eine Sekte sollte man sie nicht heißen; sie selbst sind tief gekränkt dadurch, nennen sich vielmehr „apostolisch-katholische Gemeinden.“ Sie wollen das Apostelamt in der Christenheit wieder erneuern, wie denn ihr Begründer, der Engländer Irving alle Schäden in der Kirche davon ableitete, daß keine Apostel mehr gewählt worden seien, die durch Handauflegung die verschiedenen Gaben hätten erhalten und mitteilen können. In ihrer Gottesdienstform haben sie sehr viel Altkirchliches, stehen in der Abendmahlslehre durchaus richtig und machen auch fleißig Gebrauch davon. Aber sie lehren willkürlich noch ein weiteres Sakrament, die Versieglung, das Hinzutun zur Schar der Auserwählten; das ist ein sektiererisches Moment. Sie achten nicht sehr viel auf das geschriebene Wort, mehr auf Weissagung, die in ihrer Mitte durch Propheten erschalle. In Deutschland gelang es ihnen einen sehr bedeutenden Theologen,| der bis dahin der lutherischen Richtung zugerechnet worden war, Heinrich W. J. Thiersch für sich zu gewinnen; dadurch hat sie in München und Augsburg und andern Städten besonders auch aus katholischen Kreisen Anhänger an sich gezogen.


IV.

Aber nun noch ein Wort über das Eindringen der Union.

Wenn man von dieser Mannigfaltigkeit der Richtungen hört, wie muß uns da Trauer das Herz beschleichen und uns der Wunsch beseelen, daß alle eins werden möchten, der Wunsch einer Vereinigung aller Gläubigen. Und Union heißt Vereinigung. Aber freilich, wir wollen eine Union auf Grund der Wahrheit, so hat sie auch Luther gemeint. Die Union von der wir jetzt reden ist von Menschen gemacht und wurde mit Gewalt des Staates eingeführt. Sie geht zurück auf Kurfürst Sigismund von Brandenburg, der 1613 zur reformierten Kirche übertrat. Er sprach große Worte darüber, daß er sein Gewissen nicht richten lassen könne von seinen Untertanen, aber auch über deren Gewissen nicht richten wolle. Im selben Atem aber sagte er auch davon, er wolle den abergläubischen Einrichtungen der Lutheraner bald ein Ende gemacht haben. Das Land folgte ihm bei seinem Uebertritt nicht nach; die Landstände hielten an der lutherischen Lehre fest. So entstand sehr bald bei ihm und seinen Nachfolgern der Gedanke einer Union. Der große Kurfürst suchte sie herbeizuführen durch das Verbot öffentlich gegen die reformierte Lehre zu predigen; aus diesem Grunde mußte, wegen seines Widerstandes dagegen, Paulus Gerhardt in die Fremde gehen. Der Nachfolger des großen Kurfürsten, Friedrich I. versuchte es auf andere Art; er setzte das Collegium caritativum, eine freiwillige Behörde ein, die auf eine Union hinwirken sollte. Dessen Nachfolger Friedrich Wilhelm I. versuchte es mit Simultankirchen. Friedrich Wilhelm II. versuchte es durch ein gemeinsames Kirchenregiment. Das alles konnte die Eigenart der lutherischen Kirche abschwächen, aber ihr den Bekenntnischarakter doch nicht rauben. Friedrich Wilhelm III. war es, der aus tieferer kirchlicher Einsicht den entscheidenden Punkt erkannte für die Union, nämlich die Abendmahlsgemeinschaft. Gerade vor 100 Jahren auf den 31. Oktober 1817, als das 300 jährige Jubelfest der Reformation gefeiert wurde, erließ er eine Proklamation, daß an diesem Tage seine sämtlichen Untertanen, reformierte und lutherische gemeinsam zum Sakrament gehen sollten, damit die beiden Kirchen zu einer Union vereinigt seien, wie er es selbst in Berlin tun wolle. Das geschah nun zwar, machte aber Eindruck höchstens in den Städten; auf dem Lande waren meist Reformierte nicht vorhanden und es blieb im wesentlichen beim Alten. Aber der König ging einen Schritt weiter. Zum 300 jährigen Jubiläumsfest der Augsburger Konfession 1830, ließ er eine neue,| Agende erscheinen, an der er zum Teil selbst mitgearbeitet hatte. Hier war für das heilige Abendmahl die bedenkliche Unionsformel vorgeschrieben: Christus spricht, das ist mein Leib, Christus spricht, das ist mein Blut, eine verfängliche Form, die absichtlich alles im Unklaren lassen soll. So hat Christus gesprochen, – nun kann jeder glauben und annehmen, was er will. Man hat dann später als der Widerstand gegen die Union doch weitere Kreise ergriff, die Sache zurückgewendet und mehr von einer Konföderation d. h. äußerem Zusammenschluß gesprochen: eine zeitlang ist sein Nachfolger noch einen Schritt weiter zurückgegangen, indem er sogar ein einigermaßen getrenntes Kirchenregiment einführte; aber es blieb die Abendmahlsgemeinschaft zwischen der lutherischen Kirche und den reformierten Gemeinschaften und das ist tatsächlich die Union; denn Abendmahlsgemeinschaft ist und bleibt Kirchengenieinschaft. An die Einführung der Unionsagende vom Jahre 1830 schloß sich der Kampf der treuen Lutheraner an, unter der Führung des Professors D. Scheibel in Breslau, der in Nürnberg begraben liegt, wo er eine Zuflucht fand. Löhe stand auch mit ihm in nächster Beziehung, nachdem er aus Preußen hatte weichen müssen. Daran knüpft das Wiedererwachen des entschiedenen, kirchlich-lutherischen Bewußtseins wieder an, wie eine Weissagung, daß, wenn das Ende der Kirche herbeigeführt werden soll, dann neue Lebenskräfte sich entfalten. – Das Eindringen der Union ist zur großen Gefahr für die lutherische Kirche geworden; denn sie ist in Deutschland um den größten Teil ihres Bestandes gekommen. Preußen, Baden, Anhalt, Hessen-Nassau, die Rheinlande, Hessen-Darmstadt sind der Union anheimgefallen und der unionistische Geist hat noch viel weitere Kreise erfaßt. Wir haben morgen, da wir von der Zukunft der Kirche reden wollen, daran wieder auf’s neue anzuknüpfen.

Da ist freilich die ewige eine Kirche, welche Gott gewollt hat, welche begründet wurde durch Christus, der Kirche Haupt, tatsächlich recht gespalten und zerrissen. Ja, wir sollten viel mehr und viel eindringlicher die Bitte an den Herrn richten, „auf daß sie alle eins seien, wie du Vater in mir und ich in dir.“ Gott helfe uns dazu durch seinen Geist und gebe uns Kraft durch seine Gnade!

Ps. 101. Lied 316.


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Einsegnungsunterricht 1917
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