Einer, der nicht viel besser ist, als sein Ruf

Textdaten
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Autor: F.
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Titel: Einer, der nicht viel besser ist, als sein Ruf
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aus: Die Gartenlaube, Heft 5, S. 76–79
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Einer, der nicht viel besser ist, als sein Ruf.

Vielfraß nennt man dieses Thier
Wegen seiner Freßbegier.

Der Vielfraß ist eine der interessantesten Thier-Erscheinungen, aber leider haben nur wenige zoologische Gärten Exemplare dieser Vierfüßler aufzuweisen. Er gehört zu jenen seltenen Thieren, welche ausschließlich die kälteren Regionen des europäischen und amerikanischen Continents bewohnen und höchst selten lebend zu uns kommen. Nicht nur wegen seiner Seltenheit, sondern vor Allem in wissenschaftlicher Beziehung ist dieser Repräsentant der nordischen Fauna ein willkommener Gast in unseren zoologischen Gärten, indem er uns so Gelegenheit bietet, einen Theil seiner Lebensweise sowie seines Gebahrens, über welches ja manches Fabelhafte berichtet worden ist, beobachten zu können.

Der Vielfraß – Gulo borealis – erreicht fast die doppelte Größe unseres gemeinen Dachses. Wie dieser, gehört auch er zu den fleischfressenden Raubthieren und steht als besondere Gattung zwischen den Mardern und den Bären. Die Zahl und Beschaffenheit seiner Zähne reihen ihn den ersteren an, während die plumpere Gestalt seines Körpers, sowie die Form seiner Füße, welche ein Auftreten mit der ganzen Sohle bedingt, eine gewisse Verwandtschaft mit den Bären bekundet. Dagegen zeigt der Kopf mit

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Vielfraße. Nach der Natur aufgenommen von Ludw. Beckmann in Düsseldorf.

[78] seiner breiten, etwas zusammengedrückten Schnauze, der kleinen Nase, den kurzen, abgerundeten Ohren, dem dicken Halse und namentlich den kleinen, schwarzen, frechen Augen, eine gewisse Aehnlichkeit mit der Fischotter und dem ihm sehr nahe stehenden europäischen Nörz. Sein Körper ist mit langen, zottigen Haaren bedeckt, die oben heller, unten dunkler braun sind. Zwischen diesen beiden Farbennüancen zieht sich beim Männchen ein hellbrauner Längsstreifen hin, welcher beim Weibchen in's Weiße übergeht. Das Gesicht zeichnet ein lichtgrauer Streifen, welcher Augen und Stirn verbindet. Der Schwanz ist verhältnismäßig kurz und mit dichten, langen Haaren besetzt, die an seiner Wurzel braun, an seiner Spitze schwarz sind. Die mit fünfzehigen Pfoten versehenen Beine sind kurz und kräftig.

Sehr charakteristisch ist der halb hüpfende, halb galoppirende Gang dieses Thieres. Seine Stimme ähnelt, wenn es, wie beim Füttern und Spielen, aufgeregt ist, dem Knarren der sogenannten Schnarren.

Aeltere Schriftsteller wie Michow, Bischof Olaus Magnus und Conradus Geßner erzählen die wunderlichsten Dinge über den Vielfraß. Auf den Ruf der unersättlichen Freßbegierde dieses Thieres fußend, erzählen sie allen Ernstes, wie Brehm bemerkt. „daß, wenn es ein Aas fände, es so lange daran fräße, bis sein Leib wie eine Trommel strotze“. Ferner wird berichtet, „dieses Thier sei das einzige, welches wegen seiner beständigen Freßlust den Namen ‚Jerf‘, im Deutschen ‚Vielfraß‘ erhalten habe, sein kostbarer und glänzender Pelz werde zur Verfertigung von Luxusmänteln benutzt, deren Anschaffung nur Fürsten möglich sei“; witzig ist die Behauptung, „daß alle die, welche diese Mäntel tragen, von einer unersättlichen Eßlust befallen werden“. Brehm, der den Vielfraß auf seinen Reisen in Skandinavien ein einziges Mal zu Gesicht bekam und dort Gelegenheit hatte, genauere Erkundigungen über denselben einzuziehen, berichtet, „daß das Wort Fjälfräß, mit welchem man das Thier dort bezeichnet, eigentlich nicht ‚Vielfraß‘ sondern ‚Felsenkatze‘ bedeutet, und daß es weder in der schwedischen, noch in der finnischen Sprache Verwandtschaft mit dem Worte Vielfraß hat. Die Finnen nennen das Thier Kampi, bei den Russen heißt es Rosamaka und Jerf bei den Skandinaviern“. Conrad Geßner, welcher so viele fabelhafte und schauerliche Dinge über Thiere geschrieben hat, die er nie gesehen, erzählt unter Anderem: der Vielfraß hätte einen scheußlichen Leib, voller blauer Flecken, seine Augen, welche die Farbe nach Belieben ändern könnten, seien schrecklich, und um all diesem Unsinn die Krone aufzusetzen, behauptet er, die Augen des Vielfraßes verwandelten sich nach seinem Tode in Stein.

Pallas war der Erste, welcher genaue Notizen über den Vielfraß brachte und eine naturgetreue Schilderung desselben gab. Nach ihm soll er in Finnland Fjäljerf heißen, was eigentlich Felsenbewohner bedeutet. Auch ist nach seiner Beschreibung das Thier lange nicht so blutdürstig und gefräßig, wie sein Ruf es glauben macht.

Buffon erhielt einst aus den nördlichen Gegenden Rußlands einen Vielfraß, welcher über anderthalb Jahre in Paris lebte. „Er war so gezähmt,“ sagt er, „daß er gar nichts Scheues an sich hatte und Niemandem etwas zu Leide that. Sein Gang ist ein beständiges Springen. Er frißt viel, wenn er sich aber satt gefressen hat und noch Fleisch übrig geblieben ist, so bringt er dies in seinen Käfig und verbirgt es unter Stroh. Beim Trinken lappt er wie ein Hund, er frißt kein Brod und schreit auch gar nicht. Sobald er getrunken hat, wirft er das übrige Wasser unter sich. Selten sieht man ihn ruhig.“

Auffallend ist es, daß Buffon behauptet, der Vielfraß fresse kein Brod und schreie gar nicht. Nach den im zoologischen Garten zu Köln gemachten Beobachtungen ist er ein rechter Schreihals, frißt auch gern Brod und trinkt nicht weniger gern Wasser. Obgleich zu den Carnivora gehörend, ist er kein absoluter Fleischfresser. Man kann ihn ernähren wie die Waschbären und die eigentlichen Bären; nöthigen Falles genügt ihm auch Milch und Brod.

In früheren Zeiten soll der Vielfraß über ganz Deutschland verbreitet gewesen sein, seit einigen Jahrhunderten aber nur noch die nördlichen Gefilde Skandinaviens und Rußlands, sowie Nordamerikas bewohnen. Dort hält er sich entweder in Wäldern oder wenig bewohnten felsigen Gegenden, vorzugsweise aber in den Abhängen felsiger Hochgebirge aus, wie in den wildesten und verlassensten Gegenden von Fillefields und Dovrefields in Norwegen, wo nur isländisches Moos (Cetraria islandica), ein kurzes weißliches Gras und einige verkümmerte Birken und Nadelhölzer wuchern. Den Tag verbringt er gewöhnlich in Felsenklüften, des Nachts aber wird er thätig und geht auf Beute aus. Nicht nur alle kleineren Säugethiere, wie Ratten, Eichhörnchen, Mäuse etc., dienen ihm zur Nahrung, selbst Renthiere und Elche soll er nach Steller’s Erzählungen, die von Brehm bestätigt werden, überfallen, ihnen die Gurgel zerbeißen, und nachdem sie verblutet sind, sich an ihren Cadavern ergötzen. Im Falle der Noth verschmäht er auch das Aas nicht. Er folgt den Wölfen und Füchsen, um die Ueberbleibsel der von diesen ermordeten Thiere zu verzehren. Auch ist er der Schrecken der Landwirthe in diesen Gegenden, da er Nachts die Ställe überfällt und ohne Erbarmen ganze Heerden von Schafen oder Ziegen mordet und ihnen das Blut aussaugt.

Obgleich sehr rauhhaarig, ist das Fell des Vielfraßes dennoch in den meisten Gegenden Rußlands und Skandinaviens sehr gepriesen. Namentlich gilt dies von den seltener vorkommenden weißgelben Fellen, welche in anderen Ländern weniger geschätzt werden. Trotz seiner geringen Größe ist der Vielfraß kein zu verachtender Gegner, berichtet Brehm. Man versichert, daß selbst Bären und Wölfe ihm aus dem Wege gehen. Gegen den Menschen wehrt er sich nur dann, wenn er nicht mehr ausweichen kann. Obschon er unbeholfen in seinen Bewegungen erscheint, so ist er doch viel flinker, als man vermuthet. Gewandt hüpft er auf Bäumen und Felsen umher und schlägt Purzelbäume mit der größten Leichtigkeit. In Kamschatka soll sein Fell so geschätzt sein, daß nur reiche Leute es als Pelz zu tragen vermögen. Die wohlhabenden Frauen von dort schmücken ihre Haare mit den weißen Pfoten des Vielfraßes.

Einige Reisende behaupten, unser Vierfüßler wage sich auch an Hirsche, deren Fleisch ein Leckerbissen für ihn sei. Zu diesem Zwecke klettere er auf Bäume, unter welchen das Wild zu ruhen oder zu grasen pflegt, springe von hier auf dessen Nacken, halte sich am Geweih fest, kratze seinem Opfer die Augen aus und zerbeiße ihm die Gurgel, ohne daß das Thier sich dagegen wehren könne.

Das Wahre von allen diesen Erzählungen, welche überall, wo Vielfraße vorkommen, als Evangelium gelten, ist schwer von den Fabeln zu trennen, die ältere Schriftsteller über das Thier verbreitet haben. Allein wenn wir auch nur das Wahrscheinliche annehmen, so müssen wir zugeben, daß der Vielfraß ein in jeder Beziehung interessantes Geschöpf ist.

Ueber das sociale Zusammenleben der Vielfraße weiß man bis jetzt nur wenig. Ein glaubwürdiger Augenzeuge erzählte uns kürzlich, daß die Thiere nur beim Eintritte der Nacht ihre Verstecke verlassen, um auf Raub auszugehen; jedes für sich allein. Ihre ungeheure Freßgier scheint sie von einer gemeinsamen Jagd abzuhalten. Auch sind ihre Liebesbeziehungen nichts weniger als zärtlicher und gemüthlicher Natur; wenigstens hat man nur während der Paarungszeit Männchen und Weibchen beisammen gefunden, und letzteres setzt den Liebesbezeigungen des Männchens den größten Widerstand entgegen. Nach Erik gebärt das Weibchen zwei bis drei Junge, welche es nach viermonatlicher Tragzeit in dichten Waldungen oder verborgenen Schluchten zur Welt bringt. Die jungen Vielfraße werden erst im dritten Jahre fortpflanzungsfähig, und bis dahin verbleiben sie im Domicil und unter der Obhut ihrer Mutter. Das erste Auftreten der Vielfraße im zoologischen Garten zu Köln war derart, daß man geneigt war, den Geschichten Glauben zu schenken, welche über dieselben verbreitet sind. Kein Thier hatte bisher bei seinem ersten Erscheinen durch sein ungewöhnliches Wesen und Treiben, welches alle Besucher des Gartens herbeilockte, eine ähnliche allgemeine Ueberraschung hervorgebracht. Unsere Thiere, ein echtes junges Pärchen, zeigten schon, als sie kaum ein Jahr alt waren, alle die Eigenschaften, die Erwachsenen vielfältig zugeschrieben werden. Sie sind frech und trotzig, aber nicht bösartig. Bei Tage sind sie ziemlich geduldig; sie ruhen und schlafen dann zuweilen; bricht aber die Dämmerung herein, so beginnt ihr unruhiges Schalten und Walten. Namentlich bei der Morgens und Abends stattfindenden Fütterung bietet ihr Gebahren ein höchst befremdendes und ergötzliches Schauspiel. Sie laufen alsdann tobend hin und her, springen hüpfen, galoppiren, schlagen Purzelbäume, reißen sich gegenseitig die Bissen aus dem Maule, schreien wie besessen und fallen über einander her, als wollten sie sich zerfleischen - kurz sie geberden sich als wahrhaft wüthende Bestien, ohne sich jedoch irgend welches Leid anzuthun.

[79] Wenn auch sehr viel Uebertriebenes über die Freßbegierde der Vielfraße berichtet worden ist, so können wir nach dem, was wir bis jetzt an den unserigen constatirt haben, nicht umhin zu gestehen, daß jeder Unbefangene sofort von der außergewöhnlichen Gier und Freßlust dieser Thiere überzeugt sein muß, und wenn auch unsere Vielfraße verhältnißmäßig nicht mehr fressen, als andere Raubthiere von gleicher Größe, so geberden sie sich doch stets derart, als wären sie wirklich verhungert oder an Freßsucht leidend. Natürlich können wir aus dem, was ihnen bisher geboten, nicht die Quantität dessen bestimmen, was sie zu fressen vermögen, indessen getrauen wir uns nicht mit ihnen Experimente zu machen, die ihnen zu leicht gefährlich werden könnten. Morgens erhalten sie ein Liter Milch mit Wasser und Brod, gegen elf Uhr jeder ein Viertel Kilogramm Kalbfleisch und Abends ein Kilogramm Pferdefleisch. Wasser trinken sie im allgemeinen wenig; sie spielen und plätschern aber gern damit.

Wir werden später hoffentlich im Stande sein, noch Näheres über das Verhalten dieser interessanten Geschöpfe zu berichten. Hier sei schließlich noch bemerkt, daß der Wärter auf sehr vertrautem Fuße mit ihnen steht. Er spielt mit ihnen, legt sie der Länge nach auf den Rücken, streichelt sie und steckt ihnen die Hand in das Maul, ohne daß ihm jemals ein Leid widerfahren ist.

F.