Eine zweite schwedische Nachtigall

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Titel: Eine zweite schwedische Nachtigall
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aus: Die Gartenlaube, Heft 16, S. 255
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[255] Eine zweite schwedische Nachtigall. Neben Adeline Patti und Pauline Lucca gehört jedenfalls Christine Nilsson zu den ausgezeichnetsten Sängerinnen der Gegenwart und bildet auch mit ihren nordischen goldblonden Haaren, den tiefblauen Augen, den regelmäßigen Zügen und der hohen, schlanken Gestalt ein treffliches Pendant zu jenen beiden schwarzlockigen Schönheiten. Dazu ist ihre Lebensgeschichte interessant genug, um alle mögliche Theilnahme für sie zu wecken, denn nur ein bedeutendes Talent kann sich in solcher Weise emporarbeiten. Christine Nilsson ist die Tochter sehr armer Bauersleute in einem elenden kleinen Dörfchen der schwedischen Provinz Smaland; sie wuchs unter einer Anzahl zerlumpter kleiner Geschwister und einigen Ziegen, Schafen und Hühnern auf, welche cameradschaftlich das einzige Zimmer ihrer elterlichen Hütte theilten. Die Mutter spann und spann von früh bis Abends, der Vater arbeitete auch so viel als möglich, aber dennoch wollte es ihnen kaum gelingen, die vielen hungerigen Magen täglich zu sättigen.

Christine war kaum zehn Jahre alt, als sie schon die außerordentlichsten Anlagen zur Musik zeigte; sie lernte von dem Spielmann, der auf den Bauernhochzeiten musicirte, mit Leichtigkeit einige Stücke auf der Violine spielen und sang wie eine Lerche mit lieblicher Stimme und vielem Gehör jedes Liedchen nach, welches sie hörte, so daß man sich bei allen ländlichen Festen um die kleine Sängerin und Musikantin riß. Oft mußte sie im Winter mit ihrer Violine am Wege stehen, wenn man von Weitem Schellengeklingel vernahm und einen vorüberkommenden Reisenden vermuthete, um einige Schillinge zu verdienen und dadurch Brod in das Haus zu schaffen.

Ein reicher Gutsbesitzer nahm sich später des talentvollen Kindes an und gab sie in eine benachbarte Stadt, damit sie ordentlichen Unterricht genießen könne; von da aus brachte er sie dann nach Stockholm, wo er sie von einem berühmten Musiklehrer weiter ausbilden ließ, und schließlich sandte er sie nach Paris, um sie durch Professor Wartel für die theatralische Laufbahn vorbereiten zu lassen.

Nach dreijährigen Studien unter der Leitung Wartel’s fand Christine ein Engagement am Pariser Théâtre Lyrique, wo sie namentlich in Martha, der Zauberflöte und Don Juan die Herzen zu gewinnen wußte.

Seit Kurzem ist der Glücksstern der schwedischen Sängerin noch glänzender aufgegangen; sie ist an der großen Oper in Paris engagirt und macht daselbst als Ophelia in der Oper „Hamlet“ von Ambroise Thomas ungeheures Furore, da sie für diese Rolle wie geschaffen scheint. Man erzählt sich, daß Thomas seine Oper seit acht Jahren vollendet gehabt, aber nie eine Sängerin gefunden, welcher er die Rolle der Ophelia hätte anvertrauen mögen. Vielleicht wäre die Oper auch noch länger in seinem Pulte geblieben, wenn er nicht eines Tages den Musikverleger Hengel besucht und demselben die Partitur vorgespielt hätte.

„Das ist schön, herrlich!“ rief Hengel. „Ich gebe Ihnen dafür, was Sie wollen. Wann soll die Oper aufgeführt werden?“

„Wenn ich eine Ophelia gefunden haben werde.“

In diesem Moment steckte Christine Nilsson, die im Geschäft gewesen und im Nebenzimmer den Maestro spielen gehört, ihren lieblichen Kopf zur halbgeöffneten Thür herein.

„Da haben Sie Ihre Ophelia!“ rief Hengel halb lachend, halb ernst.

Schon wenige Stunden später trat der Director der großen Oper in Unterhandlungen mit Christine, und kurz darauf waren die Proben der Oper im vollen Gange.

Unter den vielen Bewunderern, welche die holde Ophelia mit ihrem hinreißenden Gesange fand, eroberte sie auch im Sturme ein Herz – das Herz Gustav Doré’s, mit dem wir in unserer heutigen Nummer unsere Leser bekannt gemacht haben. Binnen Kurzem wird Christine Nilsson Doré’s Gattin sein.

Wir finden die junge Sängerin nach so mannigfachem Schicksalswechsel jetzt in einer reizenden Wohnung der Rue Rivoli in einem mit Weiß und Gold drapirten Salon und blauseidenen Möbeln vor einem Kamin aus carrarischem Marmor, der mit antiken Schalen und Statuen verziert ist. Sie steht auf und setzt sich an das mit unzähligen Opernpartituren bedeckte prachtvolle Piano, auf dessen Tasten ihre Finger träumerisch umherirren. Woran sie wohl denken mag? Vielleicht an die Triumphe des heutigen Abends? Nein, sie blickt in weite Vergangenheit zurück, sie sieht sich wieder in der ärmlichen Hütte ihrer Eltern, mitten unter den zerlumpten Geschwistern, für deren Fortkommen sie jetzt getreulich sorgt; sie hört aus der Ferne das Schellengeklingel eines Schlittens und hört den Vater rufen: „Christine, nimm Deine Violine und geh’ hinaus an den Strand!“

Wer ihr damals gesagt hätte, welcher Glanz, welche Huldigungen sie heute umgeben würden!