Eine wenig Beachtete
Eine wenig Beachtete.
Wer an warmen Frühlings- oder Sommertagen an einem Teich oder Bach vorbeiging, der hat sich gewiß gefreut über das Leben und Treiben der zierlichen Wasserjungfern, die mit ihren schlanken blaugefärbten Leibern in anmutigen Bewegungen über bunte Blumen und zwischen hochgeschossenem blühendem Grase dahinschwirrten. Unbemerkt aber bleibt von den Meisten eine etwas entfernte Verwandte dieser schillernden Libelle, die nicht gleich ihr im Sonnenlichte tanzt, sondern während des Tages in unscheinbarem, einfarbigem Gewand mit anliegenden Flügeln still dasitzt an den Halmen des Röhrichts und der Binsen, oder an den Zweigen des niederen Erlen- und Weidengebüsches. Dies ist die eine oder andere der in Deutschland in mehreren Arten vorkommenden Köcherjungfern (Phryganeodea).
Erst gegen Abend, wenn die Sonne von Wasser- und Wiesenflächen gewichen, wenn die Dämmerung beginnt sich langsam auf Wasser und Wiesenflur zu senken, wenn der schmetternde Vogelgesang des Tages verstummt und nur der gleichförmige Ruf der Wachtel aus nahegelegenen Feldern vernehmbar ist, da verläßt dies einfach gefärbte und besser zur Dämmerung als zum hellen Lichte des Tages passende Insect das Plätzchen, an welchem es den Tag über fast regungslos gesessen, um die Flügel auszubreiten und lautlos dahinzufliegen über Wasserspiegel und Wiesenflur.
Und doch bietet das stille Leben dieses unscheinbaren Geschöpfes dem fleißigen Beobachter der Natur soviel des Interessanten, daß es sich wohl verlohnt, auch weitere Kreise auf das Treiben dieser Wassermotten aufmerksam zu machen.
Ihre Larve schwimmt nicht wie andere im Wasser lebende Insectenlarven, wie z. B. die der Libellen und Wasserkäfer, frei umher, sondern sie erbaut sich aus verschiedenen ihr erreichbaren Stoffen ein köcherartiges Häuschen, in welches sie sich jederzeit zurückziehen und sich so vor Gefahr schützen kann. Dieser Eigenthümlichkeit der Larve verdankt das Thier seinen Namen „Köcherjungfer“.
In den Frühlingsmonaten findet man die kleinen sonderbaren Gehäuse dieser Thiere fast in allen Teichen und Wassergräben, auch in Bächen, theils an der Oberfläche schwimmend, theils auf dem Boden dahin kriechend. Die Gestalt und noch mehr die verwandten Baustoffe der Gehäuse weichen ziemlich von einander ab, denn die Größe des Hauses wird bestimmt durch die Art, welcher die Larve angehört. Bei der Wahl des Baumaterials richtet sich das Thier natürlich nach dem, was die Oertlichkeit bietet. In schilfbewachsenen Teichen sind es hauptsächlich keine Röhrichtstücke, in Bächen die in’s Wasser gefallenen Rindentheile von Erlen, die zur Verwendung kommen, in Wiesengräben werden kleine, von den Thieren teilweise selbst zugeschnittene Blatttheile von Wassersternen, Wasserminzen und ähnlichen Pflanzen benutzt. Mitunter sind auch kleine Muscheln und Wasserschnecken am Gehäuse befestigt. Manche Arten bauen ihre Köcher nicht aus Pflanzenstoffen, sondern aus kleinen Steinen und Sandkörnern. Die verschiedenen aus vegetabilischen Stoffen erbauten Wohnungen bilden fast ausnahmslos eine beinahe cylinderförmige, an beiden Enden offene, hinten indessen etwas enger verschlossene Röhre, welche inwendig mit einem starken seidenartigen Stoff, ähnlich dem, welchen die Raupen unserer Nachtfalter beim Verpuppen bilden, ausgekleidet ist.
Einige der Arten, welche Sand und Steinchen verwenden, bauen ein kleines nur wenige Millimeter langes Gehäus in Form eines kunstvollen Hörnchens. Das links auf unserer Abbildung (S. 512) dargestellte Gehäuse, welches aus Tennessee in Nordamerika herstammt, wurde sogar lange Zeit für das Erzeugniß einer Schnecke gehalten, während es in der That von einer Köcherfliege, Helicopsyche Shuttleworthi, gebaut wird.
Das eigenthümliche Leben aller dieser kleinen Hausbesitzer läßt sich nun am besten beobachten, wenn man dieselben mit nach Hause nimmt und in’s Aquarium setzt. Hier bemerkt man alsbald, wie aus dem kleinen Gehäuse ein Kopf und nach und nach sechs Beine hervorkommen, wie die grünlich gefärbte Bewohnerin desselben bemüht ist, sich durch Rudern fortzuarbeiten, wie sie sich bei drohender oder vermeintlicher Gefahr in ihr Haus zurückzieht und dasselbe langsam zu Boden sinken läßt, nach kurzer Zeit aber wieder heraufsteigt, um die Blätter und Ranken der Wasserpflanzen zu erreichen, sich an denselben festzuklammern und sie zu benagen. Dadurch richten freilich die Larven der Köcherjungfern im Aquarium ziemliche Verheerungen an, denn Wasserpflanzen bilden, wie es scheint, ihre einzige Nahrung. Dazu nagen sie an denselben oft ganze Aestchen durch und erlangen in dieser Zerstörungsarbeit, dank ihren am Kopf befindlichen Zangen, bald ziemlich beträchtliche Resultate.
Im übrigen lassen sie alle Mitbewohner unbehelligt, und [504] wenn sie auch nicht gerade zu den durch lebhaften Farbenglanz, zierlichen Gliederbau oder große Beweglichkeit hervorragenden Insassen des Aquariums gehören, so tragen sie doch durch die oft wunderbarsten Formen ihrer Gehäuse dazu bei, die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen zu vergrößern. Besonders abenteuerlich erscheint es, wenn die auf unserer Abbildung wiedergegebenen, aus Schilfstückchen, Moos und Muscheln erbauten Gehäuse langsam auf- und niedersteigen, oder wenn die hinten mit zwei lang hinausragenden Aestchen oder Würzelchen verzierten Köcher auf dem Boden dahinkriechen.
Im Aquarium hat man auch die beste Gelegenheit, die Art und Weise, wie von diesen Larven ihre Häuser gebaut werden, zu beobachten. Die Larven sind nämlich nicht in denselben festgewachsen, sondern können leicht aus denselben ausgetrieben werden, wenn man an der hinteren Oeffnung des Gehäuses vorsichtig eine abgerundete Stricknadel einschiebt und auf diese Weise die Larve zum Herauskriechen zwingt. Bringt man das Thier nun in ein mit Wasser gefülltes Gefäß, dessen Boden mit Holzstückchen, Moosresten und anderen Pflanzenstoffen bedeckt ist, so beginnt es ziemlich bald mit dem Baue eines neuen Hauses. Soweit ich beobachten konnte, verfährt es dabei in folgender Weise. Anfangs kriecht die Larve scheinbar planlos zwischen dem Baumaterial umher, faßt ein Hölzchen oder Blättchen mit ihren Füßen und Zangen, bis sie etwa aus drei bis vier Hölzchen oder Blättchen um ihren Kopf einen Kranz gelegt hat, den sie nun etwas nach hinten schiebt, einen neuen Kranz daran fügt, diesen wieder rückwärts schiebt, und so ein neues Haus zu Stande bringt In dieser Arbeit sind etwa eine bis zwei Stunden erforderlich. Läßt man das Thier nun ungestört, so bessert es noch eine Zeitlang an seiner neuen Wohnung aus. Die Bildung des erwähnten inneren Gespinstes erfolgt erst nach vollendetem äußerem Baue.
Die Lebenszeit der Larve dauert etwa bis Ende Mai oder Mitte Juni. Alsdann ist sie völlig erwachsen und denkt daran, sich zu verpuppen. Sie schließt nun die beiden Oeffnungen ihrer Wohnung mit Moos, hängt sich an Wasserpflanzen fest oder verarbeitet sich förmlich, wie ich es an einer Art zu beobachten Gelegenheit hatte, mit Vorliebe in dichtes Moos, welches am Rande des Teiches unter dem Wasserspiegel wächst.
Die Puppenruhe dauert etwa zwei bis drei Wochen, nach welcher Zeit die Jungfer ausfliegt, während das leere Gehäuse entweder am Moos hängen bleibt, oder auf der Oberfläche des Wassers umher treibt und zerfällt.
Die Größe der einzelnen Arten von Köcherjungfern ist verschieden; mit ausgebreiteten Flügeln messen die größeren drei bis vier Centimeter. Die Färbung ist bei allen Arten unscheinbar, die größeren Oberflügel sind braun oder grau oder gar fast durchsichtig, nur stellenweise mit einem mattfarbigen Anflug oder eben solchen Zeichnungen versehen; die kleineren Unterflügel, welche beim Sitzen verdeckt bleiben, sind farblos. Auf unserer obenstehenden Abbildung ist rechts die bekannteste, rautenfleckige Köcherfliege dargestellt, links zwei seltenere Arten (Phryganea grandis und reticula).
Die unansehnliche Färbung, die, wenn man so sagen darf, zurückgezogene Lebensweise unserer Jungfer, ferner die Aehnlichkeit der Gehäuse der Larve mit in’s Wasser gefallenen Aestchen oder abgestorbenen Pflanzenresten tragen dazu bei, daß diese Thiere, welche ja ohnehin weder nutz- noch schadenbringend in das Leben der Menschen eingreifen, von den Meisten unbemerkt und unbeachtet bleiben. Von ihrem Dasein und Leben wissen etwas Näheres nur Die, welche sich für das stille Treiben lebender Wesen im und am Wasser besonders interessiren, welche Genuß finden an der Erkenntniß der unendlichen Schöpferkraft der Natur und ihrem tausendfältigen Leben und Weben.
[512]