Eine italienische Dorfgeschichte
Man muß sie erlebt haben, jene milden Nächte Italiens, um den magischen Zauber, den unbeschreiblichen Eindruck zu begreifen, mit dem sie die Seele berauschen, mit süßer Trunkenheit erfüllen. Ein märchenhafter Glanz liegt ausgegossen über dem tiefdunkeln, mit tausend und tausend hellflammenden Sternen besäeten Himmel, und verklärt mit eigenthümlich ergreifendem Schimmer die reizenden Formen des wunderbar herrlichen Landes. Tiefe Stille ruht auf der schweigenden Landschaft; nur in den Wipfeln der schattigen Ulmen, in dem flüsternden Laube der Silberpappel rauscht leise die mit berauschendem Wohlgeruche geschwängerte warme Nachtluft, und spielt mit den leichten Rebenguirlanden, die sich malerisch von Baum zu Baum schwingen, und mit den tausend glänzenden Blüthendolden, die von Busch und Baum, von Hag und Rainen, von Wand und Pfeilern uns träumerisch entgegennicken.
Und auf den Stufen der grünumlaubten Treppe, oder unter der schattigen Veranda ruhen in malerischen Gruppen die Dorfbewohner, mitten unter ihnen der Erzähler. Das volle Mondlicht selbst stiehlt sich neugierig durch das breite, saftige Blätterdach, und beleuchtet die ausdrucksvollen Physiognomien der dunkeln Gestalten, die mit athemloser Spannung den Worten des Erzählers lauschen.
Und in der That, der Eindruck dieser Erzählungen ist unvergleichlich. Die stille Nacht mit ihrem Zauberglanze, die reizende Umgebung, der melodische Klang der Sprache, in der selbst des Bettlers Wort uns zum Gedichte wird, – das Alles stimmt schon von selbst das Herz zu poetischer Empfänglichkeit; wie wenig bedarf es, dem Vortrage des Erzählers eine Wirkung zu sichern, wie sie im kalten Norden nur die höchste Kunst, und sie so selten, erreicht.
Einen solchen Erzähler lernte ich einst in der Umgegend Turins kennen. Es war der Seelsorger und zugleich der Schullehrer des Ortes, ein vortrefflicher, würdiger alter Mann. Hatte er seine Messe gelesen, sein Brevier gebetet, seine Schule gehalten, auch wenn es sich gerade traf, seine Beichte gehört, so versammelte er des Abends seine Gemeinde um sich, um ihnen einfache Geschichten, die er selbst erlebt hatte, zu erzählen.
Eine seiner Geschichten klingt mir noch heute lebendig im Ohre. Ich versuche, sie wörtlich hier so zu erzählen, wie ich sie gehört und, wenn ich auch nicht hoffen kann, jene Wirkung wiederzugeben, die sie damals in mir zurückließ, so wird doch das eigenthümliche Gepräge der Wahrheit, das sie in so hohem Grade trägt, gewiß auch so seines Eindrucks nicht verfehlen.
So begann der Erzähler:
Zur Franzosenzeit, da war die Conscription. Söhne, Brüder, Gatten wurden schonungslos den Armen ihrer Familien entrissen, und zusammengekoppelt, wie die Thiere, wurden sie weggeschleppt, weit, weit weg – zur Schlachtbank. Eine Schlächterei war es, und als eine blutige Schlächterei betrachtete es das Volk, das arme Land, das man ohne den mindesten Nutzen für uns seiner besten Söhne unbarmherzig beraubte.
Ich wohnte damals auf dem Monte ferrato, in der Nähe von Locarno. Zu meinen kleinen Zöglingen gehörten auch zwei Kinder, deren Familien Nachbarn, und, wenn ich nicht irre, auch entfernt verwandt waren. Maria und Tonietto waren unzertrennliche Spielgenossen und die treuesten Freunde. Wer sie nicht kannte, hielt sie für Bruder und Schwester; die sie kannten, meinten, sie würden einmal das schönste Pärchen, das es auf der Welt geben könne.
Und in der That, mit achtzehn Jahren war Tonietto der stattlichste Bursche der ganzen Gegend, und der schönste junge Mann, den ich je gesehen. Maria war ein blondes Madonnengesichtchen, zart, rein, einfach, wie eine Taube. Und herzensgut waren Beide, und im Uebrigen vollkommen mit denen einverstanden, die da meinten, daß sie für einander geschaffen seien. Das ganze Dorf war ihnen gut, und seit man von ihrer Liebe wußte, ihnen nur um so herzlicher zugethan.
Das Mädchen war sechzehn Jahre alt, die Hochzeit beschlossen. Nur die Ziehung wollte man noch abwarten. Was sollte ihre Verbindung, wenn Tonietto Rekrut und die arme Maria schon am Hochzeitsmorgen Wittwe werden mußte?
So dachten die Eltern, aber durchaus nicht so die Brautleute. Wenn sie nur erst seine Frau wäre, meinte Maria, so würde sie ihm folgen zum Regiment, wohin es sei, wenn’s sein müßte, als Marketenderin. Diese Idee gefiel zwar Tonietto wenig, gleichwohl meinte auch er, für alle Fälle, auch wenn er fort müßte, sei es besser, wenn sie sein Weib wäre. Aber nicht lange trübten solche Ueberlegungen ihr junges Glück. Die Sorglosigkeit, die Zuversicht der Jugend hatte bald die trüben Befürchtungen verscheucht. Der Himmel könne so grausam nicht ihr Glück zerstören, das hofften sie fest. Dann dachten sie nicht mehr daran, und liebten sich nur um so inniger.
Aber nur zu rasch kam die Zeit der Aushebung. Auf dem ganzen Dorfe lag ein banger Druck. Die jungen Brautleute wurden Gegenstand des allgemeinsten Mitleids. Maria, vor einigen Tagen noch so blühend, so frisch, so lebensmuthig, sah welk, niedergeschlagen, [246] bleich. Die schönen großen Augen waren trüb und zeugten von schlaflosen, kummervollen Nächten. Tonietto schien in fieberhafter Aufregung; mit glühenden Wangen, die Lippen aufgedunsen und fest an einander gepreßt, starrte er mit weit aufgerissenen Augen wüthend und unheimlich Jeden an, als ob er in Jedem den Gensd’armen sähe, der ihn seiner Braut aus den Armen reißen wolle. Auch in seinen sonstigen Gewohnheiten zeigte sich eine auffallende Veränderung. Bisher war er unbestritten der geregeltste junge Mann des Dorfes gewesen; jetzt fing er an, sich öfters aus dem elterlichen Hause wegzuschleichen, zuweilen blieb er selbst zwei, drei Tage aus. Fragte man ihn nach der Ursache, so wollte er bald hier, bald dort Festlichkeiten der Umgegend beigewohnt haben. Aber Niemand glaubte ihm; Maria hatte ja ihre Wohnung nicht verlassen. Es ging das Gerücht, daß er mit Banditen Verbindungen angeknüpft habe, deren sich damals einige in der Umgebung des Dorfes festgesetzt hatten, der letzte Rest der Bande Majino’s, des „Alpenkaisers“, wie er sich nannte, die früher Jahre lang dort gehaust hatte.
Mochte dem sein, wie ihm wollte, gewiß ist, daß Tonietto sich am Ziehungstage in dem Hauptorte des Departements einfand. Man hatte bemerkt, daß Maria ihn begleitet hatte. Auf dem ganzen Wege hatte sie ihm dringend und bittend zugesprochen; es schien, als ob sie sich große Mühe gegeben, ihn zu irgend Etwas zu überreden. Schweigend und mürrisch war er neben ihr gegangen, mit einem Ausdrucke schlecht verhehlten Mißbehagens.
In dem Saale, wo die Ziehung stattfinden sollte, verließ er trotzig den Arm seiner Braut. Das arme Kind verbarg sich schnell in einem Winkel und erwartete muthig die Verkündigung der Loose; Tonietto mischte sich unter die Gruppen der jungen Leute, die das gleiche Schicksal dort hingeführt, die die gleiche bange Erwartung erfüllte. Alle betrachteten ihn mit lebhafter Theilnahme. „Tonietto,“ sagten sie, „wenn nur Dir Gott eine gute Nummer schickt! Wir haben Vater, Mutter, die wir pflegen und stützen müssen; will es aber das Schicksal anders, was ist’s weiter? Wir tragen dann keine Schuld, und – wir sehen die schöne weite Welt! Und dann, wie viele sind nicht heut zu Tage, die ganz wie wir die Heimath verließen, und als Offiziere, Generäle aus dem Kampfe zurückkehrten? – Aber Du, armer Tonietto, Du, mit Deiner lieben, reizenden Braut, – nein, das wäre sündlich!“
Tonietto antwortete nicht.
Endlich kamen der Präfect, die Militairbehörden, und die Ziehung begann. Nach der Reihe trat Jeder vor. Arme Maria, wie bebte dein Herz, als jetzt auch Tonietto vortreten mußte.
Er schien ruhig. Er zog – – Nr. 2.
Kein Zweifel war mehr möglich. Er trat zurück.
Maria trug man ohnmächtig hinweg; Tonietto sprach kein Wort.
Sobald die Ziehung beendet war, erhielten die Conscribirten den Befehl, sich in drei Tagen wieder zu gestellen. Man verlas ihnen die Kriegsartikel über die Strafe der Renitenten, und Alles zog sich zurück.
Die Eltern Tonietto’s wollten ihn mitnehmen. Er weigerte sich; er ginge mit den Andern, sagte er, und werde sie auf dem Wege wieder einholen.
Aber vergeblich erwartete man ihn den ganzen Tag und die folgende Nacht. Er kam nicht.
Neue Unruhe, neuer Schreck! Man gedachte jener schrecklichen Strafen, die nicht nur Tonietto erwarteten, sondern auch die Eltern des Deserteurs treffen mußten. Alle glaubten sich verloren.
In dieser Angst harrten sie drei lange Tage, aber immer vergeblich, auf seine Rückkehr. Am vierten Tage kam ein Sous-Offizier der Gensd’armerie, seine Abwesenheit zu constatiren. Aus Rücksicht für die braven Eltern bewilligte man ihnen noch eine Frist von zwei Tagen, um den Widerspenstigen zu gestellen. Aber wo sollten sie ihn suchen? – Sie waren der Verzweiflung nahe.
Am sechsten Tage schickte man ihnen zwei Mann Wache.
Aber am Abend dieses Tages sahen verspätete Landleute mehrere verdächtige Gestalten das Haus umschleichen. Um zwei Uhr des Morgens erschien in der Wohnung ein unbekannter Mann, und forderte den Vater Tonietto’s auf, hinter die Kirche zu kommen, es verlange ihn Jemand zu sprechen. Er ging hin und fand – seinen Sohn. Fast drei Stunden lang blieben sie dort und verhandelten sehr eifrig mit einander.
Man glaubte, Tonietto habe seinen Vater, der noch rüstig und kräftig genug war, überreden wollen, sich ihm und seinen Genossen anzuschließen, was dieser aber entschieden verweigert habe. Gewiß ist, daß Tonietto des Morgens in seiner Wohnung erschien. Die Wache wollte ihn verhaften.
„Das ist überflüssig!“ rief er, und schob die Blouse etwas zur Seite, als ob er ihnen sehen lassen wollte, was er unter den Kleidern verborgen trug. „Rühre Keiner mich an! – Sobald ich den Meinigen Lebewohl gesagt,“ fügte er hinzu, „gehe ich nach dem Hauptquartier, mich freiwillig zu melden.“
Er hielt Wort.
Ich hatte von seiner Rückkehr gehört, und lief hinzu. Ich fand Tonietto im Begriffe, das Haus seiner Eltern zu verlassen, und Maria Lebewohl zu sagen.
„Gott wird Dir lohnen,“ sagte ich zu ihm, „Du handelst wie ein braver Sohn.“
„So ist es,“ erwiederte er, und trat in’s Haus Maria’s.
Das war ein trauriger Abschied. Maria hat es mir tausendmal erzählt. Tonietto hatte ihr ihre Freiheit, ihr Wort zurückgeben wollen, das sie so oft einander gegeben. Sie wollte nichts davon hören und versprach, seine Rückkehr abzuwarten; denn damals hatte man noch nicht die Erfahrung gemacht, was es mit dieser unerbittlichen Aushebung auf sich hatte. Man glaubte dem Versprechen des Gesetzes; man glaubte, daß die Rekruten nur vier Jahre zu dienen hätten. Später wußte man, was man zu denken hatte. Von den einmal Ausgerückten kam nie auch nur ein Einziger zurück, sofern ihn nicht etwa eine Verstümmelung zum Dienste untauglich machte.
Endlich hörte ich einen lauten Schrei im Innern des Hauses. Tonietto trat heraus, verstörten Blickes. Kurz sagte er seinen Eltern, die ihn erwarteten, „Lebewohl,“ bat sie, ihn nicht zu begleiten, und ging – allein.
Der arme Bursche wußte, was seiner harrte; ich wußte es auch und folgte ihm. Ich ließ ihm Zeit, sich etwas zu beruhigen, dann näherte ich mich ihm; so gingen wir zusammen. In der Stadt angekommen, reichte er mir die Hand, zwei große Thränen rollten seine Wangen herab. Aber sogleich, als ob er sich seiner Schwäche schäme, runzelte er die Stirn, nahm eine ruhige Miene an und sprach von etwas Anderem.
Ich wollte den Unterpräfecten aufsuchen, mit dem ich etwas bekannt war, aber er wollte es nicht. In eignem Namen verlangte er Gehör und wurde vorgelassen.
„Ich bin Tonietto M ,“ sagte er; „vor drei Tagen habe ich die und die Nummer gezogen, und mich etwas schwer entschlossen, mich zu stellen. Offen gestanden, ohne die Gefahr, der ich meinen Vater und meine Brüder aussetzte, wäre ich vielleicht nie gekommen. Sei’s d’rum, – hier bin ich!“
Ich trat vor, und gab ihm und seinem Charakter das beste Zeugniß. Der Unterpräfect war ein wohlwollender Mann; er ließ den Gensd’armeriewachtmeister kommen und sprach mit ihm über Tonietto. „Ich werde thun, was irgend möglich ist,“ erwiederte dieser, als er das Zimmer verließ.
Dann winkte er Tonietto und brachte ihn nach seinem Quartier. Als ich Abschied von ihm nahm, beschwor er mich bei Allem, was mir lieb und theuer sei, seine Eltern und Maria zu verhindern, ihn nochmals zu sehen oder gar ihn zu begleiten.
Von den Gensd’armen hörte ich, daß er am folgenden Tage abmarschiren werde. So eilte ich nach dem Dorfe zurück. Ich fand Maria bei den Eltern Tonietto’s.
Alle seine Worte mußte ich ihnen wiederholen. Aber Maria rief: „Noch Morgen früh gehe ich hin!“
„Du kannst ihn doch nicht mehr sehen,“ wandte ich ein.
„So ist er im Gefängniß?“
„Ich glaube nicht; aber er will nicht, daß Du ihn abmarschiren siehst.“
„So gehen sie also Morgen schon?“ rief sie in Verzweiflung.
Dann hatte sie an Jeden tausenderlei Fragen, bis sie endlich erfuhr, wie die Renitenten transportirt würden. Da verstand sie Alles und schwieg.
Am folgenden Morgen, in aller Frühe, ging sie weg, einen kleinen Korb am Arme, damit man glauben sollte, sie ginge zu Markte. Aber Niemanden täuschte ihre arme List; Niemand zweifelte, daß sie Tonietto sehen wolle.
Sobald ihre Brüder davon hörten, eilten sie nach der Stadt; [247] aber Tonietto war schon fort, und Maria hatte Niemand gesehen. Sie hatte wohl erwartet, daß man sie dort suchen würde, und war daher direct nach der ersten Marschstation gegangen. Zu gleicher Zeit mit Tonietto kam sie dort an, der, wie ein Verbrecher, von zwei Gensd’armen escortirt wurde. Diese hatten indessen ihr Möglichstes gethan; sie hatten ihn schonend behandelt und nicht gefesselt. Sie erkannten Maria und ließen sie zu ihm. Sie theilte ihnen den Proviant aus, den sie Tonietto mitgebracht, und durfte so ein paar Stunden bei ihm bleiben.
Vergebens suchte er sie zu überreden, des Abends zurückzukehren; ihr Entschluß war unerschütterlich.
Während der Nacht wurde Tonietto eingesperrt. Maria suchte sich bei einer armen Frau ein Asyl. Am folgenden Morgen, lange bevor der Tag noch grauete, stand sie schon wieder an der Thür seines Gefängnisses und wartete bis er herauskäme.
Aber welcher Anblick, als er endlich kam! Die Hände gefesselt, mit Daumschrauben gespannt, dutzendweise an ein langes Tau gejocht, wie Galeerensträflinge, so wurde er mit einem Zuge Renitenter weiter geschleppt. Die Andern waren empört über diese Schmach; gleichwohl wußten sie, daß diese Strafe kaum ein paar Tage dauern würde, höchstens bis jenseits der Alpen, bis zur Reserve. Aber wie mochte Tonietto zu Muthe sein, seiner Braut ein solches Schauspiel zu geben! Sie ging muthig neben ihm.
„Aber was willst Du, was denkst Du, Maria?“ bat er, „was bezweckst Du, daß Du mich so begleitest?“
„Daran habe ich noch nicht gedacht,“ erwiederte sie lächelnd, „ich wollte Dich wiedersehen, und Dich ein wenig begleiten, das ist Alles!“
Und sie fing wieder an von ihrem Vorschlage zu sprechen, als Marketenderin[WS 1] mit dem Regimente zu ziehen. Tonietto widersetzte sich dem aber mit aller Kraft; er sprach ihr von ihren Eltern – und sie weinte.
So ging sie traurig weiter. Die Andern machten sich lustig über sie, die Gensd’armen, die gewechselt hatten, begegneten ihr unfreundlich. Bei der Mittagsruhe ging es noch schlimmer. Die Gefangenen wurden in die Scheune eines Gasthauses eingeschlossen. Maria wollte an der Thüre warten, man jagte sie weg. So blieb sie von ferne stehen und wartete, ohne auch nur einen Bissen Brot oder einen Schluck Wasser zu nehmen, wartete so lange, bis sie endlich die Gefangenen, gefesselt wie am Morgen, wieder heraustreten sah. Rasch war sie wieder an der Seite Tonietto’s; sie näherte seinen Lippen eine schöne Frucht, die seine trockene Kehle erfrischte; dann setzte sie unermüdlich ihre Reise fort. Vergeblich bat, flehte, beschwor er sie, ihn zu verlassen; sie ging und ging, und wußte weder was sie that, noch was sie wollte.
Endlich, des Abends, nicht weit mehr von dem Nachtquartier, holten sie die beiden Brüder ein. Sie beschworen Maria mit Thränen in den Augen, mit ihnen zurückzukehren. Sie widersprach ihnen nicht. Tonietto vereinigte seine Bitten mit den ihrigen. Endlich gab sie nach, und bald war man darüber einig, daß sie bis zur Nacht zusammenbleiben, dort sich erholen und dann des Morgens zum letzten Male Abschied nehmen und sich trennen wollten.
Tonietto brachte die Nacht, wie gewöhnlich, im Gefängnisse zu; sie ging mit ihren Brüdern in ein Gasthaus.
Aber kaum hatte sich das arme Kind zu Bette gelegt, als sie, erdrückt von den Anstrengungen, der Hitze, und noch mehr von der Angst und Noth der letzten Tage, von einem brennenden Fieber ergriffen wurde. Heftige Fieberphantasien stellten sich ein; ihr Zustand wurde höchst bedenklich.
Der Morgen kam. Einer ihrer Brüder blieb an ihrer Seite, der andere lief nach dem Gefängnisse. Nur ein paar Worte konnte, er in aller Eile Tonietto von ihrer Krankheit sagen, ihm die Hand zum Abschied drücken, – und, ungestüm, ohne auch nur Zeit zu haben zu antworten, wurde er mit den Andern fortgerissen, auch von dem Letzten der Seinen grausam getrennt.
Maria blieb vierzehn Tage zu Bette. Ihre Brüder verließen das Zimmer nicht. Ihre Mutter kam, sie zu pflegen. Endlich, sobald sie so weit hergestellt war, um die Reise ertragen zu können, kehrten sie zusammen zur Heimath zurück.
Maria war nicht wieder zu erkennen. Niemand konnte sie ansehen, ohne das innigste Mitgefühl. Es war eine arme zarte Blume, die der rauhe Sturm geknickt, ein Bild des Kummers, ein rührendes Bild des Schmerzes. Nur langsam, nach und nach begann sie, sich zu erholen, seit die Eltern Tonietto’s den ersten Brief von ihm erhalten hatten. Ich erinnere mich noch wörtlich seines Inhaltes.
„Lieber Vater,“ so schrieb er, „der erste Gebrauch, den ich von meinen Händen mache, seit ihre Fesseln gelöst sind, ist, Euch diesen Brief zu schreiben. Wir sind glücklich hier bei der Reserve angekommen, in einer Stadt, die Besançon heißt. Man sagt, daß wir nicht lange hier bleiben werden. Ich bin schon ganz eingekleidet; Ihr würdet mich nicht wieder erkennen; am ganzen Körper haben wir die Nummer des Regiments und der Kompagnien; wir sind gezeichnet wie die Heerden zu Hause. Sobald wir eingekleidet waren, begann das Exerciren. Es scheint, hier thut man nichts Anderes von Sonnenaufgang bis zur Nacht. Unser Aller Hoffnung ist, daß es zum Kriege kommt; dann haben alle diese Quälereien ein Ende; und dann, waren wir einmal im Feuer, sind wir keine Rekruten mehr. Rekrut! das ist ein Schimpfwort, das sie uns den ganzen Tag zurufen. Seid also getrosten Muthes, liebe Eltern! Schreibt mir doch bald Nachrichten von der armen Maria. Ich habe viel gelitten, als sie mich die beiden ersten Tage begleitete.
„Ich hoffe, daß ihr Niemand das böse gedeutet hat, und ich bitte Euch, sie statt meiner zu umarmen; Ihr wißt, auch auf dies letzte Glück mußte ich verzichten. Grüßt mir freundlich ihre Brüder, ihre Mutter, meinen Bruder, und endlich unsern guten Schullehrer; ihm verdanke ich den großen Trost, daß ich Euch heute schreiben kann.
„Lebt wohl und bleibt mir gut. Euer Sohn Tonietto.“
Der zweite Brief war von Magdeburg datirt.
Unter Anderm schrieb er: „Ich war in der großen Schlacht bei Jena. Man hatte mir gesagt, daß das erste Feuer große Angst mache. Für mich, muß ich sagen, war es der beste Trost, den Gott mir schickte, seit ich Euer Haus verlassen. Seit diesem Tage sagt mir Keiner mehr; Rekrut! Ich bin sogar zu den Grenadieren einrangirt – “
Ein anderer Brief kam im nächsten Winter, ich weiß nicht mehr, aus welchem Theile Polens datirt; ein anderer Brief kam noch im Sommer desselben Jahres von Aranda am Duero in Spanien. Es waren immer Berichte von neuen Schlachten. Man sah, daß er an dem Handwerke Geschmack fand. Er war Korporal, dann Sergeant geworden; endlich hatte er das Kreuz erhalten.
So verflossen zwei Jahre. Eines Tages hielt ich, wie gewöhnlich, meine Schule; da trat ein Kind ein, sagte einem andern ein leises Wort, dieses sagte es seinem Nachbar, und in einem Augenblick machte die Nachricht die Runde durch die Schule; alle sprangen sie auf, ich konnte sie nicht zurückhalten, „Tonietto ist da!“ riefen sie, „Tonietto ist da!“
Wir liefen Alle hin. Ich fand Tonietto zwischen seinem Vater und Maria. Eine siegende, unendliche Wonne strahlte aus seinen dunkeln Augen, er sah wie verklärt vor Freude, vor Entzücken. Maria weinte und schluchzte wie ein Kind; sie konnte kein Wort sprechen. Ihre Brüder und Verwandten, die ganze Familie stand um sie herum.
Als er mich sah, stand er auf und reichte mir die Hände. Er erzählte mir, daß sein Regiment aus Spanien zur italienischen Armee bestimmt, durch Piemont marschire; er hatte drei Tage Urlaub erhalten, um seine Eltern zu besuchen, und – – er hatte zu viel sonst zu thun, als daß er mir mehr davon hätte sagen können.
Er nahm die Hand Maria’s und bedeckte sie mit Küssen, mit einer Gewandtheit und Unbefangenheit, die er wahrlich bei seinem Abmarsche nicht gehabt. Ich begann zu fürchten, daß er sich geändert haben möchte. Aber ich sah ihn den andern und die folgenden Tage; ich plauderte weitläufig mit ihm; er war noch immer derselbe brave und gute Junge. Vielleicht war freilich seine Liebe nicht mehr ganz dieselbe wie früher; aber so war es noch besser. Der männliche Charakter, den ihm seine neue Lebensweise gegeben, hatte seiner Zärtlichkeit eine andere Form eingeprägt. Er verzehrte sich nicht mehr in Lamentationen und Seufzern, er strebte energisch nach seinem Ziel; er gab sich ernstlich Rechenschaft über seine Hoffnungen und faßte bestimmte Pläne.
Sehr bald hoffte er, Dank seiner Kenntnisse, Offizier zu werden; dann, sagte er, sei nichts leichter, als den Heirathsconsens zu erlangen; verweigere man ihm den, so könne er den Dienst verlassen.
[248] „Desto besser dann,“ fügte er lachend hinzu; „was bekömmt man so nicht Hiebe und Stöße von allen Seiten und von Jedermann! Auch ich habe meinen Theil, wenn auch nichts davon in meinen Briefen steht, und wenn ich noch ein Paar dazu erwische, so kann ich schon mit fünfundzwanzig Jahren den Invaliden spielen, und, wie sie das nennen, mich auf meine Güter zurückziehen.“
Die drei Tage waren ein Fest für das ganze Dorf; für Maria waren es die drei schönsten Tage ihres Lebens.
Beim Scheiden überreichte Tonietto seinem Vater drei Louisd’or, seinem Bruder einen, Maria ein hübsches Knüpftuch und einen Ring. Bald darauf schickte er ihr, von Venedig aus, mit einem Briefe ein goldenes Kettchen, das fortan nie mehr von ihrem Nacken kam.
Mittlerweile hatte der Krieg mit Oesterreich begonnen; es war der dritte Feldzug, den Tonietto mitmachte. In jeder Schlacht erhielt er, wie er schrieb, neue Hiebe und neue Beförderungen.
Diesmal wurde er am Kopfe verwundet, man wußte es im Dorfe, und Maria war darüber ganz außer sich. Aber er wurde wieder hergestellt und kam zur „alten Garde.“ Wäre er zum Marschall von Frankreich ernannt worden, er hätte keine größere Freude darüber empfinden können, als sich in dem Briefe aussprach, in dem er diese Nachricht mittheilte.
Der Friede führte ihn nach Paris zurück. Von dort aus schrieb er häufig und schickte von Zeit zu Zeit kleine Geschenke für Maria. Er meldete unter Anderm, daß er zum Generalstab übergegangen sei, und ganz gewiß bald zum Offizier ernannt werden würde, und dann! – dann, schrieb er, sind wir Alle glücklich!
So vergingen wieder zwei Jahre. Da begann der Krieg mit Rußland. Tonietto marschirte voll Hoffnung aus. Als er von Smolensk aus schrieb, war kein Zweifel mehr: er war zum Sousoffizier-Adjutant ernannt worden und hatte einen zweiten Orden erhalten, das eiserne Kreuz; es konnte nicht fehlen, daß er vor Beendigung des Feldzugs Offizier war. Uebrigens glaubte man Allgemein, daß dieser Krieg der letzte sein werde; wollte es das Schicksal aber auch anders, so war er jedenfalls Offizier, so dachte man, und Alles ging vortrefflich.
Maria fing an, von denen beneidet zu werden, die sie noch jüngst bedauert hatten; sie schrieb lange Briefe an ihren Bräutigam und Alles schien sich auf’s herrlichste zu ordnen.
So kam der Winter. Da lief plötzlich ein Gerücht um, die ganze französische Armee sei aufgerieben worden. Ich ging nach der Stadt, und erfuhr, daß die Nachricht wahr oder doch nur wenig daran irrig sei. Kein Brief kam mehr an, auch von Tonietto nicht; ebenso wenig von den Andern.
Endlich, gegen December, schrieben einige Piemontesen, daß er beim Uebergang über die Beresina gefallen sei.
Ich sage nichts über den Schmerz des armen alten Vaters, den Kummer der Brüder, die Verzweiflung der armen Maria.
Sie wurde krank und entging kaum dem Tode. Nicht genug damit, das Unglück brach von da an Schlag auf Schlag über die Familie herein. Einer von den Brüdern wurde bei der Aushebung eingezogen und nach Deutschland geschickt; ein paar Monate später – denn die Rekrutirungen dauerten jetzt ununterbrochen fort – marschirte auch der andere ab und wurde nach Frankreich dirigirt.
Aber, wenn das Unglück einmal sich senkt über ein Haus, so wächst es unbarmherzig, und immer dichter fallen seine Schläge, bis das Entsetzen auch den Theilnahmslosesten erfaßt. Die Brüder Maria’s fielen wieder, der eine bei Hanau, der andere unter den Mauern von Paris, unter den letzten Schüssen, die in diesem furchtbaren Kriege fielen.
So war Maria allein übrig geblieben als die einzige Stütze ihrer nun ganz verarmten, von Kummer erdrückten Eltern. Nur das lebendige Gefühl ihrer Kindespflicht und Gottes Wille, konnten ihr die Kraft geben, das Leben zu ertragen.
Das arme Mädchen war damals zweiundzwanzig Jahre alt. Ihr edel getragener Schmerz gab ihren schönen Zügen einen unbeschreiblichen überirdischen Ausdruck. Ihr ganzes Wesen schien erhaben und geadelt.
Armes Kind! Nie mehr sah man sie lachen; doch lag auf ihrem Gesichte auch nicht der Ausdruck wilder Verzweiflung, nicht einmal heftigen Schmerzes; es war ein Ausdruck inniger Betrübniß, wie er nur ihr eigenthümlich war.
1814 kehrten unsere Fürsten wieder; mit ihnen einige wenige Trümmer der ehemaligen großen französischen Armee. Damals erfuhr man einige Details über Tonietto’s Ende. Bei dem verhängnißvollen Rückzug aus Rußland war er einer der Wenigen gewesen, die den Muth nicht hatten sinken lassen. Schien die Kälte unerträglich, so pflegte er zu sagen, er trage zwei Talismane bei sich, die ihm das Herz warm hielten trotz Rußlands Schnee und Eis. Ob er Offizier geworden war, wußte man nicht genau; gewiß war, daß er beständig die Compagnie geführt hatte. Zuletzt waren sie an der verhängnißvollen Brücke angekommen. Er war einer der Ersten, die sie überschritten. Kaum auf dem andern Ufer, hatte er sich wie ein Löwe auf den Feind geworfen, fast in demselben Augenblicke aber eine Kugel mitten in’s Herz erhalten, und er war todt liegen geblieben.
Das Regiment hatte ihn vergöttert; alle Piemontesen waren stolz auf ihn. – Armer Tonietto!
„Arme Maria!“ fügte ich hinzu, „ihr Unglück ist noch größer, sie muß noch leben!“ –
Und doch wußte man noch nicht Alles, was ihr bevorstand. Drei Jahre waren vergangen. Ich hatte Maria nicht verlassen, und hoffte, daß nach und nach die Zeit den Kummer des armen Herzens lindern würde. Auf einmal bemerkte ich, daß ihr Aussehen, ihre Miene, deren schmerzlicher Ausdruck für ewig eingegraben schien, sich nochmals veränderte. Mehrmals suchte ich Gelegenheit, mich ihr zu nähern. Ich hoffte, daß sie mir den neuen Kummer mittheilen würde, der sie augenscheinlich ganz zu Boden drückte. Aber sie schwieg.
Eines Tages endlich hatte ich sie auf dem Wege getroffen, und wir gingen zusammen dem Dorfe zu. Sie schien aufgeregter als jemals. Nach langem Schweigen konnte ich mich nicht enthalten, leise vor mich hin zu sagen: „Arme Maria!“ Da zerfloß sie in Thränen; sie machte eine Bewegung, als wollte sie sich an meine Brust werfen, doch schnell sprang sie zurück, bedeckte das Gesicht mit beiden Händen, und schluchzte laut:
„O, mein Vater!“ rief sie, „sie wollen mich verheirathen!“
Ich gestehe, das hatte ich nicht erwartet, das war mir nie in den Sinn gekommen; unwillkürlich sträubte sich mein Herz gegen einen solchen Gedanken, es kam mir vor wie ein Verbrechen.
Nun auf einmal war mir Alles klar; ich begriff, wie die Dinge standen, und wie es kommen mußte. In der That, die Eltern Maria’s waren in einer verzweifelten Lage. Sie selbst konnten nicht mehr arbeiten, die Brüder waren todt. – Maria, so sehr sie sich Tag und Nacht abmühete, sie allein konnte sie nicht mehr vor dem drohenden Elende schützen. Und das Elend war gekommen.
Gott weiß, wie gerne ich den armen Leuten meine ganze Habe gegeben hätte, um dieses Letzte Maria zu ersparen. Aber das Wenige, was ich besaß, reichte nicht hin zu ihrem Unterhalte. Und wenn ich starb, wer konnte sie ferner unterstützen?
Ich sann und sann, aber je mehr ich überlegte, desto mehr sah ich ein, daß nur ein Ausweg blieb.
„Ja, Du armes Kind,“ sagte ich, und nahm ihre Hand in die meinige, „Du mußt heirathen, weil Dein greiser Vater, Deine blinde Mutter es in ihrem Elende von Dir fordern. Sie fordern von Dir Ruhe und Trost in ihren letzten Tagen; Du darfst es ihnen nicht versagen. Maria, sei tapfer, sei stark! Du zahlst Deine Schuld, Du erfüllst Deine Pflicht auf dieser Erde. O, Maria, es ist kein leeres Wort, das Wort des Herrn, daß wir auf Erden sind, zu dulden. Das ist Dein größtes, Dein schrecklichstes Opfer. O, Maria, dulde Du, was Gott Dir schickt, dort oben winkt Dir der Lohn, dort wirst Du wieder eins sein mit Tonietto, mit all’ Deinen Lieben!“
Sie seufzte tief, dann erhob sie die Augen still zum Himmel; ihr liebliches Antlitz trug wieder jenen schmerzlichen Ausdruck überirdischer Ergebung.
„Ich wußte es wohl,“ sagte sie, „daß auch Sie es so wollten.“
Wir gingen und sprachen kein Wort mehr bis zu ihrem Hause.
[261] Viele hatten um Maria’s Hand geworben. Sie wählte einen gewissen Francesco. Es war ein guter Mensch, ein Gespiele ihrer Kindheit und der beste Freund Tonietto’s. Er gehörte zu den Wenigen, die die Aushebung verschont hatte; er hatte nie das Dorf verlassen; er wußte, daß sie keine Liebe zu ihm hatte, machte sich auch keine Hoffnung, daß das jemals anders werden könne, und dennoch hatte er sich nie entschließen können, eine Andere zur Frau zu nehmen, dennoch hatte er immer in inniger Liebe an ihr gehangen.
Maria gestand ihm aufrichtig, weshalb sie sich entschloß, ihn zu heirathen. Sie sagte ihm, daß es ihr unmöglich sei, jemals wieder zu lieben, wie sie Tonietto geliebt, unmöglich auch nur diese Liebe jemals aus ihrem Herzen zu reißen; wolle er sie aber als eine Wittwe betrachten, der man gestattet, eine erste verlorene Liebe still im Herzen zu tragen, so wolle sie ihm versprechen, ihm allein von allen Lebenden gut und ihm ein braves, treues Weib zu sein.
Mehr hatte der gute Mann nicht gehofft. Ihre Erklärung machte ihn überglücklich. Er selbst beredete Maria, die kleine Kette Tonietto’s, die sie seinetwegen ablegen wollte, auch ferner zu tragen.
Die Hochzeit wurde still und geräuschlos vollzogen. Francesco war reich. Die Summe, die er zur Hochzeitsfeier bestimmt hatte, wurde theils zur Einrichtung einer freundlichen Wohnung für die greisen Eltern der Braut verwandt, die er noch am Hochzeitstage dort einführte, theils durch mich unter die Armen vertheilt. Es war ein allgemeines, freundliches, aber prunk- und geräuschloses Fest.
Die beiden Familien – Francesco hatte noch seine Mutter – lebten in schönster Eintracht; es waren brave Leute, und kein Wort des Zwistes störte je ihre friedliche Häuslichkeit.
Vor Ende des Jahres vermehrte sich die Familie um ein Söhnchen; Alle aus einem Munde nannten ihn Tonietto. Zehn Monate später kam ein zweiter Sohn. – Maria hatte zwar ihre frühere Heiterkeit nicht wiedergewonnen; doch spielte wohl zuweilen um ihre Lippen ein süßes Lächeln, wenn freundlich ihr Blick auf ihren Kindern und ihrem Gatten ruhte.
Obwohl sie damals sechsundzwanzig bis siebenundzwanzig Jahre [262] zählte, war sie doch schöner wie je; des Abends sah ich sie manchmal in der Mitte der ehrwürdigen Alten und ihrer lieblichen Kinder; es war eine raphael’sche Madonna in der Mitte der heiligen Familie.
Aber selbst dieses halbe Glück sollte nicht dauern.
Eines Abends erging ich mich vor meinem Hause und betete mit lauter Stimme, wie das meine Gewohnheit war, das Brevier, als ich Jemand hinter mir her laufen hörte; eine wohlbekannte Stimme rief:
„Mein lieber Meister!“
Und plötzlich fühlte ich mich umarmt, und fast in die Höhe gehoben; es war schon Dämmerung, aber trotzdem war keine Täuschung möglich – es war Tonietto!
Wenn ich je an Gespenster geglaubt hätte, so hätte ich sicher denken müssen, es wäre sein Geist, und er käme, um mich für den Antheil zu strafen, den ich an Maria’s Hochzeit trug. Ich gestehe, ich war so bestürzt, daß ich, wenn auch nur einen Augenblick, so dachte. Aber die Wirklichkeit ließ keinen Zweifel übrig.
Bestürzt, vernichtet, außer mir, nahm ich maschinenmäßig Tonietto am Arme, und zog ihn ungestüm in’s Haus.
Er bemerkte den Eindruck, den seine Ankunft auf mich gemacht hatte; er wechselte die Farbe, seine Stimme zitterte:
„Mein Vater?“ fragte er, „mein Bruder?“
„Sie leben –, aber wir müssen den Greis auf diese große Freude vorbereiten –“
„Und Maria?“
„Ihre beiden Brüder fielen, kurz nachdem die Nachricht von Deinem Tode eingegangen war.“
„Und Maria?“
„Sie lebt.“
Es entstand eine Pause von etwa zwei Minuten. Ich hatte den Muth, sie zu unterbrechen.
„Hast Du denn niemals schreiben können seit sechs Jahren?“
„Ich habe sehr oft geschrieben. Aber ich fürchte, ich fürchte, Ihr habt nur meine ersten Briefe erhalten; die andern, wenigstens seit zwei Jahren müßt Ihr sie doch erhalten haben?“
„Nein, nein,“ rief ich verzweifelnd, „nein, nichts haben wir erhalten! Und seit zwei Jahren –“
Tonietto unterbrach mich:
„So habt Ihr mich seit mehr als sechs Jahren todt geglaubt? Das fürchtete ich; und dann – dann kam mir ein Gedanke, den ich verjagte, als ob ihn ein böser Geist mir zuflüsterte, ein Gedanke, der mich vor Schmerz getödtet hätte. O, froh kam ich an, als ob es möglich wäre, nach zehn Jahren noch unberührt das Glück zu finden, wie ich es beim Scheiden verließ. Armer Giovanni! armer Filippo! arme Maria!“
„Maria“ – sagte ich; ich hoffte, daß er mich fragen würde.
Aber er sprach kein Wort. Hätte es sich um Leben und Tod meines eigenen Vaters gehandelt, ich hätte es nicht aussprechen können, das ich sagen wollte: „Maria ist nicht mehr Dein.“
Endlich begann er wieder:
„Und wenn Ihr seit zwei Jahren meine Briefe erhalten hättet?“
„So wären sie doch noch zu spät gekommen.“
Und ich athmete auf, fast glücklich, daß das Wort gesprochen war. Ich erhob den Blick zu dem Gesichte des Soldaten, und, traurig zum Sterben, las ich dort alle seine Mühsale, alles Elend, alle Schmerzen, die er erduldet hatte, und es schien mir, als läse ich dort auch all’ den Jammer, den die Zukunft ihm noch bieten sollte.
Noch ein paar Minuten stand er schweigend, dann machte er ein paar Schritte, runzelte die Stirne, erhob das Haupt und sagte:
„Lassen Sie uns zu meinem Vater gehen, und dann –“
Ich folgte ihm und wir gingen zusammen bis zu seinem Hause.
Den Empfang, den Jubel seines Vaters und seines Bruders, die Thränen, die dem Soldaten über das rauhe Gesicht herabstürzten, will ich nicht beschreiben. Ich suchte Francesco auf, der es übernahm, Maria die Nachricht mitzutheilen. Wie er das gethan? Ich weiß es nicht, ich habe es nie erfahren. Das war ihr Geheimniß; niemals wurde davon gesprochen.
Drei Tage später, wie mich Francesco gebeten hatte, führte ich des Abends Tonietto hin.
Der traurigste von den Dreien schien Francesco. Maria kam uns mit dem Lächeln eines Engels entgegen. Ihr Gesicht war eigentlich weniger ruhig. Sie reichte Tonietto die Hand.
„Gott sei gelobt! Wer, bei Gott, durfte erwarten, Euch vor dem Paradiese wiederzusehen? Wir hatten keine andere Hoffnung mehr, Francesco und ich.“
Die Kniee des Soldaten zitterten; er hatte nicht die Kraft zu sprechen; er nahm die Hand Maria’s und Francesco’s, legte sie in seine beiden Hände, und küßte sie mehrmals.
Dann sah er plötzlich in einem Winkel des Zimmers die beiden Kinder; er stürzte ungestüm auf sie zu, umarmte sie leidenschaftlich wiederholt, und nahm das größte von ihnen auf seine Kniee. Das Kind sträubte sich und schrie. Maria rief ihm zu, um es zu beruhigen.
„Tonietto! Tonietto!“ rief sie.
Der Soldat machte eine heftige Bewegung. Einen Augenblick hatte er geglaubt, daß sie sich an ihn wende. Aber schnell errathend, daß man dem Kleinen seinen Namen gegeben, drückte er ihn von Neuem in seine Arme, küßte ihn, und vergrub dann sein Gesicht in den blonden Locken des Kindes, um die Thränen zu verbergen, die er nicht mehr zurückhalten konnte.
Endlich, nach und nach, wurden Alle etwas ruhiger. Francesco brachte die Rede auf Tonietto’s Erlebnisse. Er fragte ihn, wie er dem Tode entronnen sei nach der schrecklichen Wunde, die er bei dem Uebergang über die Beresina erhalten haben sollte.
Tonietto erzählte kurz und einfach. Er war nicht in die Brust getroffen, sondern nur die Schulter ihm zerschmettert worden, und bewußtlos zu Boden gestürzt, war er erst wieder zu sich gekommen, als die Russen im Begriffe waren, die Leichen zu plündern. Ihn selbst hatten sie fast nackt liegen lassen, als zufällig ein ganz junger Offizier vorüber kam, der, von seinem Elend gerührt, ihn in’s Lazareth bringen und ihm, wenn auch nicht Alles, doch wenigstens seine beiden Ehrenkreuze zurückgeben ließ, die er von da an beständig trug.
Nach einigen Monaten, im Sommer, war er geheilt. Mit einer Colonne Kriegsgefangener legte er nochmals die traurige Strecke zurück, die er schon einmal mit der flüchtigen Armee durchwandert hatte. Er kam nach Moskau zurück. Von da war er an die Grenzen Sibiriens geschickt worden.
Dort zerstreute man die Colonne. Man schickte die Gefangenen hier und dort hin; kaum einige Sous gab man ihnen, um ihr Leben so lange zu fristen, bis sie eine Stelle finden konnten.
Tonietto erhielt durch Zufall eine Stelle als Verwalter bei einem Vornehmen des Landes. Dieser gewann ihn lieb, und war ganz unglücklich, als im Anfange des Jahres 1815 die Kriegsgefangenen frei erklärt wurden.
Aber die Gefangenen hatten Sibirien noch nicht verlassen, als schon auf die Nachricht von dem Ausbruch des letzten Krieges mit Frankreich ein Gegenbefehl eintraf. Der Gutsherr war ihm nachgeeilt und hatte ihn nach seinem Schlosse zurückgebracht; aus Furcht, daß er ihm nicht nochmals entrönne, unterschlug er seine Briefe, und suchte ihm die Ereignisse, die sich zutrugen, zu verbergen.
Aber endlich hatte Tonietto Alles erfahren. Er war entflohen, und hatte sich an den Gouverneur der benachbarten Stadt gewendet.
Hier unterbrach der Soldat seine Erzählung. Ich errieth, was er hatte sagen wollen, und verstand das Gefühl, das ihn schweigen ließ. Es war offenbar die Zeit, wo er wieder angefangen hatte, zu schreiben, in der sichern Hoffnung, daß nun jedenfalls seine Briefe ankommen würden.
Er schwieg, wie es schien, heftig bewegt. Dann brach er kurz ab.
„Der Gouverneur,“ sagte er, „verzögerte meine Abreise mehr als ein Jahr lang, unter tausenderlei Vorwänden; endlich, vor sechs Monaten, ließ er mich frei. Aber während dieses Jahre langen Abwartens hatte ich die kleine Baarschaft, die ich mir in der Gefangenschaft gesammelt hatte, ganz ausgegeben; so sah ich mich gezwungen, ohne alle andern Hülfsmittel, als die den Gefangenen bewilligten Etappen, zu Fuße die Rückreise anzutreten. Meine Wunden verursachten mir entsetzliche Leiden; mehr als einmal blieb ich auf dem Wege liegen; noch mehr, mehr als einmal mußte ich meine Kreuze verbergen, und – betteln.“
Ich sah, wie er hier auf’s Neue weich wurde. Auch Maria konnte ihre tiefe Rührung kaum mehr verbergen. Ich stand daher schnell auf, nahm Abschied, und wir gingen zusammen weg.
Seitdem bemerkte ich nie mehr, weder an ihm, noch an Maria, einen zweiten Moment der Schwäche. Gewiß, sie fühlten sich [263] Beide unendlich unglücklich; aber sie trugen ihren Kummer mit starker Seele und bewundernswerther Geduld. Tonietto verleugnete nicht einen Augenblick seinen edlen Charakter. Nie hatte er gegen Francesco auch nur einen Gedanken, geschweige ein Wort des Zornes, des Neides, der Geringschätzung oder des Spottes. Ja, wagten hier und da seine Kriegsgefährten eine spöttische Bemerkung über Francesco, so war er immer der Erste, offen für ihn Partei zu nehmen.
Vor all’ diesen Ereignissen waren sie Freunde gewesen, jetzt schienen sie Brüder. Jeden Augenblick kam Francesco, Tonietto aufzusuchen und ihn mit sich nach Hause zu nehmen; gern hätte er ihn den ganzen Tag dort behalten, und gerne ihn auch allein dort gelassen, wenn Tonietto eingewilligt hätte. Aber Tonietto ging nur des Abends hin, und nur in Gesellschaft Francesco’s. Dann blieb er kurze Zeit und beschäftigte sich fast nur mit den Kindern.
Mit Maria unterhielt er sich so ungezwungen und unbefangen, daß bald Jedermann, und Francesco vor Allem glaubte, daß Alles vergessen sei; und ich gestehe, ich selbst fing an, das zu glauben.
Eines Tages jedoch kam ich auf einem Spaziergange durch das Gebirge zufällig in die Nähe eines Weinbergs, der dem Vater Tonietto’s gehörte. Wie ich aus dem, denselben begrenzenden Kastanienwäldchen heraustrete, bemerkte ich plötzlich den armen jungen Mann vor mir, der sich offenbar an diesem abgelegenen Orte unbeachtet glaubte. Er saß, die Hacke zwischen den Knien, die Hände gefalten und müßig, das Haupt schwermüthig herabgesunken. Ich blieb stehen, um ihn zu betrachten, denn sonst hatte ich ihn immer rüstig an der Arbeit gefunden. Einen Augenblick fühlte ich mich befangen; es kam mir vor, als ob ich ein Unrecht begangen, unbefugt in seine Geheimnisse eingedrungen sei. Das Herz wurde mir schwer, und ich wollte mich zurückziehen. Aber mein Fuß stieß an ein paar dürre Zweige; er hörte das Geräusch, sprang lebhaft auf und rief mich zurück.
„Ihr seid ermüdet, lieber Tonietto,“ sagte ich.
„Sehr müde, ja, in der That,“ erwiederte er; „das kömmt daher, sehen Sie, weil ich das Hacken während meiner Dienstzeit ein wenig verlernt hatte; aber nach und nach wird das sich schon wieder geben.“
Wir waren Beide glücklich, die Unterhaltung auf dieses Gebiet ablenken zu können; und nie hat man ja größern Ueberfluß an Worten über ein Thema, als wenn man fest entschlossen ist, ein anderes nicht zu berühren.
„Aber ich denke,“ sagte ich, „das hattet Ihr ja doch in Sibirien wieder gelernt, bei dem Gutsherrn, der, Gott verzeih’ ihm, so grausam Eure Correspondenz unterschlug –“
Zu spät merkte ich plötzlich, daß ich unwillkürlich auf den Punkt zurückgekommen war, den wir Beide vermeiden wollten. – Er antwortete nicht.
„Giebt es viele Trauben hier?“ fing ich wieder an.
„Ja,“ erwiederte er.
Und damit ließ er die Unterhaltung fallen. Ich war zu weit gegangen, ich hatte mich getäuscht.
„Armer Tonietto! Ihr waret immer brav und bieder, in jeder Lage des Schicksals; Ihr waret ein guter Sohn und ein braver Soldat, heute seid Ihr ein guter Bürger, und wie immer, ein guter Sohn.“
Diesmal hatte ich das Richtige getroffen; Tonietto faßte sich sogleich:
„Ja, mein Vater,“ sagte er, „so ist es. Gottes Gebot sollen wir erfüllen und ertragen, was Gott uns schickt, seien es freundliche oder trübe Stunden, Sieg oder Vernichtung, ein Ehrenkreuz oder eine Kugel in der Schlacht, und jetzt ein gutes oder ein schlechtes Jahr, eine reiche Ernte oder Dürre und Hagel. Sie sehen, jeden Tag finde ich mehr Ähnlichkeiten zwischen meiner frühern und meiner jetzigen Beschäftigung.“
„Das ist wahr,“ erwiederte ich; „ich habe auch immer gehört, daß tüchtige Landwirthe die besten Soldaten sind. Aber Ihr waret ja nicht mehr blos Soldat, Ihr wäret ja nahe daran, Offizier zu werden; und wenn die Kugeln –“
„O!“ rief er, „wenn es nur die Kugeln gewesen wären.“ – Und er stockte.
Ich hatte wieder die Narbe berührt. Gleichwohl fuhr ich fort, ich hatte meine Absicht dabei.
„Sehnet Ihr Euch nicht nach dem Kriegsdienste zurück?“ fragte ich. „Das Schwerste war überstanden als Ihr den Dienst verließt: vielleicht könntet Ihr mit Vortheil wieder eintreten.“
Nun waren wir endlich auf freiem Gebiet; er sagte mir, er habe wohl daran gedacht und sich deshalb erkundigt; er habe aber keine andere Aussicht, als wieder als gemeiner Soldat einzutreten; man habe ihm zwar Hoffnung gelassen, daß er bald Sousoffizier und vielleicht auch Offizier werden könne; aber er hatte die Kraft nicht mehr, mit dem Anfang wieder zu beginnen. Hätte der Krieg fortgedauert, so hätte er zweifelsohne auf Beförderung hoffen können, wie bei seinem ersten Eintritt; im Frieden aber schien ihm nichts trauriger als das Soldatenhandwerk. Das Garnisonleben, selbst zu Paris, und bei der Garde, schien ihm unerträglich.
Außerdem hätte er seine Orden gegen andere, mit einem andern Brustbilde, umtauschen lassen müssen, wenn er wieder Dienste genommen hätte; auch dazu konnte er sich nicht verstehen. Konnte er doch schon das nicht verschmerzen, daß er die beiden Kreuze, die er selbst in Sibirien immer offen getragen, an der Grenze Frankreichs hatte verbergen müssen.
So blieb ihm, wie er sagte, nichts übrig, als bei seinem Vater, an dessen Seite Gott ihn zurückgeführt, zu bleiben, und ihn, so lange Gott wolle, zu pflegen, wenn er auch seiner nicht bedürfe.
Dann schien er unter der Last schmerzlicher Gedanken fast zu erliegen.
„Das ist gar traurig, Herr,“ seufzte er, „mit dreißig Jahren seine ganze Vergangenheit verschwinden und wie in Nichts zerfließen zu sehen. Mit dreißig Jahren beginnt man kein neues Leben mehr!“
Er hatte Recht; ich wollte ihm nicht beistimmen, aber widersprechen konnte ich ihm nicht. Ich wollte weggehen, er nahm mich bei der Hand; um sie zu drücken, oder um mich zurückzuhalten? Ich weiß es nicht. Dann nahm er seine Hacke auf die Schulter und ging mit mir nach dem Dorfe zurück.
Seit diesem Tage suchte er mich wieder öfter auf; wir verstanden uns und hatten lange Unterredungen mit einander. Er hatte nicht die Bildung, wie man sie durch Lectüre und Studium gewinnt; aber die Erfahrung und sein bewegtes Leben hatten ihm Geist und Herz entwickelt; nie habe ich einen Mann gefunden, in dessen Gesellschaft ich mich wohler gefühlt hätte als in der seinigen.
Armer Tonietto! Jene trostlosen Gedanken verfolgten mich unaufhörlich, ich konnte sie nicht mehr los werden; und wie sehr ich sie zu bekämpfen suchte, sie erdrückten uns Beide mit der trostlosen Macht der Wahrheit: sein Vater bedurfte seiner nicht, – und: mit dreißig Jahren beginnt man kein neues Leben mehr!
Seine Schicksalsgenossen litten an demselben Uebel wie er.
Die nur fünfundzwanzig Jahre alt waren, fanden sich leicht in die neuen Verhältnisse, und dachten nicht mehr an die Vergangenheit. Aber die mit dreißig Jahren zurückgekehrt waren, waren nicht mehr im Stande, ihre Gewohnheiten zu ändern; sie wußten nichts zu thun, als sich ängstlich an die Vergangenheit anzuklammern, und unaufhörlich zu klagen über die Gegenwart. Einzelne davon verloren ganz den Muth; plötzlich starben sie hin, ohne daß sie selbst eigentlich wußten, woran sie starben; sie starben aus Langeweile und Verzweiflung.
Ich rieth allen diesen Braven, zu heirathen; und, ohne auf die zu achten, die meine, wie sie es nannten, „Manie“ in’s Lächerliche zogen, trauete ich all’ diese Vielgeprüften; fast Alle schienen in den neuen Verhältnissen, die ihnen das Familienleben bot, glücklich wieder aufzuleben. Aber was sollte ich mit Tonietto anfangen? Ich wagte nicht, ihm offen zu sagen, was ich dachte, und er kam mir in keiner Weise entgegen.
Indessen versuchte ich es wiederholt, und mit allen erdenklichen Umschreibungen. Ein Mal verstand er mich, und sofort ging er kalt und mit einem Ausdruck des Mißbehagens, wie ich nie an ihm gesehen hatte, von mir weg ; wenigstens vierzehn Tage lang konnte ich ihn nirgends mehr treffen oder sprechen.
Und von Tag zu Tage veränderte er sich mehr und mehr; er magerte ab und seine Kraft schien gleichsam zu verlöschen. Es war keine Zeit mehr zu verlieren. Ohne etwas davon zu sagen, ging ich nach der Stadt, und erwirkte für ihn, von einem mir befreundeten Colonel, ein Patent als Sousoffizier. Froh kündigte ich ihm den Erfolg meiner Bemühung an; aber er dankte mir mit einem traurigen Lächeln; ich sah ein, daß in seinem geschwächten [264] Körper selbst die Kraft des Entschlusses ganz erstorben war. Er fühlte wohl, daß das, was ich ihm anbot, das Beste für ihn wäre, aber es fehlte ihm der Muth, es anzunehmen.
Indessen verschlimmerte sich sein Zustand von Tag zu Tage. Niemand zwar schien es zu bemerken, außer mir, und vielleicht Maria. Dem Anscheine nach blieb auch seine Ausdauer bei der Arbeit dieselbe; er ruhte nur, wenn er sich allein glaubte; so hatte ich ihn früher einmal überrascht und überraschte ihn später häufig, in einer träumerischen, hoffnungslosen Stimmung.
Sechs Monate waren auf diese Weise verflossen; er war wie ein Skelett geworden; zu Maria ging er seltener als je.
Kaum war der Schnee ein paar Tage verschwunden, so nahm er sein Arbeitszeug und begann einen Weinbergsgraben in den Fels zu hauen ; das war damals für ihn eine furchtbare Anstrengung. Wie zufällig schickte ich den Arzt zu ihm dorthin, der sich nach seiner Gesundheit erkundigte und ihm rieth, aufzuhören und sich zu schonen.
„Lege ich mich zu Bette,“ erwiederte er, „so bin ich so gut wie todt.“
Er hatte Recht. Eine kleine Erkältung zwang ihn, das Zimmer zu hüten; und bald ergriff ihn das Fieber. Er ließ mich rufen, um ihm den letzten Trost zu bringen. Ich hörte seine Beichte, – gute, reine Seele! Dann bat er mich, Maria und Francesco rufen zu lassen.
„Wozu das?“ erwiederte ich, – „die arme Frau!“
„Sie haben Recht,“ sagte er, „sorgen Sie lieber, daß sie nicht kömmt. Ich bin ein Mann ohne Kraft; doch glaube ich, daß ich jetzt ein wenig mehr Muth haben werde.“
Am dritten Tage erhielt er die letzte Oelung. An seinem Halse fanden wir eine Flechte von Maria’s Haar.
„Nehmen Sie sie weg,“ sagte er; „vielleicht war es Unrecht, daß ich sie nach meiner Rückkehr noch getragen habe. Aber dies kleine Andenken und dies Gebetbuch, das ich von Ihnen habe, sie haben mich immer begleitet und mir in Rußland das Herz warm gehalten. Nehmen Sie es. Nehmen Sie auch meine Kreuze.“
Und er gab mir das Buch und die Kreuze, die unter seinem Kopfkissen lagen.
Eine halbe Stunde später verlor er das Bewußtsein, und ehe der Tag zu Ende ging, war er verschieden.
Maria lebte ruhig noch vier Jahre; vor sechs Monaten ließ sie mich rufen, um ihr den letzten Beistand zu leisten. Sie starb in Frieden.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Markedenterin