Eine deutsche Volksakademie
Eine deutsche Volksakademie.
Lessing.
Wenn noch vor drei Jahrzehnten dem Ansspruche des berühmten englischen Geschichtsschreibers Buckle ein Körnchen Wahrheit zugeschrieben werden konnte: „Deutschland habe solche Mühe fortzuschreiten, weil dort die Kluft zwischen Gebildeten und Ungebildeten tiefer sei, als in irgend einem anderen Lande,“ so hat dieser Ausspruch längst jede Berechtigung verloren. Die Kluft zwischen den höheren und niederen Schichten der Gesellschaft, zwischen Gebildeten und Ungebildeten ist in Deutschland, namentlich seit den letzten Kriegen durch die Anerkennung der politischen Gleichberechtigung und die Ausdehnung der Selbstverwaltung mehr und mehr überbrückt worden, und es dürfte in der That der Zeitpunkt nicht mehr ferne sein, wo alle Classen der Nation über einen nahezu gleichen Fonds allgemeiner Bildung verfügen werden.Wesentlich hat dazu beigetragen der Umstand, daß die Männer der Wissenschaft sich entschlossen, aus ihrer zünftigen Abgeschlossenheit herauszutreten und die reifen Früchte ihres Studiums und ihrer Erfahrung in gemeinverständlicher, leicht faßlicher Form allem Volke zugänglich zu machen. Kein Land der Welt verfügt über eine der Zahl und der Bedeutung ihrer Mitglieder nach so reiche Aristokratie des Geistes wie Deutschland, und seit Jahrzehnten ist diese Aristokratie bemüht, an die Spitze der demokratischen Bewegung zu treten, welche, in Preußen schon während der großen Reformen der Stein, Hardenberg, Scharnhorst, Humboldt begonnen und welche mit noch größerem Erfolge die Nation 1848 ergriffen hat, um über die Jahre 1866 und 1870 hinaus in immer weiteren Wellenschlägen allen Gesellschaftsschichten die reichen Früchte des Menschengeistes aus allen Gebieten des Forschens und Wissens zu erschließen. Und wenn die deutschen Hochschulen bisher als die hauptsächlichsten Pflanzstätten der höchsten geistigen Bildung angesehen werden mußten, so sind diesen Hochschulen seit einigen Jahrzehnten in den deutschen Bildungsvereinen nahezu ebenbürtige Institute an die Seite getreten, deren Bedeutung und Tragweite nach gewissen Seiten hin sogar noch jene Hochschulen übertrifft. Nicht Fürstengunst hat diese Bildungsvereine geschaffen, die bestimmt sind, auch dem kleinen Manne, dem Handwerker und Arbeiter, den reichen Schatz der Wissenschaft zu erschließen und ihn die befreiende und erlösende Macht wahrer Humanität und Bildung kennen zu lehren, nein, der freien Selbstthätigkeit Einzelner verdanken die deutschen Bildungsvereine, Volksakademien im edelsten Sinne des Wortes, ihren Ursprung und ihr Erblühen.
Unter diesen Bildungsvereinen nimmt aber unstreitig der große Berliner Handwerkerverein den ersten Rang ein, und der Ruf seiner segensreichen Wirksamkeit, die über nahezu eine Million von Handwerkern und Arbeitern im Laufe der Jahre sich erstreckt hat, hallt – wir können dies ohne Uebertreibung sagen – in beiden Hemisphären wieder. Uns liegt die Denkschrift des Berliner Handwerkervereins aus dem Jahre 1867 vor, die für die große Weltausstellung in Paris bestimmt war und ein vollkommenes Bild aller Bestrebungen und aller Einrichtungen des Vereins gewährt.
Auf Grund dieser Denkschrift, welche von einem großen allegorischen Tableau des berühmten Geschichtsmalers Professor Plockhorst und von vier großen architektonischen Zeichnungen der Baumeister Kolcher und Lauenburg, das Vereinshaus darstellend, begleitet war, wurde der große Berliner Handwerkerverein als das vorzüglichste Bildungsinstitut für Erwachsene, welches in Europa besteht, von den competentesten Sachverständigen anerkannt und durch die große goldene Medaille geehrt. Die silberne Werkmeistermedaille der Pariser Weltausstellung wurde dem Wiederbegründer des Berliner Handwerkervereins, dem hochverehrten Präsidenten Lette, zu Theil. Auch auf den späteren Weltausstellungen hat sich der Berliner Handwerkerverein die ehrendste und allseitigste Anerkennung errungen.
In Wien, Pest, Florenz, Tiflis, Barcelona, Cincinnati hat man Handwerkervereine nach dem Muster des Berliner Vereins gegründet, und aus allen Ländern ist der Vorstand des Berliner Handwerkervereins um Rath und Unterstützung gebeten worden, um Bildungsinstitute nach seinem bewährten Vorbilde zu stiften.
Es war in den ersten Jahren der so hoffnungsreich begrüßten Regierung Friedrich Wilhelm’s des Vierten, als der Berliner Handwerkerverein zum ersten Male in der Johannesstraße Nr. 4 seine Pforten öffnete, um unter den Handwerkern und Arbeitern Bildung und Gesittung zu verbreiten. Schriftsteller und Gelehrte, zum Theile Männer, welche sich später einen berühmten Namen erworben haben, schlossen sich dem Vereine an und wirkten in demselben durch gediegene Vorträge, wie durch systematischen Unterricht.
„Mit frischem, gesundem Sinne gaben sich die jungen Handwerker,“ erzählt Streckfuß in seiner Schrift „Fünfhundert Jahre Berliner Geschichte“, „dem Vereine hin. Hatten sie früher ihre freien Abende trinkend und singend in den Kneipen zugebracht, so besuchten sie jetzt den Handwerkerverein, in dem sie neben der Belehrung eine veredelnde Geselligkeit fanden, durch die sie im freundschaftlichen Umgange mit ihren wissenschaftlich gebildeten Lehrern zu einer höheren Bildungsstufe erhoben wurden.“
Das Jahr 1848, welches dem Vereinswesen in Deutschland einen großen Aufschwung gab, trug selbstverständlich auch in den jungen Handwerkerverein eine größere Lebhaftigkeit hinein. Die zahlreichen Versammlungen, das Clubwesen jener sturmbewegten Tage, die soeben erst erwachte fieberhafte Theilnahme des Volkes an den politischen Fragen blieben nicht ohne Rückwirkung auf das innere Leben des Handwerkervereins, dessen Mitglieder sogar ein besonderes Corps zur neugeschaffenen Bürgerwehr stellten. Aber wenn auch in den Debatten ein lebhafterer Ton angeschlagen wurde – nicht einen Zoll breit wurde der Verein dem eigenen Gesetze ungetreu, welches die Verfolgung kirchlicher und politischer Zwecke untersagte. Auch als die Wogen der Zeit am höchsten gingen, wurden, wie ein uns vorliegender Bericht versichert, die allbewegenden Fragen der Zeit von der Lehrerschaft mit der Ruhe ernster Männer behandelt, die nicht Clubredner, sondern Lehrer des Volkes zu sein erstreben.
Diese Ruhe und Besonnenheit, welche der Verein und seine Leiter in den Tagen der Revolution bewahrten, schützte ihn nicht davor, von der im November hereinbrechenden Reaction, welche mit scheelen Augen sein Bildungsstreben verfolgte, in Acht und Bann gethan zu werden. Im Jahre 1850 diente eine geringfügige [429] äußerliche Veranlassung, eine Uebertretung des Vereinsgesetzes, die der Richter mit der geringen Strafe von zehn Thalern ahndete, als Vorwand, den Verein zu schließen, Bibliothek und Inventar zu confisciren.Die Fahne des Vereins aber wurde zum Bürgermeister Hedmann gerettet, und sein Geist erhielt sich in den alten Mitgliedern lebendig. Mit prophetischem Blicke in die Zukunft rief diesen im letzten Jahresberichte der wackere Vorsitzende Dr. Rieß den zuversichtlichen Trost zu: „Manches haben wir verloren, Vieles gerettet, und sollten wir uns auch ganz trennen müssen, das Volksbewußtsein, dessen Ausdruck der Verein war, bleibt und wird sich neue Formen schaffen.“
Und als die Zeit erfüllt war, da hat das Volksbewußtsein sich denn auch wirklich neue Formen zu schaffen gewußt und den im Jahre 1850 aufgelösten Verein neu und lebensvoller als zuvor wieder erstehen lassen. Ganz war er allerdings niemals, auch nicht ist der traurigen Olmützer Epoche, vom Schauplatze abgetreten; denn von den alten Mitgliedern, die voll treuen Eifers an dem Vereine hingen, wurde er auch ohne Statut, ohne Versammlungslocal aufrecht erhalten. „Wo die Sänger sangen, sagte später Rieß, „da war der Handwerkerverein“; ja, wo zwei der Alten sich trafen, da war der Verein.“
Als mit dem Antritte der Regentschaft des Prinzen von Preußen, des gegenwärtigen deutschen Kaisers, eine neue Aera des politischen und geistigen Ringens auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens begann, da mußte in den treu gebliebenen Mitgliedern der Gedanke Platz greifen, den Handwerkerverein wieder in’s Leben zu rufen. Der „Centralverein für das Wohl der arbeitenden Classen“ übernahm die Sache und übertrug dem unvergeßlichen Präsidenten Lette, der mit der Erfahrung und Besonnenheit des Greises die Begeisterung des Jünglings vereinigte, die Ausführung der schönen Aufgabe.
Unter seiner Leitung traten 1858 neun Mitglieder des 1850 aufgelösten Vereins zusammen, um die Statuten zu entwerfen und den Grundstein zu der neuen „Deutschen Volksakademie“ zu legen, zu der sich der 1859 wieder erstandene Berliner Handwerkerverein in jedem Jahre mehr und mehr entwickelt hat. Lette, der treue Freund unseres verewigten Ernst Keil, blieb bis an sein Lebensende – er starb am 3. December 1868 – seiner geistigen Schöpfung treu. So groß und umfassend sein Wirkungskreis gewesen ist, am wohlsten hat er sich stets im Handwerkerverein gefühlt, der in ihm seinen Vater verehrte. Hier fühlte er sich daheim, als Bürger unter den Bürgern.
In Wilhelm Steinert, einem echten self-made man, wie die Amerikaner sagen würden, gewann der Verein einen ersten Vorsitzenden, wie er ihn brauchte, um alsbald eine bedeutende organisatorische und erziehliche Thätigkeit nach allen Seiten hin zu entfalten. – Steinert hatte seine Lehrjahre in der praktischen Schule der Vereinigten Staaten zurückgelegt, wohin ihn das Scheitern der Bewegung von 1848 getrieben; dann war er in die alte Heimath zurückgekehrt, um hier eine unter seiner Leitung berühmt gewordene Privatschule zu begründen. Der Jahresbericht von 1875 schildert diesen trefflichen Mann, der in den Jahren 1859 bis 1865 als erster Vorsitzender wirkte, als einen Feuergeist, eine durchaus schöpferische Natur, einen Quellenmenschen von sprudelnden, nie versagenden Gedanken. Vereinssitte ist geblieben, was er vom ersten Tage an eingeführt; ihm dankt der Verein sein Vermögen, sein Grundstück, den edlen und zweckmäßigen Bau des Hauses, die Handhabung seiner Statuten, den Eifer des Vorstandes, die Gewissenhaftigkeit der Repräsentanten, den Geist, der die Lehrerschaft durchweht. Von unerschütterlicher Ueberzeugungstreue, an den Sieg der Wahrheit glaubend, ein Kämpfer der Geistesfreiheit, hatte er knappe Formen, wirkte durch lebhafte Bilder; mit feurigem Wesen verband er eine außerordentliche Selbstbeherrschung, und, streng in den Anforderungen, war er milde in der Ausübung; auch ein kleiner Zug listiger Ueberlegenheit, mit Humor angewendet, fehlte ihm nicht.
Neben ihm wirkte als zweiter Vorsitzender der feingebildete, durch eine wahrhaft rührende Begeisterung für alles Schöne und durch wahre Menschenliebe ausgezeichnete Arzt Dr. Abarbanell, bis ihn der Tod dem Verein und seinen zahlreichen Freunden allzu früh entriß. Durch die von Verwandten und Verehrern gegründete Abarbanell-Stiftung, eines Fonds, dessen Zinsen alljährlich zu Unterrichtszwecken verwandt werden, ist das Andenken des edeln Mannes in würdigster Weise gesichert worden.
In die Fußstapfen dieser Männer traten auch die späteren Vorsitzenden, Franz Duncker, der fortschrittliche Abgeordnete und [430] Buchhändler, der bis zum Jahre 1879 mit nie ermattender Begeisterung den Handwerkerverein leitete, ihm zur Seite der jugendlich kräftige, leider allzu früh verstorbene Stadtgerichtsrath Lehfeldt, der niemals ermüdende Dr. Burg, der arbeitsfrohe Dr. Sklarek. Seit dem Jahre 1879 stehen Director Dr. Friedrich Goldschmidt, Dr. Sklarek und Oberlehrer Dr. Thurein an der Spitze des Berliner Handwerkervereins.
Wir haben schon erwähnt, daß der Verein dem rastlosen Eifer seines ersten Vorsitzenden Steinert den Erwerb eines besonders geeigneten Grundstückes und eines Vereinshauses verdankt, des ersten, das eigens für Arbeiterbildungszwecke in Deutschland errichtet worden ist. Nach einem im Vereine selbst festgestellten Plane aufgeführt, gewährt er den zahlreichen Mitgliedern würdige Versammlungs-, Unterrichts- und Erholungsräume. Der achtzig Fuß lange, sechszig Fuß tiefe und dreißig Fuß hohe Saal faßt über zweitausend Personen; in Verbindung mit dem daran stoßenden Garten reicht er für alle Jahreszeiten, selbst für die Festtage, an denen er auch den Familien der Mitglieder offen steht, vollkommen aus. Zwei Stockwerke des Vorderhauses bieten eine Reihe von Unterrichtszimmern, einen Zeichen- und einen Lehrsaal, sowie angemessene Räume für die Bibliothek und den Verkehr der Mitglieder. Das Erdgeschoß mit einem großen Tunnel ist für wirthschaftliche Zwecke eingerichtet.
Der Zweck des Handwerkervereins, die hohen Aufgaben, die er sich gestellt, sind heute noch dieselben, wie im Jahre 1844, da er begründet wurde, und wie sie in das Statut vom Jahre 1859 eingetragen sind: „allgemeine Bildung, tüchtige Berufskenntnisse und gute Sitte unter seinen Mitgliedern zu befördern“. Als Mittel zur Erreichung dieses Zweckes nennt das Statut: Vorträge, Besprechungen, Bibliothek und Lesezimmer, Unterricht zur Förderung allgemeiner und gewerblicher Fortbildung, sowie im Turnen und Gesang, ferner gesellige Vergnügungen, an welchen, gleichwie an den hierzu besonders bezeichneten Vortragsabenden, auch die Familien der Vereinsmitglieder theilnehmen können. Indem diese Mittel mit der allgemeinen Bildung zugleich die körperliche und geistige Gesundheit der Handwerker heben, sind sie gleichzeitig von dem bedeutendsten Einfluß auf die Verbesserung ihrer materiellen Lage. Unmittelbar gefördert wird die letztere, wie die Weltausstellungs-Denkschrift von 1867 sich ausdrückt, insbesondere durch die Verbreitung tüchtiger Berufskenntnisse, welche durch naturwissenschaftliche und technische Vorträge aller Art, durch die Erschließung der gewerblichen Literatur in Büchern und Zeitschriften, durch die persönliche Berührung mit hervorragenden Kennern der Industrie, endlich aber auch durch Specialunterricht im Zeichnen und Modelliren und in verschiedenen fachlichen Vorkenntnissen und Fertigkeiten erstrebt wird.
Gemeinschaftliche Versammlungen des Vereins finden jetzt wöchentlich dreimal statt (Montags, Mittwochs und Sonnabends). Den Mittelpunkt dieser Versammlungen, an denen, soweit der Gegenstand dies angemessen erscheinen läßt, auch Frauen theilnehmen können, bilden die Vorträge, welche alle Zweige gemeinnützigen Wissens, mit Ausschluß des politischen und religiösen Gebietes, umfassen. Alle Vorträge sind unentgeltlich und werden von den Lehrern des Vereins nach Maßgabe eines vierteljährlich festgestellten und veröffentlichten Lectionsplanes gehalten. Meist auf klare und abgerundete Erörterung einzelner Fragen angewiesen, dehnen sie sich nicht selten zu einer Reihe zusammenhängender Darstellungen aus. Die Vorträge behandeln in ihrer bei weitem überwiegenden Mehrzahl Gegenstände aus der Technologie, den Handelswissenschaften, dem Gewerbe, der Volkswirthschaft, den Naturwissenschaften.
Aber auch Geschichte, Rechts- und Staatswissenschaften, Geographie und schöne Literatur fehlten selten auf den Lectionskatalogen. Diese Vorträge finden stets ein aufmerksames, schier andächtiges Publicum, und wer die Reichshauptstadt besucht, um ihre großartige Entwickelung auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens, der Kunst und Wissenschaft kennen zu lernen, sollte ja nicht versäumen, das stattliche Vereinshaus in der Sophienstraße zu besuchen, in den mit den Bildnissen Lehfeldt’s, Steinert’s und den Büsten von Schulze-Delitzsch, Lette, Jahn geschmückten Saal zu treten, wo die Fahne mit dem sinnigen Symbol drei sich die Hände reichender Gestalten – Gelehrter, Künstler und Handwerker – herabwallt, wo dicht gedrängt die Mitglieder mit gespannter Aufmerksamkeit den Vorträgen lauschen.
Die Vortragsabende werden nach alter Sitte mit einem gemeinschaftlichen Gesange – meist eines beliebten Volksliedes – begonnen, und an den Vortrag schließt sich regelmäßig die Beantwortung und Besprechung von Fragen an. Nichts am Himmel und auf Erden bleibt von der Frage- und Forschungslust der Mitglieder unberührt. Der Spott über die vielen thörichten Fragen ist wohlfeil; faßt man aber die Gesammtheit derselben in’s Auge, so überrascht nach Carl Frenzel’s treffender Bemerkung die Theilnahme, die das Volk der Wissenschaft entgegenbringt, sein gesunder praktischer Sinn, der nicht in die metaphysische Unendlichkeit, sondern nach einer bestimmten Erkenntniß trachtet. An einzelnen Abenden finden unter der Leitung von Lehrern des Vereins Discussionen der Mitglieder über zeitgemäße gewerbliche Fragen statt; an anderen werden declamatorische Uebungen, die jetzt unter Franz Duncker’s vortrefflicher Leitung stehen, geboten.
Die Vorträge, die Fragenbeantwortung und die Besprechungen an den Vereinsabenden gewähren der Gesammtheit der Mitglieder mannigfaltigste Anregung, welche durch eine reichhaltige Bibliothek und ein Lesecabinet wesentlich unterstützt wird, in welch letzterem gegenwärtig einundsiebenzig Zeitungen und Journale, darunter viele fachlichen Inhalts, ausliegen. Der Unterricht ist dagegen dazu bestimmt, nicht der Gesammtheit der Mitglieder, sondern dem Einzelnen die Gelegenheit zu ernster Fortbildung zu bieten.
Es gilt hier, die Lücken des Schulunterrichts zu ergänzen und das, was in jahrelanger harter Arbeit an Schulkenntnissen verloren geht, zu ersetzen; es gilt, durch Unterweisung im Gesang und im Turnen geistige und leibliche Frische dem Handwerker immer rege zu erhalten; endlich ihm die Mittel zu gewerblicher Vorbildung und zur Vervollkommnung in seinem Fache zu gewähren. Nach allen diesen Richtungen hin finden seit nunmehr einundzwanzig bis zweiundzwanzig Jahren ununterbrochen Unterrichtscurse im Verein statt, an denen sich regelmäßig eine sehr große Zahl von Schülern betheiligen. Der Unterricht erstreckt sich auf Rechnen, Schönschreiben, Lesen, Rechtschreiben, Geschäftsaufsätze und Stilübungen, Briefstil, Geometrie, Vaterlandskunde, Geographie, Geschichte. Besondere Curse sind für doppelte Buchführung, französische und englische Sprache, Gesang, Bau- und Maschinenzeichnen, Turnen, Literatur und deutschen Aufsatz, kaufmännisches Rechnen, einfache Buchführung und Wechselkunde eingerichtet worden.
Dieser Unterricht wird grundsätzlich gegen Entgelt ertheilt, und die Beiträge der Lernenden fließen zur Vereinscasse, aus welcher die Lehrer besoldet und die sonstigen Kosten des Unterrichts bestritten werden. Die Honorare sind indeß sehr mäßig und decken den erforderlichen Aufwand nicht. Der von der Vereisscasse geleistete jährliche Zuschuß für den Unterricht hat seit einer Reihe von Jahren eine Erhöhung erfahren durch eine Unterstützung von 1000 Mark, welche der Magistrat, und von 500 Mark, welche der Unterrichtsminister gewährt.
Der lebhafte Wunsch der Mitglieder nach tüchtiger fachlicher Ausbildung hat ferner im Jahre 1865 zur Errichtung einer besonderen Schule für Bauhandwerker geführt. Unter Leitung von Architekten, welche der Lehrerschaft angehören, gewährt die Baugewerkschule den jungen Bauhandwerkern des Vereins die nöthige theoretische Fachbildung, sodaß sie sich in der Praxis mit Vortheil bewegen können und auch die Meisterprüfung zu bestehen im Stande sind. Die außerordentliche Vortrefflichkeit dieses Instituts, das von einem besonderen Curatorium geleitet wird, ist von den Staatsbehörden dadurch anerkannt worden, daß der Unterrichtsminister demselben eine Beihülfe von 3000 Mark für die allgemeinen Kosten und von 1000 Mark zur Beschaffung von Lehrmitteln alljährlich gewährt hat. Auch durch den gemeinschaftlichen Besuch großer gewerblicher Etablissements und Kunstsammlungen wird auf die allgemeine und die gewerbliche Bildung der Mitglieder fördernd eingewirkt.
Die Vergnügungen des Handwerkervereins ordnen sich zwanglos der allgemeinen Aufgabe unter und werden zu einem Hebel sittlicher Förderung, körperlicher und geistiger Gesundheit.
Gar häufig werden den Mitgliedern die herrlichsten Kunstgenüsse geboten und die gefeiertsten Künstler scheuen sich nicht, ihre Kunst im Saale des Handwerkervereins vor einem dankbaren Publicum zur Geltung zu bringen. Unter Leitung des königlichen Domsängers Herrn Knorre wird auch an einem der wöchentlichen Vortragsabende einstimmiger Volksgesang geübt.
Wir könnten unsere Darstellung der Mittel, durch welche der Verein seinen idealen und zugleich im eminenten Sinn praktischen [431] Zweck zu erreichen strebt, noch viel weiter ausdehnen, ohne erschöpfend zu sein, da der Verein nicht still steht, sondern sich immer weiter entwickelt. Wir fügen nur noch hinzu, daß die Mitgliedschaft des Berliner Handwerkervereins jedem unbescholtenen Manne freisteht, welcher das siebenzehnte Lebensjahr vollendet hat und einen monatlichen Beitrag von dreißig Pfennig zahlt.
Die großen politischen Ereignisse des letzten Jahrzehnts, die Entwickelung des politischen Vereinswesens insbesondere, haben leider in den letzten Jahren nicht unerheblich dazu beigetragen, einen Rückgang in der Mitgliederzahl unseres Vereins, die gegenwärtig indeß immerhin noch 1500 bis 2000 betragen mag, herbeizuführen.
Es ist indeß zu erwarten, daß, wenn erst die politische Krisis, in welcher sich unser Vaterland gegenwärtig befindet, überwunden sein wird, wenn die Tage der ruhigen stetigen Entwickelung unseres staatlichen Lebens zurückgekehrt sein werden, auch der Handwerkerverein wieder in umfassenderer Weise sein wird, was er stets gewesen: eine Volksakademie für jeden aufstrebenden Gewerbetreibenden, Handwerker und Arbeiter, für jeden Mann aus dem Volke, der im Verkehr mit gleichgesinnten Genossen seinen Gesichtskreis zu erweitern und unter der Anleitung von Gelehrten und Künstlern sowohl allgemeine wie auch gewerbliche Bildung zu erlangen strebt.