Eine deutsche Schriftstellerin
Eine deutsche Schriftstellerin.
Wir bringen heute, namentlich unseren Leserinnen, die einfache Lebensgeschichte einer Frau, die sich, ohne selbst recht zu wissen, wie ihr geschah, in der Reihe deutscher Schriftstellerinnen gefunden und in den Kreisen der deutschen Frauenwelt sich viele Herzen erobert hat.
Bei Sternen erster Größe bleibt ihr Leben wie ihre Werke ein Besitz für das Jahrhundert, eine unerschöpfliche Fundgrube noch für lange künftige Jahre. Erscheinungen von zweiter Bedeutung, solche, die nicht gewaltige Harfen stimmen können, um neue Töne hervorzurufen für kommende Geschlechter, die aber so glücklich waren, im Vorübergehen eine Saite anzuschlagen, die in vielen Herzen wiederklingt, – sie werden sammt ihren Werken vergessen sein, eh’ die Zeit gekommen, in der man ein Menschenleben im rechten unparteiischen Lichte anschauen kann; darum ist der Wunsch des Publicums wohl berechtigt, von solchen Sternen zweiter Größe bei Zeiten Näheres zu erfahren. Was man aus solch einem Leben mittheilen und verlangen kann, das können eben nur die äußern Umstände sein und soviel von dem innern Bildungsgang, als nöthig ist zu erklären, wie sie wohl auf den Weg gekommen, auf dem wir sie kennen gelernt.
Ottilie Wildermuth ist am 22. Februar 1817 geboren, als das älteste Kind des Criminalrath Ronschütz zu Rottenburg am Neckar, einer kleinen würtembergischen Oberamtsstadt. Schon im Jahr 1819 kam ihr Vater als Oberamtsrichter nach Marbach am Neckar, Schiller’s freundlicher Geburtsstadt. Alle Erinnerungen der Kindheit und Jugend knüpfen sich für sie an diesen anmuthig gelegenen Ort, in dem sie bis zu ihrer Verheirathung lebte und die Freuden eines glücklichen Elternhauses mit drei jüngern Brüdern theilte.
Die äußerst einfachen Lehranstalten der kleinen Stadt boten wenig Hülfsmittel für die geistige Ausbildung eines aufgeweckten und lernlustigen Kindes; die Versuche, das Mädchen mit dem ältesten Bruder Latein lernen zu lassen, hatten keinen glänzenden Fortgang, woran vielleicht mitunter die pedantische Methode der Lehrer Schuld trug, die nicht begriffen haben, daß ein Mädchenkopf anders angefaßt werden muß als ein Knabengeist, der wohl schon zum Voraus logischer und gründlicher angelegt ist. Wie die kleine Ottilie so glücklich war in ihrem ersten Lehrer, der ihr im vierten Jahre schon Lesen und Schreiben ohne alle Schwierigkeit beibrachte, ihren besten Freund, den Vertrauten all ihrer kindischen Angelegenheiten zu finden, so hat sie der lateinischen Lehrstunden nebst Lehrern immer nur mit großer Abneigung denken können und beklagte gar nicht, daß sie vom Bruder, als er zur Schule kam, so rasch überflügelt wurde, daß von gemeinsamen Lectionen keine Rede mehr sein konnte.
So blieb es denn mit den Grundlagen des Wissens sehr mangelhaft bestellt; die Volksschule that ihr Bestes, indem sie neben gründlicher Kenntniß der Orthographie, des Rechnens und Lesens ihren Schülern alle Jahre auf’s Neue die geographische Anschauung der fünf Welttheile beibrachte, ferner die Thatsache, daß Europa drei Kaiserthümer und vierzehn Königreiche habe, und ihnen schließlich noch einen Umriß der würtembergischen Geschichte gab.
Es wurden verschiedene Versuche gemacht, der Kleinen zu weiterem Unterricht in der Geschichte und andern dienlichen Wissenschaften zu verhelfen, und es wurden dazu junge Theologen in Anspruch genommen, die als Vicare sich im Orte aufhielten. Da aber diese meist nur kurze Zeit zu Marbach verweilten, ihren Geschichtsunterricht aber höchst gründlich bei Aegypten, Assyrien, Babylon und Ninive begannen, so kam das arme Kind gar nicht aus diesen alterthümlichen Zuständen und fabelhaften Namen heraus, und mußte sich erst später mit Hülfe historischer Romane einigermaßen in’s Mittelalter und in neuere Zustände einleben.
Es wurde beschlossen, daß sie einem Onkel, einem benachbarten Landgeistlichen, der bei einer sehr lebendigen, regsamen Natur Freude am Unterrichten fand, mit seiner eigenen Tochter von gleichem
[373]Alter, mit der sie schwesterlich die Freuden und Leiden der Kindheit theilte, übergeben werden sollte.
Da wanderte sie denn in lichter Früh über den Berg hinüber und kehrte Abends nach Haus, oder sie verlebte ganze Wochen in dem Dorf, das durch ein alterthümliches Kloster, durch allerlei heimliche und unheimliche Plätzchen und verborgene Wiesengründe, an die sich zahlreiche Geistersagen knüpften, viel Anregendes für eine junge Phantasie hatte. Der Onkel verfuhr auch nicht eben systematisch bei seinem Unterricht, aber sein ganzes Wesen wirkte belebend und anregend; schade, daß er, ehe Ottilie dreizehn Jahre alt war, in eine entfernte Gegend versetzt wurde, – so blieb auch dies Wissen Stückwerk.
Was so an gründlicher Schulbildung versäumt blieb, das wurde theilweise ergänzt durch den fast unbewußten Einfluß gebildeter, geistig lebendiger Eltern. Der Vater besaß bei sehr vielseitigen Kenntnissen, bei warmem Interesse für jede Kunst, die ihn in dem bescheidenen Maßstabe seiner Mittel zum Beschützer aller schönen Künste in seiner Umgebung machte, eine äußerst lebendige Darstellungsgabe; die Mutter hatte durch ein reiches, tiefes Gemüth, eine lebhafte, heitere Phantasie, durch lebendigen Sinn und treues Gedächtniß für Dichtungen Alles, was eine warme Natur anregen und entwickeln kann.
Junge Künstler, reisende Sänger, sogar Declamatoren und Bauchredner, ja, zum Entsetzen der Mutter einmal eine musicirende Zigeunerbande kehrten in dem Vaterhause ein, dessen gastlicher Herr keinen, sei er arm oder reich, unerquickt ziehen ließ. Reisende Schauspielerbanden, die zu Zeiten ihren mangelhaften Tempel in dem Städtchen aufschlugen, übten einen fast magischen Einfluß auf die Phantasie des Kindes, und als sie vollends im zwölften Jahr mit Vater und Brüdern zum ersten Mal das Theater und die Kunstausstellung in der Residenz besuchen durfte, da ging ihr eine neue Wunderwelt auf.
Leichter zu erreichen und gewiß eben so bildend und befruchtend für das innere Leben waren die harmlosen Freuden, die jeder Tag brachte, die goldne Freiheit in zwanglosem Umhertreiben mit den Gespielen durch Feld und Wiesen, die Abendspaziergänge mit Vater und Brüdern und die erlaubten, oft auch geraubten Genüsse, welche die reiche Bibliothek des Vaters bot.
Unter die zahlreichen Liebhabereien des Vaters gehörte auch der Gartenbau. Zwei schöne Gärten waren reich bepflanzt mit den schönsten Tulpen, mannigfaltigen Rosen, blühenden Lauben, kleinen Gehölzen und seltenen Gesträuchen. Wenn auch die prächtigen Pflaumen-, Birn- und Apfelbäume den ersten Reiz für die Kinder hatten, so gab es doch neben dem materiellen Genuß reichen Stoff zu heiterer Arbeit, zu phantastischen Spielen – und köstlicher noch als das Alles waren die stillen Stunden in der grünen, blühenden Einsamkeit, das süße, bilderreiche Traumleben einer Kinderseele, das vielleicht unbewußt mächtiger als Menschenwort und Menschenthat an der Erziehung eines Herzens Theil hat.
Der Verkehr mit der weit verzweigten Familie wurde nach echt schwäbischer Sitte bis in’s dritte und vierte Glied aufrecht erhalten, Onkel und Tanten, Vettern und Bäschen kamen zu kürzern und längern Besuchen und wurden gastirt und bewirthet. Das großelterliche Haus – die Eltern der Mutter lebten im selben Orte – bildete einen äußerst behaglichen Mittelpunkt, die dicke Großmama, des Großvaters zweite Frau, mit dem rothwangigen, gutmüthigen Gesicht verstand so recht, es sich und Andern gut zu machen, und sorgte immer für häusliche Feste, die in der großen Gartenlaube oder in der Staatsstube mit den vielen Familienbildern gehalten wurden, von denen sie viel und lebendig zu erzählen wußte.
[374] Auch mit Pfarrfamilien der Gegend wurde viel freundschaftlicher Verkehr unterhalten, da der Vater, dessen von Natur heiteres, innerlich weiches Gemüth sich gedrückt fühlte von dem harten, schweren Beruf des Juristen, vorzugsweise den Umgang mit gebildeten Geistlichen liebte und suchte. Vor allem war es ein ganz nahe gelegenes Dörfchen, drüben über dem Neckar zwischen grünen Obstwäldern gebettet, dessen freundliches Pfarrhaus ein liebes Ziel viel fröhlicher Spaziergänge war – es war so lieblich hinüberzufahren über den blauen Neckar und weiter zu wandeln, bis der grüne Pfad sich im Obstwäldchen verlor.
Eine gesuchte Erzählerin war Ottilie zu jener Zeit, ohne alle Ahnung, daß einst auf diesem Gebiet ein Theil ihres Berufes liegen werde; den Brüdern ließ sie auf dem Spaziergang die Wahl: „Wollt Ihr eine Räuber-, eine Ritter- oder eine Geistergeschichte?“ In den Pausen der Schulstunden, in der Strickschule, in der Gartenlaube oder im grünen Gras unter dem Apfelbaum des Pfarrgartens – überall sammelte sich ein kleiner Kreis um sie, dem sie unermüdet gelesene oder selbsterfundene Geschichten vortrug; auch die Aufführungen auf einem kleinen Puppentheater fanden stets ein zahlreiches Auditorium.
Im sechsten Jahr, als ihr einmal Niemand mehr erzählen wollte, hatte sich die Kleine eingeschlossen in die Stube, um sich mit lauter Stimme selbst eine Geschichte zu erzählen. Sie war sehr erfreut über diese Entdeckung, daß man sich auch selbst erzählen könne, und erinnert sich fast keiner Zeit, wo sie dies nicht versucht hätte, bis in späterer Zeit die Phantasiebilder von ernsten Gedanken verdrängt wurden. Zu ihren ersten poetischen Versuchen fühlte sie sich angeregt durch die liebliche Umgebung ihrer Heimath, – ein paar Naturgedichte, ein paar Verse, um etwas Anderes als die langweilige Vorlage auf die Schulschrift schreiben zu können, ein begeistertes Gedicht an die junge Lebensretterin Susanna Breisacher in Baden, eine gereimte Satire auf die Lateinschüler, mit denen die Mädchenschule in beständigem kleinem Krieg lebte, eine Elegie auf den Tod von zwei kleinen Kindern, Geschwistern, die in einer Woche starben, das waren so ziemlich ihre ersten Versuche vom zehnten bis dreizehnten Jahr. Auch das Loos des verbannten Königs Karl X., von dem sie freilich wenig kannte, als sein trauriges Geschick, rief ein paar Klagelieder um „das graue Königshaupt“ hervor, während sie später mit glühender Begeisterung Polenlieder dichtete.
Das kleine Talent wurde von Eltern und Freunden gerne bemerkt, doch in keiner Weise gesteigert, noch weniger in der Erziehung darauf Rücksicht genommen. Wenn sie später bedauert hat, daß ihr Gelegenheit zu gründlicher Schulbildung fehlte, so hat sie dagegen immer als großen Segen erkannt, daß ihr durch die tüchtige Leitung der Mutter die häuslichen Geschäfte lieb und vertraut geworden sind, die für Körper und Geist die gesunde Grundlage eines Frauenlebens bilden.
Die einzige längere Trennung vom Vaterhause außer kleinen Reisen zu Verwandten und Freunden rings im Lande, war ein siebenmonatlicher Aufenthalt in der Residenz „zur Ausbildung“, wie das vor dem Zeitalter der höhern Töchterschulen bei jungen Mädchen vom Lande noch mehr als jetzt Sitte war. Diese Ausbildung bestand außer französischen Lectionen im Besuch einer Tanzstunde, in Lectionen im Kochen, Bügeln, Kleidernähen; all diese Lehrstunden bildeten heitere Landcolonien, in denen die feinern Töchter der Residenz nur die zweite Rolle spielten, harmlose Mädchenstaaten im Staat, die von Glanz und Geräusch des Residenzlebens wenig berührt wurden. Durch liebe Herzensfreundinnen und Verwandtenhäuser wurde Ottilien auch später noch die Residenz fast zur zweiten Heimath. Große Reisen hat sie nie gemacht, und viel später erst auf der Hochzeitreise zum ersten Mal die Grenze ihres kleinen Vaterlandes überschritten.
Daheim gestaltete sich das Leben des erwachsenen Mädchens noch heitrer und vielgestaltiger, als die Brüder in der Ferienzeit den Hauch eines frischen, geistig regen Studentenlebens mit nach Hause brachten, als die weiten Räume der alten Amtswohnung einen fröhlichen Sammelpunkt bildeten für die zahlreichen Vettern und Bäschen mit denen die Familie gesegnet war, als in den stillern Zwischenzeiten zahlreiche Briefe, kleine Gedichte, scherzhafte Drama’s, welche die kleinen Begebenheiten des Beisammenseins schilderten, hin und wider flogen. Der Vater ließ die Jugendlust gewähren und zog sich höchstens zurück, wo es ihm zu bunt wurde; die Mutter, selbst noch frischen und jugendlichen Sinnes, belebte und erhöhte nur die Freude der Jugend; Sprüchwörterspiele, Landpartien und Wasserfahrten machten die Ferienzeiten fröhlich und wechselreich.
Einen tiefern Reiz als durch diesen heitern Verkehr erhielt das Leben des jungen Mädchens durch die innige Freundschaft mit einer jungen Frau, der treubewährten Freundin, der sie später in dem kleinen Buche „Auguste“ versuchte ein Denkmal zu setzen. Zu jeder Zeit übrigens, neben allem Sinn für heitern Umgang, war ihr die Einsamkeit, stille Gänge in der klaren Morgenfrühe, auf den grünen Hügeln, in den lieblichen Thälern der Gegend der liebste Genuß. Diesen tiefen Zauber der Einsamkeit, den die Jugend unbewußt mit vollen Zügen genießt, sucht wohl das spätere Alter vergeblich, bis wir höher gestiegen, immer höher, und immer stiller geworden sind, so daß wir in Ahnung des Lichtes der stillen Ewigkeit Ersatz finden für die verblichenen Jugendträume.
Die glückliche Gabe der Erinnerung ist, daß sie meist heitre Bilder aufbewahrt. Kommt es vielleicht daher, daß das Helle, Fröhliche mehr auf der Oberfläche des Daseins schwimmt, das Dunkle, Ernste sich mehr auf den Grund senkt und wieder hervorgeholt sein will? So scheint auch diese Lebensskizze sich zu einem Lichtbild ohne Schalten zu gestalten, während es auch diesem Leben, wie jedem, nicht an ernsten, trüben Erfahrungen gefehlt hat.
Es ist schwer, die Schatten, die schon durch die vielgepriesene, vielbesungene goldne Kinderzeit gehen, zu Tage zu legen; – das Kind, dem seine innersten Regungen selbst nicht klar sind, kann sie auch nicht ausdrücken, es wird leichter, als man denkt, verschüchtert, gekränkt, mißverstanden, und doch lassen sich auch die Leiden der Kindheit meist auf den alten Spruch zurückführen:
Wie leicht oder wie schwer die Fehler und Vergehen der Kindheit wiegen mögen auf der Wage der spätern, nüchternen, praktischen Lebensanschauung, das thut nichis zur Sache; jedes Gewissen hat seine eigene Wage, eine Wage, deren Gewichte von höherer Hand geregelt worden sind. Wenn nun auch auf die Freuden dieser Kindheit Leid und Kummer, Reue und Angst schon ihre dunkeln Schatten geworfen, so ist durch sie auch der Zug der ewig treuen, suchenden Liebe gegangen, die sich ausspricht in den schönen Worten: „ich habe dich je und je geliebet, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte.“
Auch dem reifern Mädchenleben fehlte es nicht an ernsten Mahnungen an die Vergänglichkeit des Irdischen, an das Eine, was Noth thut. Zwei geliebte Freundinnen ihrer Kindheit und Jugendzeit starben in blühendem Alter, die Eine unerwartet schnell, die Andere nach langem, schwerem Hinsiechen. Die vielen stillen Stunden, durch lange Monate an diesem Krankenbette verbracht, gehören zu den ernstesten ihres Lebens, gewiß aber nicht zu denen, deren Erinnerung sie auslöschen möchte.
So konnte sie die leichten Vergnügungen, die man so gewöhnlich Jugendfreuden nennt, harmlos genießen, ohne von ihnen hingerissen zu werden. Die Schlange unter diesen Rosen, mit welcher man so oft der Jugend bange macht, hat sie nicht entdecken können, aber ihre fröhlichsten und glücklichsten Erinnerungen liegen nicht da, und sicher ist es eher ein Gewinn, als ein Abzug an echter, frischer Jugendlust, wenn die äußeren Verhältnisse oder der Gang der inneren Entwickelung den Genuß solcher Freuden ausschließen.
Als Schriftstellerin je einmal aufzutreten, ist Ottilien zu jener Zeit auch nicht im Traume eingefallen. Ernste und heitre Gedichte, jene scherzhaften Dramen, die kleine Ereignisse des Mädchenleben darstellten, waren all ihre poetischen Versuche, die im nächsten Kreise der Freundinnen gehört und vergessen wurden. Eine Schriftstellerin erschien ihr als ein seltsames Ausnahmsgeschöpf, ihr Loos ein interessantes, aber keineswegs ein wünschenswerthes.
Briefe, zahllose Briefe an ernste, an heitere, an sentimentale, an nüchterne, an fromme, an weltlichgesinnte Freundinnen waren das Einzige, was sie schrieb; dazwischen suchte sie da und dort die Lücken ihrer Bildung etwas auszufüllen, sich wenigstens die französische und englische Sprache, für welche letztere sie große Vorliebe hegte, mehr zu eigen zu machen.
Der schnelle Tod eines geliebten Bruders im Jahr 1841 bildete den innern Wendepunkt, der wohl in jedem Leben eintritt; die tiefste Tiefe des Leides, den ganzen furchtbaren Ernst des Lebens und des Todes, aber auch Gottes erbarmende Treue hat sie [375] in jenen Tagen kennen gelernt, mit denen sie ihre Jugend als abgeschlossen ansah.
Im Jahr 1843 verlobte und verheirathete sie sich mit Dr. Wildermuth, Professor der Mathematik und der französischen Sprache am Gymnasium in Tübingen; die Verlobung wurde im Hause ihrer Freundin Auguste gefeiert, deren Mann damals Geistlicher in Tübingen war. Sie that den Schritt in ernster Freudigkeit und hat diese Führung bis auf die heutige Stunde als eine selige und segensreiche erkennen dürfen.
Es war im zweiten Jahr ihrer Ehe, als sie, in Folge eines Scherzes, für ihren Mann und Bruder das erste ihrer schwäbischen Bilder, „eine alte Jungfer“, schrieb, das eine Gestalt aus ihrer Jugendheimath darstellt. Ihr Bruder sandte den Versuch an’s Morgenblatt; die freundliche Aufnahme, die er dort fand, ermuthigte sie zu weitern, und so, gegangen, getrieben, gezogen und gelockt, ist sie allmählich weiter und weiter zu den, einst gefürchteten Loose einer Schriftstellerin gekommen. „Bilder und Geschichten aus dem schwäbischen Leben“, „Aus dem Frauenleben“, „Auguste“ folgten binnen wenigen Jahren hintereinander und erwarben ihr reiche Anerkennung und Liebe. Ottilie Wildermuth kennt das weibliche Herz wie keine andere Schriftstellerin und schildert es wahr, einfach und schön. Ihre „Mädchenbriefe“ sind das Vollendetste, was man in dieser Beziehung lesen kann.
Drei blühende Kinder, zwei Mädchen und ein Knabe, erwachsen um sie her; seit des Vaters Tod hat die geliebte Mutter ihr Haus zur Heimath erwählt und steht ihr bei mit Rath und That, wenn die Anforderungen des Lebens und der Pflichten gar zu mannigfaltig werden wollen.
So hat ihr Leben keine interessanten Begebenheiten, keine großartigen Wechsel aufzuweisen, – dem guten alten Neckar, der schon an ihrer Wiege vorüberrauschte, ist sie getreu geblieben und hofft einst an seinen Ufern eine friedliche Ruhestätte zu finden.