Eine abgehärtete Pflanze
[428] Eine abgehärtete Pflanze. Wie weit das Anpassungsvermögen gegen hohe Kältegrade in der Thier- und Pflanzenwelt gehen kann, davon berichten uns die Nordpolfahrer. Die wunderbarste Mittheilung dieser Art verdanken wir Nordenskjöld aus der Zeit, wo er am Strande von Pillekaj an der Nordküste Sibiriens mit der „Vega“ im Jahre 1878/79 überwinterte. Die mittleren Temperaturen der Wintermonate, vom November bis April, betrugen –16° bis –26° C., und an einzelnen Tagen verzeichnete man selbst den klingenden Frost von –40° bis –46° C.! Auf diesem kalten Strande wuchs auf der Kuppe eines dem Anprall der Winde ausgesetzten Sandhügels ein Stock des Löffelkrautes (Cochlearia fenestralis). Die Polarforscher hatten im Sommer 1878 gesehen, wie dieses Kraut zu blühen begann und auch theilweise Früchte ansetzte. In diesem Zustande der Blüthe, wo die Pflanze noch eine Menge ungeöffneter Blüthenknospen trug, wurde sie von dem furchtbaren Polarwinter überrascht. Man hätte erwarten sollen, daß die Frostgrade von –40 bis –46° C. die zarten Blätter und Knospen, die unreifen Samen erbarmungslos zerstören würden. Mit nichten! Das Kind der nordischen Flora erlag nicht dem Schicksal unserer zarten Blumen, die schon ein Reif tödtet. Als der Sommer wiederkam, da erwachte die Pflanze und setzte ihr Leben dort fort, wo es durch den Winter unterbrochen worden war; ihre Blätter grünten weiter, aus den Blattachsen sproßten neue Blüthenstände hervor, und die Blüthenknospen, die der vorhergehende Sommer gebildet hatte, öffneten sich. Da blieben die Nordpolfahrer erstaunt stehen und sannen nach über dieses Wunder der Natur, uber diese unverwüstliche Lebenskraft, die der rauhen Polarwelt zu trotzen wußte. *