Eine Stätte des Entsetzens
Man sollte meinen, daß die Natur veredelnd auf die Menschen einwirke, die täglich den Genuß dieses großen Theaters, das rings um sie aufgebaut ist, vor Augen haben. – Ich bin auf meinen Reisen fast immer das Gegentheil gewahr worden.
In Constantinopel widersprechen sich Natur und Menschen wie Tag und Nacht, doch hier in Neapel, dieser paradiesisch schönen Stadt, erscheint der Gegensatz noch stärker. – Erlauben Sie mir, einen Beweis für die Wahrheit meiner Behauptung zu bringen.
Die Neapolitaner haben zwei Kirchhöfe, das Campo santo nuovo und das Campo santo vecchio (den neuen und den alten Friedhof), beide an der nordöstlichen Seite der Stadt, nicht weit von einander entfernt. Das Campo santo nuovo liegt auf der Höhe unter Poggio reale in der Richtung nach Nola zu mit herrlichem Blick auf die Stadt, das Meer und die Berge. Ich möchte es mit einem Garten vergleichen, voll der schattigsten Bäume und Blüthen, die mit ihrem narkotisch süßen Duft die Luft erfüllen, voll Oleander, Amaranten, Tulpenbäumen, Hortensien, blühenden Myrthen allüberall. Hier stehen die Grabmonumente, meistens von der Form sehr zierlicher Säulentempel, die bisweilen ganze Straßen bilden, da sie auf beiden Seiten sich aneinanderreihen. Andere stehen in Gruppen vereint, oder schließen sich zu einer kleinen Todtenstadt zusammen. Auf den Giebelseiten der einzelnen Grabmonumente liest man die Namen der Brüderschaften Neapels; diese bilden gegen zweihundert Vereine, welche die Besitzer der Grabmäler und Veranstalter der Begräbnisse und gleichzeitig treffliche sociale Gemeinschaften sind, da sie auch Kranke und Nothleidende pflegen. Andere Monumente sind Familiengräber, über ihnen befindet sich eine kleine Capelle, welche durch eine Gitterthür verschlossen ist und einen Einblick in das Innere gewährt. Ein kleiner Altar, ein Madonnenbild, die ewige Lampe, Bilder und Büsten der Todten bilden die innere Ausstattung derselben. In ihnen halten die Zurückgebliebenen ihre Andacht ab in dem tröstenden Gedanken, daß die geliebten Todten nicht weit von ihnen weilen. Auf der Höhe des Hügels erhebt sich eine Säulenhalle und eine Kirche, in welcher Todtenmessen gehalten werden; zwölf Capucinermönche wohnen in der Nähe dieser Kirche in einem zierlichen kleinen Kloster, wo sie ihren Gottesdienst halten.
Die Grabmonumente erinnern mit ihren heitern und sinnreichen, angenehmen und graciösen Formen an die der Alten; ja viele sind sogar nach pompejanischer Weise mit Farben geschmückt; und nun diese entzückende Lage inmitten der erhabenen Natur! Muß dies nicht dem klagenden Auge des Zurückgebliebenen wie ein Trost und eine Versöhnung mit seinem Schicksale erscheinen? Dort dehnt sich das gesegnete Campanien, das azurblaue Meer, die fernen Küsten von Sorrento und Castellamare und der weite Gürtel des Vesuv mit unzähligen Ortschaften zu seinen Füßen; das Alles winkt uns wie aus einer andern Sphäre des Raumes und des Lichtes beruhigend entgegen, und da zieht wohl unwillkürlich der Wunsch auch in unser Gemüth, einst so gebettet zu liegen wie diese Todten hier. – Man sieht, die Neapolitaner haben für die ehrende Bestattung ein tiefes Verständniß, aber um so befremdender und verletzender, ja ich möchte sagen, empörender erscheint es, zu welcher Rohheit und Uncultur sie sich bei denjenigen Verstorbenen herabwürdigen, die ohne Besitzthum von dieser Welt scheiden.
Auf dem Campo santo nuovo giebt es drei Classen von Begräbnissen, die je nach dem Preise mit größerem oder geringerem Luxus ausgestattet werden. Die dritte Classe für die Armen besteht in der einfachen Beisetzung des Todten in einem Sarge und ist für zwanzig Franken zu erschwingen. Wer diese aber nicht zurückläßt, dem ist das Campo santo nuovo überhaupt nicht zugänglich und er kommt dann auf das Campo santo vecchio. Das ist der große Armenkirchhof Neapels; wer jedoch nur einem einzigen [607] der dort üblichen Begräbnisse beigewohnt hat, der wird diesen Armenkirchhof nicht mit einem heiligen Acker, sondern mit einer großen Kehrichtgrube vergleichen, in welche man die ehemaligen Menschen wie Schutt und Moder achtungslos aufeinander wirft. Und diese Art von Begräbniß wird geleitet von der Stadtbehörde, sie widerspiegelt also den Willen der gesammten Bürgerschaft Neapels.
Eines Abends, als die Tagesgluth der Sonne nachzulassen und die Säume der Berge und Wolken sich zu vergolden anfingen, begab ich mich durch das Gewühl der von Lebensfluth strömenden Stadt hinaus auf dieses Feld des Todes.
Ich hatte mich auf Erschreckliches vorbereitet, denn viel hatte ich von dieser Unsitte gehört, aber meine Befürchtungen wurden noch weit übertroffen durch das, was ich mit ansehen mußte. – Schon die Gassen, die man passirt, sobald man durch die Porta Capuana die Stadt verläßt, um sich von da nordostwärts nach der Strada del Camposanto zu begeben, entsprechen dem Bilde, das unser wartet. Hohe, schmale, halbverfallene Häuser, mit Fenstern, schmutzig und verklebt, bilden die ziemlich geräumige Straße; Menschen der untersten Classen, halbnackt, verwahrlost, verkommen und jeder bessern Regung baar, blicken aus den Fenstern oder sitzen vor den Thüren oder liegen in unschönen Gruppen auf der Straße und verhindern den Fremden an der freien Benutzung derselben.
Ich fuhr in einem Fiaker, mein Kutscher schlug das Verdeck des Wagens auf, um nicht, wie er sagte, die Verantwortung auf sich zu nehmen, wenn Jemand hinterwärts unberufene Anstalten machen wollte, sich des Wagens zu bemächtigen. Nun fing es an öde und einsam zu werden; hin und wieder tauchte ein Haus, das Bild der Armuth und der Verkommenheit, aus der sonst menschenleeren Ebene hervor. Noch wenige Straßen durch Mauern eingefaßt, hinter denen hervorragende Obst-, Citronen- und Granatenbäume mich wieder daran erinnerten, daß ich mich trotz alledem noch in den Gefilden der Campania felix befand. Der Kutscher hielt an, wir waren an unserm Ziele; ich stieg hinaus und ging bergaufwärts einen schmalen Weg, auf der einen Seite durch eine Mauer, auf der andern durch ein verfallenes, langgestrecktes Gebäude eingezwängt, aus dessen Gewölbe Gerüche von Moder und Verwesung zu mir heraufstiegen. Es war das Todtenhaus, in welchem diejenigen Leichname, die nicht mehr des Abends bestattet werden können, bis zum nächsten Morgen niedergesetzt werden. In der Mitte dieses Hauses befindet sich ein Thor; durch dieses mußte ich gehen, um zu einem großen weiten Platze zu gelangen, und dieser ist endlich das vielbesprochene Campo santo vecchio.
Der Platz ist von quadratischer Form und von allen Seiten mit hohen Wänden eingefaßt, deren Monotonie durch schwach heraustretende Wandpfeiler in bestimmten Zwischenräumen leidlich unterbrochen ist. Die Pfeiler sind oben durch Bögen verbunden, so daß eine Art von Arcadenrelief den Schmuck der sonst verfallenen, von Wind und Wetter geschwärzten Mauer bildet. Dem Eingange gegenüber, in der Mitte der Wand, befindet sich ein Heiligenbild, mit geschmackloser und bizarrer Phantasie flach aus dem Brett geschnitten, wie man sie hier auf Plätzen und an Straßenecken vielfach findet. Dies war das Einzige, was hier an das Christenthum erinnerte.
Der Gesammteindruck ist der des Nackten, Todten, Kalten; ebenso erscheint der Fußboden. Glatt liegen die einzelnen großen Quadersteine in schräger Richtung nebeneinander, von Zeit zu Zeit abwechselnd mit einzelnen quadratischen Steinen, die in gleichen Zwischenräumen von einander den Wänden parallel laufende Reihen bilden. Jeder dieser Steine verdeckt die Oeffnung zu einer Todtenkammer, und da für jeden Tag im Jahre eine solche besteht, so sind im Ganzen dreihundertfünfundsechszig und einige drüber auf der Ebene ausgebreitet. Unter diesen laufen die Mauern, die sich rechtwinklig schneiden und die einzelnen Todtenkammern begrenzen; jeder Stein liegt dann gerade auf der Mitte derselben. – Das ist die Einrichtung dieses Campo santo.
Kein Leben blüht auf dieser Stätte der Einsamkeit; hart wie das Gestein, das dich umgiebt, gefühllos, nackt, still, freudelos und leer ist diese öde Todtenfläche. Da grünt kein Baum, kein Strauch, keine Cypresse; da blüht keine Myrthe, kein Oleander, kein Thymian; nicht ein Grashalm sprießt aus den Fugen der Steine neu hervor; nichts bewegt sich, nur der Todtengräber, ein großer brauner Käfer, wühlt sich aus den einzelnen Fugen und Löchern hervor, läuft mit Windeseile über die Todtenfläche hin und schlüpft wieder hinein, von wo er gekommen. Das ist alles Leben, was du erblickst, gleichsam um dich zu mahnen, daß auch im Tode Leben weilet. Kein Ton ist hörbar; das Einzige, was hier die Luft erfüllt, ist Modergeruch, Leichenfäulniß, höchstens schallen aus der Welt des Lebens die matten Töne ersterbenden Glockengeläutes bis hierher. Du glaubst dich aus der Welt herausverirrt, farbelos, freudelos ist Alles, was dich umgiebt. Doch schau! die Sonne taucht hinab, auch das Licht erstirbt über dieser Stätte, wo Alles todt ist; da bringt man schwarze hölzerne Kasten, aus vier Brettern gezimmert; Männer sind es, die sie auf dem Kopfe tragen, halbverkrüppelt, zerlumpt, vom nagenden Hunger, von bittrer Armuth abgezehrt, gleichgültig auch gegen dieses Gewerbe. Vielleicht noch wenige Monate, und wie sie jetzt tragen, so werden sie von Anderen getragen. Um einen Stein setzen sie die Kästen nieder. – Nun erscheint der Priester, selbst ein Bild des Elends, der Verkommenheit, ein Hohn der Kirche, die uns mahnet: „Du sollst die Todten ehren!“
Ohne jede Spur von Regsamkeit des Herzens segnet er die Leichen ein, sein ganzes Gebet dauert vielleicht eine Minute, dann geht er fort; mit einem Hebel wird der Stein gewaltsam aus seiner Vermauerung gelöst und die Kästen werden geöffnet. – Männer, Frauen, Kinder, ganz entkleidet, entstellt, schmutzig, noch die Spuren ihrer jüngsten Leiden mit sich tragend, liegen darin – dieselben Mäner, die die Todten brachten, zerren nun mit dem Ausdruck völliger Erstorbenheit, niedrigster Gleichgültigkeit die Leichen heraus und werfen sie wie Schmutz und Unrath in die Grube hinab.
Mein Auge wandte sich ab vor Entsetzen, doch das Fürchterlichste war der Ton, der im nächsten Augenblicke an mein Ohr drang.
Die Gruben sind etwa 25–30 Fuß tief; 110 Jahre werden sie gebraucht und jedes Jahr wiederholt man die Barbarei auf derselben Stelle. – Dreißig Leichname werden durchschnittlich an einem Tage hinabgeworfen, so daß in jeder Gruft zuletzt die Reste von 3300 Menschen liegen. – Und wie sie fallen, so läßt man sie auch liegen, bis sie der Zahn der Zeit der Erde gleich gemacht hat.
Die letzten Jahrgänge, noch halb Knochen, halb Fleisch, bilden eine weiche, fürchterliche Masse, auf diese werfen sie die Todten, und wie wenn Jemand von oben herab einen flachen Gegenstand auf eine Wasserfläche schleudert, so hört es sich hier an, wenn in dieser ausgemauerten, dunkeln, feuchten, weiten und tiefen Gruft die Leichen auf den Boden fallen.
Dieser Ton, das ist der Inbegriff des Fürchterlichsten, das sich hier vor uns abspielt!
Ekel, Schauder erfaßt die Brust; wer diesen Ton gehört, dem verhallet er nie wieder!
Man vergleiche die Grabmäler der Aegypter, Perser, Griechen, Römer, Byzantiner; man schaue auf den Prunk, mit dem die Indianer und die Eingebornen Afrikas und Australiens ihre Todten ehren, und man wird zu dem Ausspruch kommen: so roh, so unmenschlich, so widersträubend gegen alles Gefühl von Sittlichkeit wie dieses Volk verfährt kein anderes auf der ganzen Erde! –
Außer den Todtenträgern und dem Pförtner erwies Niemand den Verstorbenen die letzte Ehre.
Wer von den Angehörigen und Freunden möchte es auch über sich gewinnen, dieses Bild des Schreckens an dem zu sehen, der ihm im Leben lieb und werth gewesen! Wenn der Sterbende die Augen geschlossen hat und die Nachkommen besitzen nicht so viel Geld, um wenigstens die dritte Classe der Bestattung zu bezahlen, so müssen sie sich eben an jene Todtengräber wenden. Diese kommen, messen die Größe, holen ihre schwarzen Leichenkasten, die zu derselben passen, legen das nackte Todte hinein und tragen es fort an diese Pforte der Unsterblichkeit.
Nur einen Mann erblickte ich, den ich für den Vater eines todten Knaben hielt. – Der Mann war schwarz und feierlich gekleidet; das Kind hatte ebenfalls an seinem Körper einige armselige Kleider. – Ein Paar zerrissener Schuhe bedeckte die kleinen Füße, ein Hemdchen den abgemagerten Leib, selbst eine Mütze den Kopf. – Um die Brust war ein weißes Tuch gebunden, an [608] diesem ließ der Mann das Kind sanft und leise hinab, dann gab er ihm einen kleinen Schwung nach der Seite und warf es so weit als möglich von den anderen Todten fort, damit sein Kind wenigstens allein ein Plätzchen für sich bekomme. Nun noch ein Blick des Schmerzes, des Entsetzens, der Verzweiflung, noch ein Händegruß nach dem eignen Fleisch und Blut, und mit Eile wankte der Mann über die Stätte der Leere hinaus.
Auch mich trieb es hinaus, ein fürchterliches Grauen erfaßte mich, ich hörte und sah nichts mehr, mir ward unendlich wehe, in einen solchen Spalt der Schöpfung hinunterzusehen. Ich eilte an das Freie, Ekel hatte mich ganz gepackt, und ich schöpfte erst wieder Athem am Molo, als mein Auge auf diese ewig reine, klare, heilig große Natur fiel. – Der Mond war eben aufgangen, er stand über dem Vesuv, diesen in ernster, ruhiger Plastik aus der Landschaft hervorhebend. Magisch ergoß sich das Licht des Mondes über Berge, Meer und Stadt, den ganzen Golf mit einem breiten Lichtstrom wunderbar durchfluthend. Der schwarze Mastenwald erschien in einem weißen Silberdunst, der schlanke Leuchtthurm funkelte matter, tausend Barken glitten traumhaft wie schwarze Schatten über die Lichtfläche, tauchten auf und verschwanden, am Horizont stieg der schöne Fels von Capri aus der Nacht märchenhaft empor und wie phantasmagorische Schattenbilder glitzerten drüben Somma, der Vesuv und die silberhellen Berge von Castellamare und Sorrento. Dies Alles lag vor mir, klar, friedlich in zauberhafter Ruhe und führte auch mich allmählich wieder zu mir selbst zurück.
Noch lange blickte ich hinein in dieses Bild feenhafter Schönheit, aber noch oft wiederholte ich mir selbst die Worte: Nein, das Volk ist nicht wie sie, nicht wie die Natur, die es umgiebt; würde es sonst im Anblicke dieses Meeres, dieser Berge, dieses Himmels so gefühllos und so herzlos gegen seine todten Brüder verfahren können? –