Textdaten
Autor: Robert Kraft
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Titel: Eine Nordpolfahrt
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Erscheinungsdatum: (1901)
Verlag: H. G. Münchmeyer
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Erscheinungsort: Dresden
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Quelle: Commons
Kurzbeschreibung: Humoristische Erzählung von einer Dampferfahrt.
Heft 9 der Heftromanserie Aus dem Reiche der Phantasie
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Aus dem Reiche der Phantasie.

Herausgegeben von Robert Kraft.

Preis 10 Pfg. = 14 Heller = 15 Ctm.

Heft 9.


Eine Nordpolfahrt.
[WS 1]           

9.

Verlag und Druck von H. G. Münchmeyer, Dresden.

Auszug aus der erklärenden Einleitung

zum ersten Bändchen.




Richard ist bis zum zwölften Jahre ein kräftiger, lebensfroher Knabe gewesen, als er durch ein Unglück gelähmt wird.

Am Abend seines vierzehnten Geburtstages sitzt der sieche Knabe allein in der Stube, traurig und freudlos, kein Ziel mehr im Leben kennend. Da erscheint ihm eine Fee. Sie nennt sich die Phantasie, will ihm ihr Geburtstagsgeschenk bringen und sagt ungefähr Folgendes:

In Richards Schlafzimmer befindet sich eine Kammerthür. Jede Nacht wird er erwachen (das heißt nur scheinbar), er soll aufstehen, jene Thür öffnen, und er wird sich stets dort befinden, wohin versetzt zu sein er sich gewünscht hat. Er kann sich also wünschen, was er will, er kann allein sein oder mit Freunden, er kann auch den Gang seiner Abenteuer ungefähr im voraus bestimmen; hat er aber einmal die Schwelle der Thür überschritten, dann ist an dem Laufe der Erlebnisse nichts mehr zu ändern. Alles soll folgerichtig geschehen, der Traum nichts an Wirklichkeit einbüßen. –

Die Erscheinung verschwindet, Richard erwacht aus dem Halbschlummer. Aber die gütige Fee hält Wort, und so findet der arme Knabe im Traume einen Ersatz für sein unglückliches Leben.

Jede Erzählung schildert nun eins seiner wunderbaren Erlebnisse, wie sie ihm die Phantasie eingiebt.




IX.[WS 2]

Eine Nordpolfahrt.[1]




Der Nordlandsdampfer.

Alle Rechte vorbehalten.

Wieder einmal hatte Richard von der gütigen Traumfee verlangt, ihn etwas recht Merkwürdiges erleben zu lassen. Und siehe da, noch war er kaum eingeschlafen, da ging auch bereits sein Wunsch in Erfüllung. Der Direktor des Bremer Norddeutschen Lloyd teilte nämlich dem plötzlich in einen Seemann von gesetztem Alter mit rotem Gesichte und noch röterer Nase verwandelten Richard mit, daß er zum Kapitän eines Nordlandsdampfers bestimmt wäre, der von einer Künstlergesellschaft gemietet worden sei. Er wisse doch, meinte der Direktor, wen er an Bord habe, daß es ganz bevorzugte Passagiere, darunter die ersten Sterne des Hoftheaters, seien, und daß man ihm als erfahrenem Nordlandsfahrer nur deshalb die Führung dieses Dampfers anvertraut habe, weil man ihn wegen seiner persönlichen Vorzüge ganz besonders für diesen Kapitänsposten geeignet halte.

Richard dankte durch eine Verbeugung für die ihm zuteil gewordene Ehre.

Enttäuscht über das, was ihm die Phantasie da vorspiegelte, war er nicht im geringsten.

Er war ja in diesem Augenblicke thatsächlich davon überzeugt, ein alter Seemann zu sein, der sich am Kap Horn schon ein Dutzend Mal den Wind um die Nase hatte pfeifen lassen und auch bereits ein paar Polarexpeditionen mitgemacht habe, bis er schließlich in die Dienste des Bremer Lloyd getreten war. Allerdings früher, als er noch Schiffsjunge und dann später Leicht- und Vollmatrose gewesen war, da hatten – offen gestanden – derartige Abenteuer, wie er sie voraussichtlich jetzt erleben würde, für ihn noch mehr Reiz gehabt. Dieses jugendliche, für allerhand wunderbare Erlebnisse so empfängliche Alter hatte er eigentlich schon längst hinter sich; jetzt war ihm ein steifes Glas Grog beinahe lieber.

Mit jener Künstlergesellschaft, die in die nördlichen Breiten wollte, hatte es aber folgende Bewandtnis.

Einzig und allein die Laune der schönen Primadonna des Hoftheaters hatte genügt, um das lustige Völkchen zur Ausführung einer so extravaganten Idee zusammenzuführen. Die junge Dame nämlich, in die sich ein in der Residenz lebender vielfacher Millionär, ein kleiner, gutmütiger Mann mit etwas krummen, auswattierten Beinen und einem hohlen, anscheinend mit Stroh ausgepolsterten Kopfe so sterblich verliebt hatte, daß er sie sogar zu heiraten beabsichtigte, hatte es sich, nicht zufrieden mit den ihr verehrten Perlen und Diamanten und einem glänzenden Heim, in dem sie dieses kostbare Geschmeide bergen konnte, in Ermangelung anderer Wünsche ihres übersättigten Herzens partout in dem Kopf gesetzt, auf einem eigenen oder doch gemieteten Dampfer eine der damals üblichen Nordlandsreisen anzutreten.

Da diese nun in der Gesellschaft des langweiligen und simpelen Verehrers zu eintönig geworden wäre, so wurden, da die Ferien vor der Thür standen, sämtliche Mitglieder des Hoftheaters dazu eingeladen, und so war bald eine bunte Gesellschaft zusammengekommen: der Baß, der Baß-Buffo, der erste und zweite Tenor; dann der Held, der sentimentale Liebhaber, der nichtswürdige Intrigant, der im gewöhnlichen Leben immer finstere Komiker und die anderen, die dazu gehörten; dann die weiblichen Mitglieder des Theaters, von der Naiven bis zur Heldenmutter, außerdem noch ein paar Balletteusen. Auch einige andere Künstler schlossen sich an, ein Maler, ein Bildhauer, ein nervöser Virtuos und ein halbverhungerter Dichter.

Als Proviant an Bord genommen wurde, staunten die Matrosen, dabei mit der Zunge schnalzend, besonders die ungeheuren Mengen des Champagners und der Schnäpse an, die vorhanden waren. Nachdem nun die aus achtundzwanzig Köpfen bestehende Gesellschaft über die Laufbrücke geschritten war, begrüßte sie Kapitän Richard nochmals, dann donnerte er durch das Sprachrohr seine Kommandos – und der Dampfer stach in See.

Ja, es waren wirklich ganz besondere Passagiere! Es versprach eine lustige Fahrt zu werden. Selbst die Seekrankheit verlief bei den Leutchen ganz anders als sonst bei gewöhnlichen Sterblichen; sogar in der Todesqual mußte noch deklamiert werden, und wenn der ewig durstige Baß das zwanzigste Glas Punsch bestellte, so war er anscheinend kein Mensch mehr, sondern der zürnende Jupiter selbst und donnerte, daß die Schiffsplanken erzitterten.

Die Seekrankheit war überstanden; man amüsierte sich zusammen und allein ausgezeichnet. Der Dichter tanzte, wenn er satt war, und die erste Tänzerin dichtete in gräßlichen Versen die Fjords an; der Maler spielte Klavier, und der Virtuose malte; die Naive suchte der Primadonna den Millionär abspenstig zu machen, und die Heldenmutter schäkerte mit einem Schiffsjungen; der Komiker und der Heldentenor spielten Tag und Nacht in einer engen Kabine Sechsundsechzig um ihre Gage, soweit diese noch nicht versetzt war.

Kapitän Richard gestand sich, noch nie eine solche famose Seereise gemacht und noch nie ein solch vergnügtes Völkchen um sich gehabt zu haben.

Eine traurige Rolle spielte nur der Millionär. Er hatte bei der Seekrankheit seine geraden Beine verloren und konnte das Ersatzpaar nicht finden. Aus Verzweiflung angelte er den ganzen Tag, fing aber niemals etwas, bis einmal doch, als er fortgewesen war und wieder zurückkam, etwas Großes angebissen halte. Als er nämlich den Fisch mit der Rute an Deck schwang, waren es seine Wattenpolster für die Beine, die am Angelhaken hingen!




Nach dem Nordpol.

Das Nordkap war von ferne bewundert, andeklamiert, angesungen, angedichtet, angetanzt und angetrunken worden – eine Landung war wegen der hohen See nicht möglich gewesen – es ging nun auf die Bäreninsel zu, die man umfuhr; dann sollte die Rückreise angetreten werden.

„Mein bester Kapitän, nun noch nach Spitzbergen,“ flehte die Primadonna, „nur die ewig eisgekrönten Gipfel von Spitzbergen möchte ich einmal sehen, dann will ich sterben.“

„Ne, Bauline, ja nich, awer was fällt Dich nur inn!“ stotterte ihr Bräutigam ängstlich.

Trotzdem wurde der Kurs nach Spitzbergen genommen. Das wüste Eisgebirge, das auch im heißesten Juli nicht auftauen wollte, kam in Sicht.

„Mein liebster, bester Kapitän,“ flechte da die Primadonna wieder, „nun bloß noch um Spitzbergen herum, und ich habe keine Sehnsucht mehr auf Erden.“

„Da verlangen Sie wirklich zu viel von mir, meine Gnädige. Wir sind hier an der Westküste, die im Sommer, so wie jetzt, meistenteils eisfrei ist; die Nord- und Ostküste dagegen starrt auch noch um diese Jahreszeit meist in Eis. Ich kann das Risiko nicht auf mich nehmen.“

Die Primadonna verwandelte sich jetzt. Sie drapierte ihren Pelz um die Schultern, legte die Hand auf die Bordwand und hob sich auf den Zehenspitzen:

„Kapitän, um Spitzbergen – oder es ist mein Tod!“ rief sie pathetisch mit flammenden Augen.

„Ne, ach ne, Bauline, mach doch nur keinen solchen Unsinn nich,“ erinnerte der Bräutigam.

Die Umschiffung war in dieser Jahreszeit wohl möglich; sie wurde ja von allen Walfischfängern ausgeführt. Der verantwortliche Kapitän wollte sich nur entlasten, deshalb wurden jetzt auch die anderen Mitglieder um ihre Ansicht befragt.

„Meinetwegen,“ brummte der Baß, dann setzte er hinzu: „Steward, ein Glas Punsch, aber mit möglichst wenig Wasser!“

„Ich melde zwanzig mit Schippenkönig,“ sagte der Heldentenor, als er abstimmen sollte, „jawohl, fahren wir um das Nordkap herum.“

„Pardon, das Nordkap haben wir bereits seit drei Tagen hinter uns, es handelt sich um Spitzbergen.“

„Och jut, rutschen Sie mal um dat Dings rum. Ick steche.“

Alle waren damit einverstanden, und so kam der Dampfer bald an die Nordküste.

„Mein liebster, bester Kapitän,“ schmachtete jetzt die Primadonna, „nun bloß noch nach dem Nordpol, dann ist das Ziel meines Lebens erreicht.“

Kapitän Richard mochte einwenden, was er wollte – die Primadonna wünschte den Nordpol zu sehen und drohte mit Dolch, Blei, Gift und Küssen.

„Awer, Baulinchen, was willste denn nur uff’m Nordbol? Der is ja noch gar nicht entdeckt!“ jammerte der Bräutigam.

„So werde ich ihn entdecken!“

Es konnte allerdings der Versuch, den Wunsch der Primadonna zu erfüllen, gewagt werden, man durfte wohl etwas weiter vordringen, denn das Wasser war noch frei, aber ein Wagnis blieb es doch, denn man hatte bereits den 80. Breitengrad überschritten, und ein umspringender Wind konnte das Schiff im Treibeise einschließen.

Wieder mußten die Passagiere abstimmen.

„Meinetwegen,“ brummte der Baß. „Steward, ein Glas Punsch, aber ganz ohne Wasser.“

„Ich decke“, sagte der Heldentenor, „fahren Sie mal weiter auf’n Nordpol zu, aber een bißken fix, daß det Dings endlich jefunden wird. Schwarz – zählt viere.“

„Nach dem Nordpol!“ Das war bald der einstimmige Ruf.

Natürlich dachte der Kapitän nicht daran, aus der Vergnügungsreise eine Polarexpedition zu machen; er wollte nur noch etwas weiter vordringen, denn die Gelegenheit war wirklich günstig, das Meer war ja ganz eisfrei, und auch der Wind würde nach menschlichem Ermessen konstant bleiben.

„Kapitän, ist es wahr, daß durch den Nordpol die Achse geht, um welche sich die ganze Erde mit allem, was drauf ist, dreht?“ flötete plötzlich die erste Ballerina.

„Jawohl, meine Gnädige, und am Südpol kommt diese Achse wieder heraus.“

„Na, wer schmiert da denn eigentlich die Achse?“ fragte schnell der in der Nähe stehende Bräutigam, der nämlich sein Geld in einer Schmierölfabrik verdient hatte.

„Das thun die dort oben angestellten Eskimos,“ erklärte der Kapitän.

„Ach nee!“ rief die Balletteuse staunend. „Ich wollte es nämlich mit die Achse gar nicht recht glauben, weil ich’s doch gar nicht merke, wie sich die Erde dreht. Mich hat einmal ein Baron erzählt, eigentlich wäre der sogenannte Nordpol nur sozusagen ein großes Loch, und wenn man da hineinfiele, käme man unten am heißen Südpol wieder heraus. Stimmt das?“

„Das ist gar nicht so unmöglich, die Gelehrten sind sich selbst noch nicht ganz einig, ob der Nordpol ein Loch oder eine Achse ist.“

„Ach, da möchte ich einmal jemand hineinwerfen!“ freute sich die Balletteuse. „Aber sagen Sie mal, Herr Kapitän, wenn die Eskimos nun immer das Schmieröl in das Loch gießen –“

„Ich bitte um Entschuldigung, meine Gnädige, nur einen Augenblick, ich werde gerufen, stehe gleich wieder zur Verfügung.“ Aber Richard hütete sich, wieder zur Verfügung zu stehen. Er hatte nämlich in derartigen Sachen mit solchen Passagieren schon seine bitteren Erfahrungen gemacht.

Am Abend zeigte sich ein herrliches Nordlicht. Das mußte mit einem allgemeinen Punsch gefeiert werden; da es aber an Deck schon zu kalt war, wurde derselbe in der Kajüte eingenommen, und Richard sorgte dafür, daß bis zum Schlafengehen niemand wieder heraufkam, denn er wollte schleunigst die Rückfahrt antreten.

Es sollte aber anders kommen.




Eingefroren.

Frühaufsteher waren die Passagiere alle nicht, obgleich es unter diesem Breitengrade schon gar keine Nacht mehr gab. Warum sollten sie sich strapazieren? Es waren ja Ferien. Aus der Koje zu springen und an Deck zu eilen, um die Wunder der Natur anzustaunen, das fiel ihnen gar nicht ein. Auf dem Theater hatten sie ja das alles auch. Waren sie aufgestanden, so wurde erst lange Toilette gemacht, gemächlich gefrühstückt, und erst dann erschien einer nach dem anderen an Deck, soweit sie nicht von anderen Beschäftigungen in der Kajüte festgehalten wurden.

Heute aber kamen sie auch nicht so weit; es war draußen zu neblig und kalt.

Als der Kapitän in die Kajüte trat – er sah sehr ernst aus – malte der Musiker, klimperte der Maler auf dem Klavier, aß der Dichter, trank der Baß, spielten der Heldentenor und der Komiker Sechsundsechzig, während die anderen lasen, plauderten und rauchten.

„Herr Kapitän, wie weit sind wir noch vom Nordpol entfernt?“

„Herr Kapitän, warum ist das Schiff stehen geblieben?“

„Herr Kapitän, warum ist es heute so kalt und neblig?“

„Herr Kapitän, wenn Sie zufälligerweise einen Walfisch sehen, bitte, rufen Sie mich, ich möchte gern einmal einen fangen. Aber zu klein darf er nicht sein, sonst lohnt sich’s nicht.“

So und anders scholl es Richard entgegen, und niemandem fiel dessen ernstes Gesicht auf.

„Meine Herrschaften,“ konnte dann Richard endlich das Wort nehmen, „ich muß Ihnen leider die Mitteilung machen, daß wir in Treibeis geraten und eingefroren sind.“

Er hatte noch andere Worte bereit, Worte des Trostes und der Ermutigung, er wollte[WS 3] den Herrschaften sagen, daß die Lage noch keine so schlimme sei, doch er kam nicht dazu.

„Trumpf! Warte Du Luder,“ sagte nämlich der Heldentenor, die Karte auf den Tisch hauend, und:

„Da sehen Sie man zu, wie sie uns wieder herauskriegen,“ meinte der Baß. „Also eingefroren sind wir? Steward, ein Glas Punsch, mit etwas Cognak hinein, nicht zu wenig!“

„Kommen schon Eisbären gelaufen?“ fragte der Walfischfänger, der Intrigant. „Bitte rufen Sie mich, wenn einer kommt, ich möchte gern einmal einen Eisbären schießen. Aber er darf nicht zu klein sein, sonst lohnt sich’s nicht.“

Der Komiker aber hatte die Karten hingelegt, stand auf, schaute mit vernichtenden Blicken um sich – und alles verstummte. Denn wenn dieser schweigsame Mensch, der immer voll bitterer Galle war wie ein Ei voll Dotter, einmal sprechen wollte, so hatte das etwas zu bedeuten.

„Kapitän,“ begann der Komiker mit unheilvoller Stimme, und seine Augen loderten in furchtbarem Grimm, „wir sind faktisch eingefroren?“

„Leider, ja, doch glaube ich –“

„Wir sind vom Treibeis umschlossen.“

Da sagte der finstere Mensch nichts mehr, setzte seine Pelzkappe auf, ergriff seinen Spazierstock, einen unheimlich dicken Knüppel, und ging schweigend an Deck.

Der Nebel hatte sich gelichtet, nichts weiter war zu sehen, als eine aufgestaute Eiswüste! An Deck aber arbeiteten zwar die Matrosen schon in Pelzkostümen, aber alle waren verstimmt. Das konnte eine böse Geschichte werden. Zu einer Polarexpedition hatten sie sich nicht anheuern lassen!

Der finstere, dicke Kerl in der Pelzmütze und mit dem Spazierknüppel ging jetzt an ihnen[WS 4] vorüber, blickte sich nicht um und lehnte sich über die Bordwand. Dann brüllte er mit bierheiserer Stimme:

„Schutzmann! Schutzm – a – a – an!“ ging darauf ebenso ernst, wie er gekommen, in die Kajüte, warf Pelzmütze und Stock weg und spielte weiter.

Erst sahen sich die Matrosen erstaunt an, dann brachen sie gleichzeitig in ein schallendes Gelächter aus, und auch unten in der Kajüte lachte der Kapitän und alle anderen stimmten mit ein.

Daß der Komiker in der Nähe des Nordpols nach einem Schutzmann rief, weil das Schiff eingefroren war, das war allerdings wohl verrückt zu nennen, die Art und Weise aber, wie er es ausgeführt hatte, war zu urkomisch gewesen. Gerade in der Kürze seines Ausrufs lag die Seele des Witzes, die wunderbare Wirkung, die sich unmöglich wiedererzählen läßt.

Nur eine Person hatte den Witz nicht ganz verstanden.

„Giebt es denn hier auch Schutzleute?“ fragte nämlich die erste Ballerina naiv.

Dann besann sie sich.

„Ach so, ja – aber eigentlich hat er doch recht, eigentlich sollte so ein Treibeis polizeilich verboten sein!“

Jedenfalls aber war die trübe Stimmung, die zuerst auf den Passagieren gelastet hatte, plötzlich verschwunden, denn den ganzen Tag riefen die Matrosen nach dem ‚Schutzmann‘ und jedesmal erscholl ein neues Gelächter.

Dabei verschlechterte sich die Lage immer mehr; immer fester stauten sich die Eisschollen und Blöcke um das Schiff, und so groß auch die Eisbank war, sie stand doch nicht fest, sie wurde von einer heimtückischen Strömung nach Osten getrieben, und das war das Allerschlimmste, denn dort geriet man vollends zwischen Eisberge.

Der Kapitän konnte auf alles gefaßt sein, sogar auf eine Ueberwinterung im Eise auf dem achtzigsten Breitengrade. Nun sind zum Glücke solche Nordlandsdampfer thatsächlich auf die schlimmsten Fälle vorbereitet, und da man an einen Schiffbruch so wie so stets denken muß, der ja an jeder Eisbank stattfinden kann, so haben sie immer genügend Proviant und Kohlen an Bord und sogar für die Passagiere Pelzkostüme aus Seehundsfellen, die dort ebenso gut zur Ausrüstung gehören, wie die Rettungsgürtel auf anderen Schiffen.

Nachdem Richard einmal den Charakter seiner Passagiere erkannt hatte, machte er aus der Gefährlichkeit der Lage kein Hehl mehr. Er bereitete ihnen damit ja nur eine Freude. Die einen waren durch das Theaterleben gegen alle äußerlichen Eindrücke vollkommen abgestumpft, die anderen schwammen immer in höheren Regionen, die dritten waren zu dumm, um etwas zu begreifen, und machten mit, was die anderen thaten.

Eine kleine Veränderung brachte das Einfrieren aber doch mit sich. Jetzt malte der Maler nur noch Eisberge und das eingefrorene Schiff hinein, der Dichter begann ein Epos von zwei Dutzend Gesängen, der Virtuose aber komponierte – paukte auf dem Klavier und fragte jeden, ja, sogar die Matrosen, die er deswegen herunterholte, ob dies nicht genau klänge, als ob die Eisschollen brächen und die Eisberge zusammenkrachten ....

„Passen Sie auf – jetzt kommt’s – jetzt berstet das Schiff – klatsch, klatsch, schnedderedengdeng – das sind die Wellen – die sich am Rumpfe brechen – bruch, bruch, bums, kladderadatsch – jetzt ist’s gebrochen – bumberumbumbum – jetzt sinkt’s. Ist das nicht schön?“

„Na, dat ist nich scheun,“ sagte der Matrose kopfschüttelnd, „und wat die Wellen sünt, die seggen och nich schnedderedengdeng.“

„Jetzt schreien die Männer in Todesnot: huhu, hoho, hohoooh, halloh – nun[WS 5] zetern die Mütter: lulululululu – jetzt wimmern die Kinder: kui, kui, kui, kui, kui. – Klingt das nicht ganz natürlich?“

„Na, dat kling just, als wenn man een junges Swien absticht.“

„Mensch,“ sprang da der Pianist rasend auf und griff nach einem Bündel Noten, „hinaus, hinaus! Fort, aus meinen Augen! Sie sind ja unmusikalisch wie ein Wiedehopf!“

Oben an Deck aber lag die Primadonna an des krummbeinigen Bräutigams Brust und weinte Thränen der Rührung.

„Ludewig, ich danke Dir,“ schluchzte sie, „ich danke Dir für diese Ueberraschung, Du hast uns einfrieren lassen – Du göttlicher Mann! Nun stürze noch einem Eisberg auf uns, und ich habe nichts mehr in diesem Leben zu wünschen.“

„Ach nee, Bauline, ach nee, warum denn awer nur?“ stotterte Ludewig.

Und da hätte Kapitän Richard auch noch ermutigen sollen? – –

Inzwischen nahm die Kälte, die von den Eisschollen ausgestrahlt wurde, immer mehr zu.

„Wollen die Herrschaften nicht die Pelzkostüme anziehen?“ mahnte Richard.

„Pelzkostüme! Genialer Gedanke! Her mit ihnen!“

Wie aber die Damen die dicken, plumpen Fellsachen sahen, besannen sie sich doch.

„Das sind die echten Pelzanzüge aus Seeotter, wie sie auch die Walfischjäger und Polarforscher tragen,“ erklärte der Kapitän, „alles ist wasserdicht und –“

„Was? Seeotter! Walfischjäger?“ erklang es da freudig erstaunt seitens der Damen. „Her damit, wir ziehen sie an!“

„Haben Sie nicht einen Anzug, den ein berühmter Polarforscher getragen hat?“ fragte die Heldenmutter.

Der junge zweite Steuermann konnte damit dienen und brachte einen Anzug, in dem angeblich Franklins Gerippe gefunden wurde. Sofort zog die Schauspielerin ihn an.

Als auch die anderen Künstler die Pelzkostüme angelegt hatten, erscholl es plötzlich von allen Seiten: „Photographieren! Auf dem Eise! Ein Gruppenbild! Hat nicht jemand ein paar Eisbären bei sich?“

O ja, damit konnte gedient werden, denn Eisbärenfelle waren ja vorhanden. So bekleideten sich denn einige Matrosen mit ihnen, stellten sich auf allen vieren in den Hintergrund, und einer von ihnen mußte sogar ein blutiges Stück Fleisch in den Rachen nehmen.

Die Passagiere aber waren alle auf das Eis gegangen und nahmen – denn das war ja ihr Fach – Positur, indem sie sich mit Dolchen, Flinten, Pistolen und Aexten mörderlich bewaffneten. Auch der Heldentenor und der Komiker waren bewogen worden, ihr Sechsundsechzig einmal aufzugeben und sich an der Gruppe zu beteiligen. Ehe jedoch der Komiker ging, flüsterte er noch einmal heimlich mit dem sentimentalen Liebhaber, der den größten Photographenapparat besaß und die Gruppe aufnehmen wollte.

Auch er hatte sich natürlich in seiner Kabine mit einem Pelzanzuge bekleidet, und stellte sich als ernster Mann, der nichts auf solches Larifari giebt, bescheiden im Hintergrunde als der allerletzte auf.

„Bitte, recht freundlich – recht verwegene Gesichter – leben Sie in Ihre Augen mehr klappernde Todeskälte hinein – die Eisbären stillgestanden!“ kommandierte jetzt der sentimentale Liebhaber am Photographemapparat. „Halt, noch einem Augenblick – aber ja nicht verändern, so ist die Stellung ausgezeichnet!“

Er machte sich dann noch am Apparat zu schaffen, während die Eisbärenjäger unbeweglich standen und nicht wußten, warum sich die Mannschaft an Deck halb totlachen wollte.

Sie ahnten allerdings nicht, was hinter ihrem Rücken vorging. Der Komiker hatte nämlich schnell das Pelzkostüm wieder abgeworfen, und als er sich nur in Hose und Hemd befand, öffnete er auch noch letzteres auf der Brust, krempelte die Aermel hoch, setzte einen Strohhut auf und zog einen Fächer aus der Tasche, dabei sich fächerwedelnd rittlings auf einen Eisbären setzend. So wurde die Gruppe aufgenommen, und ehe sich die vorn wieder rühren durften, steckte der Komiker bereits abermals in der Pelzkleidung und stand harmlos hinter den anderen, die keine Ahnung davon hatten. Dieser Spaß sollte erst später beim Entwickeln des Bildes zum Vorschein kommen. –

Jetzt, da er nicht mehr vom Sechsundsechzig ganz in Anspruch genommen wurde, war in dem Komiker überhaupt der Schelm erwacht.

Er suchte ein Opfer, und er fand es.

Tiefsinnig stand er da, ein aufgehobenes Stück Eis betrachtend; plötzlich wendete er es hin und her, schüttelte mit dem Kopf und leckte daran. Daß er dabei von der Ballerina beobachtet wurde, wußte er natürlich.

„Was haben Sie denn da?“ fragte diese, neugierig nähertretend.

„Dieses Stück Eis,“ erklärte der Komiker feierlich, „ist ein seltener Fund – es ist wie meine Liebe.“

„Was wollen Sie denn damit sagen?“

„Es ist ein Stückchen Polareis, es ist unveränderlich. Es schmilzt nie.“

„Ach, gehen Sie weg!“

„Ich erkenne es an diesen Rillen. Herr Steuermann, was ist das?“

Der Gerufene, der zweite Steuermann, der natürlich eingeweiht war, kam heran.

„Ei der Tausend, das ist ja ein Stück Polareis!“ rief er. „Das ist hier ein seltener Fund. Würden Sie mir das Eis verkaufen?“

Leider vermochte der Steuermann nicht so unerschütterlich ernst zu bleiben wie der Schauspieler, doch konnte man sein Lächeln auch als freudestrahlendes Staunen auslegen.

Ungestüm riß ihm der Komiker das Eisstückchen aus der Hand.

„Nur eine Person hat Anrecht auf diesen Fund!“ schrie er, dann kniete er mit theatralischer Gebärde vor der Tänzerin nieder und bot ihr die Kostbarkeit da. „So treu und echt wie meine Liebe.“

„Ach gehen Sie! Ich werde Sie doch nicht berauben,“ wehrte die Ballerina verschämt ab.

Doch der Komiker fuhrt fort:

„Zum ewigen Andenken an diese Stunde. Nehmen Sie das Eis und tragen Sie’s auf dem Herzen.“

Dankbar lächelnd nahm die Tänzerin nunmehr das Geschenk, wickelte es vorsichtig in Papier und steckt es in die Tasche.

Die Geschichte mit dem Polareis machte schnell die Runde, aber es wurde ganz verschieden erzählt; obwohl nämlich die Schauspieler sich alle untereinander kannten, gab es doch einige sogenannte Dumme darunter, die die Geschichte ganz anders erfuhren, und zum Unglück für diese machte der Kapitän der Gesellschaft auch jetzt noch ein Experiment vor.

Er zeigte zwei hohlgeschliffene Gläser, deren Ränder genau aufeinander paßten, also ungefähr wie Uhrgläser aussahen, jedoch viel größer waren, füllte den Hohlraum in einem Eimer mit Wasser und entfernte darauf, nachdem dieses schnell gefroren war, die Gläser, um nun bei der hochstehenden Sonne das konvexe Eisstück als Brennglas zu benutzen und sich im Brennpunkt seine Cigarre anzuzünden und so weiter.

Dieses Experiment ist für einen Knaben, der Unterricht in der Physik genossen hat, kein Wunder, und man kann es natürlich auch bei uns machen. Aber hier gab es mehrere Personen, die außer sich vor Staunen waren.

„Das ist auch echtes Polareis,“ mußte der zweite Steuermann auf Anstiften der Komikers erklären, und dem Kapitän wurde krampfhaft zugeblinzelt. „Dieses Eis, auf dem wir stehen, ist ordinäres, das schmilzt wieder, weil es jenseits des achtzigsten Breitengrades gefroren ist. Was aber hier friert, das ist echt.“

„Dunnerlitzchen,“ meinte der Millionär pfiffig, „da könnte man doch ein Geschäft machen! Wenn wir nun ein paar Fässer mit Wasser gefrieren ließen und die mitnähmen?“

„Zu spät,“ bedauerte der Steuermann achselzuckend, dem es doch etwas bange wurde, „wir treiben beständig, soeben haben wir den achtzigsten Breitengrad passiert.“

Da brummte der Komiker ärgerlich vor sich hin, aber er wußte Rat, denn, „Polareis, echtes Polareis, ein ganzer Haufen!“ jubelten zehn Minuten später einige Matrosen auf einem mit Eisstücken bedeckten Platze.

Doch nur zweie waren es, die noch darauf hereinfielen. Die Ballerina suchte sich die schönsten Stücke aus und legte sie in einen Samtkasten, indem sie schon jetzt von Ringen und Armbändern mit eingesetztem, echten Polareis schwärmte, und Ludwig brachte gar seinen wasserdichten Koffer angeschleppt, den er ausgeräumt hatte, und nicht nur die Matrosen, sondern auch alle Künstler und selbst seine Braut waren liebevollst bereit, ihn mit Eisstücken vollzupfropfen.

„Polareis ist auch gut für Rheumatismus,“ meinte plötzlich ein Matrose.

„Wirklich?“

„Ja, und auch für Zahnschmerzen. Wenn echtes Polareis in die Koje gethan wird und man alles damit vollpackt, braucht man sich nur darauf zu legen, sich ordentlich zuzudecken, ein tüchtiges Feuer anzumachen – und Rheumatismus und Zahnschmerzen sind weg.“

„Ach nee! Das muß ich probieren!“

Witz besaßen die Matrosen ja auch; aber sie mußten jetzt doch die fürchterlichsten Anstrengungen machen, um nicht herauszuplatzen, und konnten gar nicht begreifen, wie die Schauspieler so unerschütterlich ernst zu bleiben vermochten.

Im Triumph wurde endlich der schwere Koffer nach dem Schiffe getragen, und wenn Herr Ludwig das Rezept gegen Rheumatismus schon heute abend probierte, konnte man ja morgen etwas erleben.

So ging es den ganzen Tag weiter, ein Witz folgte dem anderen, und als die Freiwächter endlich die Koje aufsuchten, thaten ihnen die Köpfe vor Lachen weh, und auch Richards Kopf war davon nicht ausgenommen.




In Gefahr.

Als der neue Tag anbrach, wenigstens der Uhrzeit nach gerechnet, war die Lage eine noch kritischere geworden.

Hinter dem Dampfer, nach Süden, wohin er mußte, war das Wasser nämlich total durch eine Eisbarriere gesperrt, und wenn auch vor ihnen das Treibeis gebrochen war und der Dampfer sich wohl durchwinden konnte, so ging es dort doch nach Norden, und außerdem drohten daselbst auch Eisberge mit ihrer Umarmung. Trotzdem mußte dieser Weg gesteuert werden, und so setzte sich denn der Dampfer nochmals nach Norden in Bewegung, indem er sich vorsichtig zwischen Eisbergen, die eine bittere Kälte ausstrahlten, hindurchwand oder Eisbrücken auswich oder sich festrannte und wieder freimachte, schließlich in offene Wasserstraßen hineinfuhr und wieder umkehren mußte. So ging das fort, ohne daß ein Ausweg gefunden wurde. Immer sorgenvoller wurde des Kapitäns Gesicht.

Endlich kam im fernen Osten Land in Sicht. Es waren langgestreckte, sehr große Inseln, die auf der Seekarte noch nicht einmal Namen und nur Nummern führten. Die Bücher schilderten sie als von Füchsen und Eisbären, im Sommer auch von Eskimos bewohnt; die Meeresströmungen an der Küste waren günstiger.

Da kam ein schwedischer Walfischjäger, der hier überwintern wollte, und teilte mit, daß dort ein Ausgang frei sei, den er soeben passiert habe; man gelange auf diesem Wege nach Süden in ein offenes Meer. Aber der Dampfer solle sich beeilen, das Packeis treibe von zwei Seiten, und in wenigen Stunden könne der Gang gesperrt sein.

Dorthin wurde nun gesteuert, und in der That gewahrte man, als man in die Nähe des Landes kam, den freigewordenen Gang. Was man aber dann erblickte, veranlaßte eine sofortige, ernste Unterredung zwischen den Offizieren, worauf der Kapitän in die Kajüte ging und die Passagiere mit ernsten Worten bat, sich an Deck zu begeben, da es sich um Leben und Tod handle.

„Was, wir gehen doch nicht unter?“ erklang es jetzt erschrocken von allen Seiten, und alle Gesichter, bis auf wenige, verfärbten sich.

„Aber der Stich gehört wenigstens noch mir!“ schrie trotzdem der Heldentenor.

Der Kapitän beruhigte sie und versicherte, so schlimm sei es noch nicht, er müsse jetzt nur einen Vorschlag machen, dazu sollten sich die Herrschaften an Deck begeben.

Alle folgten seiner Aufforderung, und der Anblick, der sich ihnen nun bot, war geradezu ein fürchterlicher, wenigstens für einem Seemann. Für die Augen der Künstler allerdings war er nur ein imposanter, und Rufe des Staunens wurden überall laut.

Zwei treibende Eisbänke, die durch Wind und Flut in zwei entgegengesetzte Richtungen getrieben worden waren, hatten sich einander genähert und alle Eisberge, die sie unterwegs getroffen hatten, eingeklemmt und vor sich hergeschoben, sodaß letztere nur einen Engpaß von großartiger und furchtbarer Erhabenheit bildeten, der aus Domen, Kirchen, Palästen und den wunderbarsten Formationen bestand, die oft nur so weit voneinander entfernt waren, daß der Dampfer kaum noch durchzukommen schien.

„Wie herrlich! Wie großartig! Wie reizend! Nee, is das aber hübsch!“ so klang es durcheinander.

„Hier müssen wir aber durch!“

„Na los denn, rutschen Sie durch! Und da haben Sie uns erst solche Angst gemacht?“

Richard erklärte ihnen nun, um was es sich handle. Durch mußte das Schiff allerdings – vorausgesetzt nämlich, daß es nicht stecken blieb und gleich von vornherein zerdrückt oder zermalmt wurde, denn die kleinste Erschütterung konnte ja einen solchen Eiskoloß zum Sturze bringen und damit den Dampfer vernichten.

Richard entwarf schnell einen Rettungsplan, und zwar folgenden: Die Passagiere sollten sich über die Eisdecke an Land begeben und den Weg über die nur zwei Meilen breite Insel zu Fuß zurücklegen. Drüben auf der anderen Seite war dann das Meer frei, und kam der Dampfer glücklich durch diese enge Gasse, so war alles gut. Falls aber der Dampfer stecken blieb, sollte die Mannschaft schnell noch, so viel als möglich, Proviant und so weiter an Land bringen, und zertrümmerte er schon vorher, nun, dann waren die Passagiere dem Tode auch nicht verfallen. Es war ja jetzt Sommer, und die Inseln wurden von Eskimos bewohnt, diese würden schon für ihren Unterhalt sorgen und sie bei Zeiten in ihren Kajas nach dem Festlande bringen. Doch das war ja die Annahme des schlimmsten Falles.

Der Kapitän eines Passagierdampfers ist für die Sicherheit seiner Passagiere mehr verantwortlich als für das Schiff. Deshalb wollte Richard an dem Marsche über Land teilnehmen, auch sollten die Gesellschaft sechs mit Proviant beladene Matrosen begleiten.

Klappernd vor Kälte, weil sie den warmen Salon in ihrer alltäglichen Kleidung verlassen hatten, standen die Künstler da und blickten nach dem wüsten, von Schnee und Eis bedeckten Lande, das völlig vergletschert und zerrissen[WS 6] war, und auf dem Eisgeschiebe mächtige Berge bildeten.

Ach, die Aermsten! Zwei deutsche Meilen zu Fuß zu laufen, ist für einen des Gehens ungewohnten Menschen eine ganz ansehnliche Leistung, und sie konnten sich ungefähr denken, was es bedeuten würde, in dieser pfadlosen Eiswildnis zwei Meilen zurückzulegen. Mit dem gewöhnlichen Marschtempo war es nichts. Sie hatten ja auch schon Beschreibungen von Polarforschern gelesen, und einigen war daher bekannt, daß man in diesen Regionen bei einem Marsche auf die deutsche Meile vier bis fünf Stunden rechnet, und noch dazu unter welchen ungeheuerlichen Strapazen!

Mitleidig blickte Richard auf sie. Aber er konnte ihnen nicht anders helfen.

Der Heldentenor erfaßte die Sachlage zuerst. Er griff mit der zitternden Hand an die Gurgel und stieß einige unartikulierte Laute aus.

„Und deswegen jagen Sie uns erst aus der Kajüte,“ fragte er, „um uns hier lange Rede zu halten? Ich hole mir ja einen Katarrh, der mich zeit meines Lebens zum Brüllaffen macht. Na, denn man los, Männecken, lassen Sie mal unsere Stiebeln schmieren. Komm, Anton, wir spielen einstweilen unsere Partie zu Ende.“

Anton ging, und der Komiker schloß sich ihm an. Richard blickte ihnen nicht mehr mitleidig, sondern fassungslos nach. Jetzt aber machte sich auch bei den anderen der Eindruck seines Vorschlages in Worten Luft.

„Dort über das Land sollen wir laufen? – Zwei Meilen weit? – Ach, wie reizend! – Herr Kapitän, giebt’s dort auch Eisbären zu schießen? – Sind auch wirklich Eskimos darauf? – Können wir da nicht einmal übernachten? – Machen wir auch ein Picknick? – Mein bester, liebster Kapitän, ein Picknick!“

So scholl es wirr durcheinander. Der Kapitän war vollkommen geschlagen.

Die Vorbereitungen wurden schnell getroffen, und bald standen die sechs Matrosen mit dem auf Schlitten verpackten Proviant, die Gewehre über der Schulter, auf dem Eise zum Abmarsch bereit. Die Künstler aber hüllten sich in ihre Pelzkostüme, und auch die unverbesserlichen Spielratten wurden dazu getrieben.

„Wir stehen drei zu fünf,“ sagte der Heldentenor, als er das Spiel beendet hatte und aufstand.

„Meine Herrschaften, wollen Sie nicht etwas Mundproviant mitnehmen?“ fragte der Kapitän. „Es geht auf Schlitten zwar davon genügend mit, aber es ist doch besser, wenn ein jeder etwas bei der Hand hat!“

„Jawohl, Fourage wird mitgenommen!“ hieß es jetzt allgemein. Diese Idee fand großen Beifall. Wenn Richard dabei aber an Rucksäcke gedacht hatte, in denen man die Lebensmittel auf dem Rücken mit sich schleppte, so irrte er sich. Die Künstler nämlich ließen sich nur zwei dünne Brotscheiben schneiden, schmierten Butter darauf, belegten sie mit Schinken und anderem Aufschnitt. Das war ihr Proviant für einen Marsch durch die Polarregion.

„Wir sind fertig!“ ertönte es endlich in der Runde.

Jetzt fühlte sich Richard doch veranlaßt, den Passagieren den Ernst der Situation, den sie gar nicht begreifen wollten, klar zu machen. Doch es war alles vergeblich. Diese Menschen schienen für etwas Ernstes gar nicht empfänglich zu sein.

„Haben Sie denn gar nichts mitzunehmen? Bedenken Sie doch, das Schiff kann untergehen mit allem, was darauf ist, also auch mit Ihren Sachen!“ mahnte er schließlich.

„Was, so steht die Sache?!“ hieß es da allgemein, und nun erst wurden Rufe des Schreckens laut, es entstand ein wirres Durcheinander, und ein jeder stürzte noch einmal in seine Kabine, um jedoch bald wiederzukehren. Zuerst erschien die Primadonna mit einem Ansichtspostkartenalbum, dann die Ballerina mit einem Bündel Liebesbriefe, hierauf der sentimentale Liebhaber, der aus irgend einem geheimnisvollen Grunde seinen Sommerüberzieher über den Arm gehängt hatte; endlich der Baß, der in jeder Hand eine Flasche Cognak trug, und der Heldentenor, der die Spielkarten eingesteckt hatte, während der Komiker mit seinem Spazierknüppel sichtbar wurde, den er zärtlich in beide Arme nahm – und so hatte jeder nach dem gegriffen, was ihm das Wertvollste auf Erden dünkte. Zu verlieren hatten ja diese Menschen alle nichts, und die Damen trugen das wenige Geschmeide, das sie auf die Reise mitgenommen, bereits bei sich.

Mit mehr wollten die Herrschaften sich nicht belasten. Ihre Bequemlichkeit ging überhaupt über alle Begriffe. Sie waren alle leidenschaftliche Jäger – besonders deshalb, weil die meisten noch keiner Jagd beigewohnt hatten – aber sie waren sogar zu faul, um die Schießprügel zu tragen. Auch diese mußten wie die Schneeschuhe auf den Schlitten verladen werden. Anderen Menschen hätte es vielleicht Vergnügen bereitet, in stolzem Selbstbewußtsein die Büchse unter den Arm zu nehmen und sich selbst als Polarjäger zu bewundern. Diese Schauspieler aber, die jeden Abend in allen[WS 7] nur möglichen Rollen auf der Bühne auftraten und bewundert wurden, waren über so etwas erhaben.

„Wir sind bereit, in den Tod zu gehen!“ erscholl es da plötzlich im Chor.

Wo aber war der Millionär? Man brauchte nicht lange auf ihn zu warten, denn da kam er soeben angekeucht, indem er den centnerschweren Koffer mit echtem Polareis hinter sich herzog.

Ah, das war ein genialer Gedanke, der sofort auf volles Verständnis bei den Herren Künstlern stieß! Ein Gewehr hätten sie nicht geschleppt, aber dieser Koffer mit Polareis, ja, das war etwas ganz anderes, da war doch ein Witz dabei. Der durfte nicht einmal auf den Schlitten gelegt werden, der war für sie gleichsam zur heiligen Bundeslade geworden. So wurden denn sofort zwei Zeltstangen durch die Traghenkel gesteckt, und vier Schauspieler nahmen die Enden derselben über die Schulter.

Die Reise über das Eis nach dem etwa hundert Meter entfernten Lande wurde jetzt angetreten; kein ernster Abschied von dem Schiffe erfolgte. Wie die Kinder fingen die Passagiere an über das Eis zu schlittern, indem ein ernster Wettstreit sich darüber entspann, wer es am weitesten könnte, dann balgten sie sich im Schnee, oder warfen einander mit Schneebällen[WS 8], endlich entwickelte sich eine förmliche Schlacht zwischen zwei Parteien, und so wurde die Gesellschaft noch von den Matrosen gesehen, als der Dampfer schon in den Engpaß einsteuerte und darin verschwand, um vielleicht seinem Untergange entgegenzugehen.




Der Eisbär.

Endlich brachte Richard Ordnung in die Ausgelassenen, indem er scherzhaft daran erinnerte, daß es ein namenloses Land sei, das sie betreten würden, ja, man könnte es auch ein unentdecktes nennen, und sogar ein jungfräuliches Eiland, wenn man die darauf wohnenden Eskimos nicht zu den Menschen rechnete.

Das zündete. Der Komiker nahm nun die Sache in die Hand und ordnete die Gesellschaft zu einem Zuge, indem er dabei jedoch nicht hin und her ging, sondern that, als säße er zu Pferde. Schließlich setzte er sich in Galopp, schlug mit den Beinen aus und ging durch.

Dem Zuge voran schritt als Fahnenträger der sentimentale Liebhaber mit dem Ueberzieher an einer Stange, dann folgte die Musik, dann die heilige Bundeslade, nämlich der Koffer mit dem Polareis, der dem Brautpaare vorausgetragen wurde, diesem schlossen sich die anderen Damen und Herren als Brautjungfern und Brautführer an, und den Beschluß bildeten als Train die drei Schlitten mit den Matrosen.

Als es so weit war, stieg der Komiker wieder vom Pferde ab und setzte sich, den Knüppel erhebend, selbst an die Spitze, indem er laut kommandierte:

„Musik! Den Hochzeitsmarsch aus Lohengrin. Vorwärts! Tschintretä, tschintretä!“

Er hatte den Spazierstock an die Lippen gesetzt und ahmte mit Virtuosität Trompetentöne nach; sofort fielen alle mit ein, und so bewegte sich der Brautzug unter Trompeten- und Posaunengeschmetter über das Eis auf das Land zu, hier, in der Nähe des achtzigsten Breitengrades, den nur verwegene Walfischfänger und todesmutige Polarfischer überschritten haben.

Die Matrosen konnten die Schlitten vor Lachen kaum ziehen, und Richard, der gleichfalls lachen mußte, hielt sich, um seine Autorität nicht zu verlieren, bei ihnen auf.

In solch feierlicher Prozession wurde das Land betreten; dann hob der Komiker den Knüppel, um Halt zu kommandieren; aber noch ehe er dies thun konnte, ereignete sich etwas, was die Musik von selbst verstummen machte und den Fuß auf den Boden festbannte.

Plötzlich stand nämlich seitwärts von dem Zuge, nur zehn Schritte von dem mittelsten entfernt, ein riesiger Eisbär, der im Schnee übersehen worden war. Knurrend fletschte er die Zähne gegen die frechen Ruhestörer in seinem Reiche und erhob schon die furchtbare Pranke zum Schlage.

Hier hörte der Scherz auf. Gelähmt vor Entsetzen standen sie alle da. Sie hatten einen Eisbären ja nur im Zwinger gesehen und dabei noch nicht einmal einen von solcher riesenhaften Größe. Wohl hatten sie sich alle in ihrer lebhaften Einbildungskraft, die ja den Künstler ausmacht, schon einmal ausgemalt, wie es sein müsse, wenn das Gitter plötzlich bräche, und sie dem freien Raubtiere Auge im Auge gegenüberstünden, und sich dann eines Grausens nicht zu erwehren vermocht! Jetzt war die Phantasie zur Wirklichkeit geworden!

Es war aber auch in der That eine böse Situation. Sämtliche Gewehre[WS 9] befanden sich auf den Schlitten, wo sie mindestens mit Stricken vor dem Herabfallen geschützt waren, sie hätten erst herabgenommen und geladen werden müssen, die Seeleute aber waren keine professionsmäßigen Polarjäger, selbst Richard nicht, der einzige, der einen Revolver bei sich führte und ihn zwar gezogen hatte, aber nicht zu schießen wagte, denn der verwundete Eisbär wäre dann zu allem fähig gewesen. Vielleicht, daß er sich noch besann und vor den vielen Menschen die Flucht ergriff.

Aber es sah gar nicht aus, als ob er sich fürchte. Vielmehr erwartete er nur einen Angriff und forderte ihn heraus.

Da trat der rettende Engel in Gestalt des Komikers auf.

Wer weiß, was für ein Gedanke durch den Kopf desselben beim Anblicke des Eisbären gezuckt war; ein Witz war die That, die er jetzt ausführte, sicher nicht, eher eine ganz mechanische Handlung, oder vielleicht glaubte er auch in dem Augenblicke, er befände sich auf der Bühne in einer Polarscenerie, und der Eisbär sei nur ein maskierter Statist.

Den Spazierknüppel wie ein Gewehr in Anschlag bringend, schritt er plötzlich auf den Eisbär zu und rief:

„Geh’ weg, oder ich schieße!“

Und richtig! Was der Eisbär dachte, ist allerdings noch nicht aufgeklärt worden – kurzum, er warf sich auf den Hinterbeinen herum und suchte schleunigst das Weite.

Aber das war noch nicht alles. Gleichzeitig drehte sich auch der kleine, dicke Mann zu seinen Gefährten um, stützte sich auf den Spazierstock, kreuzte die Beine, stemmte den anderen Arm in die Hüfte und machte ein unbeschreiblich dummstolzes Gesicht, das ungefähr ausdrückte. ‚Na, wer hat es denn gesagt? Bin ich nicht ein großer Held?‘

Jetzt war der Bann gebrochen, ein brüllendes Gelächter brach los, bis man endlich Worte fand.

„Schießt ihn! Steinigt ihn! Fangt ihn lebendig! Lauf’ ihm nach, Anton, streu’ ihm Salz auf den Schwanz!“ rief das lustige Völkchen wirr durcheinander.

Dann wurde nach den Gewehren gerufen; einige begnügten sich vorläufig damit, Schneebälle nach dem noch einmal auftauchenden Bären zu werfen.

„Ach, laßt doch das arme Tierchen laufen,“ sagte endlich der Komiker mit wegwerfender Handbewegung, „der Mann hat Frau und Kinder zu Hause.“

Man gab nun die geplante Jagd auf und brachte dafür dem berühmten Bärenjäger, ihn sofort Bärentöter nennend, Ovationen dar, die der Komiker huldvollst entgegennahm.




Die Entdeckung des Nordpoles.

Dann setzte sich der Zug wieder unter Sang und Klang in Bewegung. Keine Ermüdung war zu verspüren, wenngleich auch den Kofferträgern die heilige Bundeslade schließlich doch zu schwer wurde und sie dieselbe an die Schlitten abgaben. Der fröhliche Ton schlug nicht um, und wenn der Witz zu Ende schien, kam doch immer wieder etwas Neues daran. Es waren eben geistreiche Menschen darunter, so albern sie sich auch manchmal benahmen, und diese heitere Stimmung steckte an, oder vielmehr, es schwebte ein ganz absonderlicher Geist über der ganzen Gesellschaft, den auch die arbeitenden Matrosen verspürten, sodaß sie ihre schwere Last gar nicht merkten und auch ihnen die strapaziöse Tour über Gletscher und Schneefelder, wobei die Schlitten oft umgeladen werden mußten, ohne daß die faulen Passagiere jemals Hand angelegt hätten, nur wie ein vergnügter Spaziergang durch eine deutsche Winterlandschaft erschien. –

Plötzlich tauchte das Gerücht auf, niemand wußte, wer zuerst davon gesprochen hatte, daß sich hier auf diesem Lande der Nordpol[WS 10] befände, und gerade durch diese Insel die Erdachse gehen müsse. Natürlich bestätigte der Kapitän die Richtigkeit dieser Annahme durch wissenschaftliche Erklärungen.

Selbstverständlich war diese Behauptung nur für diejenigen bestimmt, die nicht alle werden, für die Leichtgläubigen; wer aber eigentlich daran glaubte und wer nicht, das war kaum zu unterscheiden, denn es entstand jetzt ein allgemeines Suchen nach dem Nordpol, indem man alle Augenblicke zur Seite rannte, hinter einen Eisblock blickte, einen Stein aufhob und andere Possen trieb.

„Wo ist denn nun der Nordpol?“ fragte die Ballerina zum hundertsten Male.

„Ja, wo ist er nur? Dort, dort – nein, das ist nur ein Schneehaufen. Der Nordpol ist mit einem Gitter umgeben, daß niemand darüber stürzen kann. Grün angestrichen ist’s, ich habe schon einmal eine Photographie davon gesehen.“

So klang es durcheinander.

Jetzt bog man um eine Gletscherwand, und ‚aaah!‘ riefen die ersten, ‚der Nordpol!‘ flüsterten die nächsten, und die hinteren, Richard und die Matrosen nicht ausgeschlossen, drängten sich, um das Wunder zu schauen, vor.

Ein Wunder war es auch wirklich, was es hier zu sehen gab. Dort in dem eisigen Boden war nämlich ein Balken eingerammt worden. Wer hatte das gethan? Wozu war es geschehen? Waren es Schiffbrüchige gewesen? Oder hatten Polarforscher ein wichtiges Signal errichtet, eine Kundgebung hinterlassen?

Doch solche Fragen warfen die Schauspieler jetzt nicht auf; für sie war das eben der Nordpol; und sogleich vernahm man die Ausrufe:

„Der Nordpol!“

„Wir haben ihn erreicht!“

„Wie erhaben! Wie großartig! Mir wird ganz flau zu Mute.“

Und der Baß brummte:

„Das müssen wir feiern.“

Sie gingen nun näher an den alten Holzstumpf heran.

„Vorsichtig, auf den Zehenspitzen, er könnte umfallen,“ neckte der erste, und alle schlichen mit tieffeierlichen Gesichtern hinterdrein und umringten den Holzstamm.

Das war alles so feierlich, daß den Matrosen wirklich das Lachen verging und sie unbewußt selbst mit auf den Zehenspitzen schlichen.

„Großartig! Wie erbärmlich klein kommt sich doch der Mensch hier vor!“ rief einer.

„Und wenn man nun bedenkt, daß sich um dieses einfache Stück Holz die ganze Erde dreht,“ fiel der andere ein, und der dritte fuhr fort:

„Seit Jahrhunderten, seit Millionen von Jahren – mit einem Wort: seit der Weltschöpfung, als sich die Erde noch in feuerflüssigem Zustande befand.“

„Daß das Holz damals nur nicht verbrannt ist,“ meinte endlich kopfschüttelnd der Millionär. „Hm, hm, was man nicht alles erlebt!“

„Eigentlich habe ich mir den Nordpol ganz anders vorgestellt,“ piepste dann wieder die Balleteuse.

„Was? Anders? Etwa noch imposanter? Bedenken Sie doch, Fräulein, hier ist der Punkt, wo man sich nicht mehr fort bewegt. Setzen Sie sich oben auf den Pfahl, und Sie drehen sich nur noch um sich selbst.“

„Wo ist denn das große Loch?“

„Da drin steckt eben die Achse, hier ragt sie noch heraus.“

„Und der Pfahl muß geschmiert werden?“ fragte Ludewig mit berechtigtem Zweifel.

„Freilich, sonst fängt er an zu quietschen. Die Eskimos mit der Schmierkanne sind eben nur einmal weggegangen.“

„Diesen herrlichen Moment in der Weltgeschichte sollten wir doch durch ein Lied verherrlichen,“ schlug jemand vor, „was für ein Lied paßt am besten am Nordpol?“

„Wer hat Dich, Du schöner Wald,
Aufgebaut so hoch da droben,“

begann der Bassist mit mächtiger Stimme, und alle fielen mit ein. Singen konnten sie ja, und daß das Lied wie die Faust auf’s Auge paßte, that der Feierlichkeit keinen Abbruch.

„Wißt Ihr was,“ schlug dann ein anderer vor, als der letzte Ton verklungen war, „wir nehmen den Nordpol mit!“

Gesagt, gethan. Der ganze Schlitten mußte nun abgepackt werden, um einen geeigneten Strick zu finden, den man um den Nordpol schlingen konnte, dann legten alle mit Hand an und rückten und zogen nun so lange hin und her, bis es einen gewaltigen Krach gab und die ganze Gesellschaft sich in- und übereinander am Boden wälzte. Die nun folgenden Scenen waren so komisch und drollig, daß man nicht aus dem Lachen herauskam. Erst nach längerer Zeit trat endlich Ruhe ein.

Proviant hatten sie nicht tragen wollen, nicht einmal ein leichtes Gewehr, das belästigte sie schon – aber diesen schweren Baumstamm luden sich sechs Schauspieler auf die Schultern, und dann ging es im Triumpf weiter.

Schließlich stellte sich bei allen doch die Müdigkeit ein. Auch wurde es trotz der noch ziemlich hochstehenden Sonne, die ja hier für ein halbes Jahr überhaupt nicht unterging, schon Nacht.

Auf einem freien, aber von Schneehügeln geschützten Platze wurden nun vier Zelte aus gemustertem Segeltuche aufgeschlagen, und da ein Sack Kohlen das nötige Feuer lieferte, kochte und briet man, während die noch immer Abenteuerlustigen einstweilen und die Jagd gingen und auch wirklich zwei Eisfüchse erlegten, an und für sich schon deshalb überglücklich, konnten sie doch nun am Lagerfeuer noch mehr renommieren, wie sie die Eisbären immer nur nicht hatten schießen wollen. Dann wurde gegessen, hinterher noch mehr getrunken, und endlich verteilte man sich in den Zelten und vergrub sich unter warme Decken.

Denn es war ja Juli, die heißeste Jahreszeit, wo die Sonne auch noch in solcher hohen Breite ihre Macht ausübte. Brachte sie dabei auch Eis und Schnee kaum zum Schmelzen, so kam das doch nur von den unter den oberen Schichten gelagerten kompakten Massen, die jede Wärme sofort aufsogen.

Außerdem sorgte noch der reichlich genossene Grog und Punsch, daß die Schläfer nichts von der Kälte spürten.

Nur drei hatten sich noch nicht in Morpheus’ Arme geworfen: der Heldentenor und der Komiker spielten erst noch ein paar Partien Sechsundsechzig, und der Baß braute sich aus den letzten Resten den letzten Punsch.

Vor dem Einschlafen hatte Richard Zeit, über seine Erfahrungen nachzudenken.

Er dachte lebhaft an das Tagebuch des amerikanischen Polarforschers Doktor Kane über seine Nordpolexpedition 1852–1855.

Dieser berühmte Gelehrte und Kapitän, der schon manche Expedition geleitet hatte, zeigte bei der Wahl der Mannschaft für seine letzte, große Reise eine ganz besondere Eigentümlichkeit, die damals sehr befremdete. Er sah nämlich den Matrosen weniger auf kräftige, robuste Gestalten, auch nicht auf gute Zeugnisse, ferner brauchten sie noch gar kein Polarmeer gesehen zu haben; noch weniger nahm er Walfischjäger, sondern nur erfahrene und verwegene Männer, und mochten sie auch ein verkommenes und geldgieriges Gesindel sein, aus denen er dann nur die heiteren Naturen und Witzbolde auswählte, die nebenbei auch starke Esser sein mußten.

Mit diesen hat er dreimal hintereinander auf dem 83. Breitengrade bei einer Kälte von 60 Grad überwintert, eine Leistung, die bis heute noch keine andere Polarexpedition hat nachmachen oder aushalten können. Erfroren und sonst verunglückt sind wohl mehrere von seiner Mannschaft, aber kein einziger ist ihm am Skorbut gestorben, und diese Ausdauer, für welche es gar keine Worte giebt, schreibt er allein dem tollen Humor zu, den er an Bord seiner ‚Avanca‘ beständig herrschen ließ. So mußten während der halbjährigen Winternächte Komödien aufgeführt werden, die die Matrosen selbst verfaßten, und auch ein Witzblatt wurde herausgegeben, mit dem Titel ‚der Eisblick‘, für welches die Matrosen Beiträge liefern mußten. Diese geschriebenen Zeitungen liegen noch heute gebunden im New-Yorker Museum für Länderkunde.




Die Eskimos.

Wieder waren nach dem Erwachen am anderen Tage acht Stunden vergangen, und mit der Lustigkeit war es jetzt doch vorbei.

Verdrießlich schlichen die Polarreisenden einher, der Achsenkopf des Nordpols war schon längst weggeworfen worden, der Scherz schon längst verstummt.

Nur der Heldentenor sprach; er schimpfte wie ein Rohrspatz beständig über den Bremer Lloyd, und ob das etwa ein Vergnügen wäre, für das man bezahlt hätte; sonst jammerten nur noch die Damen, sie klagten über die Füße, außerdem aber sagte niemand mehr einen Mucks, und der Komiker schleifte erst recht mit tief gesenktem Kopfe seinen Spazierknüppel hinter sich her.

Konnte man es ihnen verdenken? Sie hatten genug Strapazen überstanden, und übrigens war es auch nicht anders, als wenn eine Gesellschaft verwöhnter Stadtmenschen auf der Chaussee acht Stunden zu Fuß marschieren muß. Da läßt zuletzt ein jeder den Kopf hängen.

Aber schließlich waren es doch noch die alten; bald tauten sie wieder auf.

„Himmeldonnerwetter, kommt denn nicht bald ein Wirtshaus?“ schrie nämlich plötzlich der sentimentale Liebhaber, und der Komiker seufzte in solch kläglicher Wehmut, daß Richard laut auflachen mußte:

„Ich möchte, ich läge zu Hause in den Federn!“

Der Kapitän tröstete ihn nun damit, daß sie jede Stunde das offene Meer erreichen müßten, wo hoffentlich ihr Dampfer kreuzen würde.

„Hoffentlich?“ entgegnete der Mime. „Und wenn er nicht kreuzt? Ich habe die ganze Geschichte satt, ich gehe nach Hause, ich nordpolexpeditioniere nicht mehr.“

Sie erkletterten nun wieder einen Eisgletscher.

Da fiel plötzlich einer der Herren auf die Knie nieder und hob die Arme empor, und während die meisten seinem Beispiele folgten, warf sich der Komiker mit einem Krach auf den Rücken, strampelte mit den Beinen in der Luft und rief:

„Heiliger Bimbam, sei gepriesen! Das Meer – das offene Meer – und dort schwimmt der Kahn mit unseren Betten!“

So war es in der That. Es zeigte sich ein eisfreies Meer, auf dem der Dampfer langsam an der Küste entlang fuhr. Die Aufmerksamkeit der Passagiere wurde jedoch von ihm wieder abgelenkt, denn jetzt rief Richard, auf eine Reihe von Schneehaufen aufmerksam machend, die sich in der Nähe der Küste erhoben:

„Die müssen wir erst noch besuchen,“ hieß es nun allgemein. Verschwunden war mit einem Male alle Müdigkeit, der Humor kehrte mit voller Kraft wieder, und man ordnete sich, während es soeben zu schneien begann, der Komiker mit dem Taktstocke voran, abermals zum Zuge.

„Ein Lied,“ kommandierte der Komiker, „ein Marschlied, das die Beine in Bewegung bringt und zu der Situation paßt. Eins – zwei …“

Da erscholl es im Chor unter dem Schnee ausstreuenden Himmel der Eiswüste:

„Der Mai ist gekommen,
Die Bäume schlagen aus,
Da bleibe, wer Lust hat,
Mit Sorgen zu Haus.“

Wahrlich, die sich vor den Schneehütten ansammelnden Eskimos hatten wohl noch keinen so vollendeten Gesang zu hören bekommen, wenngleich sie auch deshalb Maul und Nase nicht aufsperrten.

„Halt! Stillgestanden! Richt’t Euch!“ kommandierte endlich wiederum der Komiker, indem er seinen Knüppel präsentierte und auf den nächsten Eskimo zutrat, der allerdings, was man an seiner Kleidung nicht zu erkennen vermochte, eine Frau war. Doch die Eskimos waren schon mit Menschen in Berührung gekommen und zeigten nichts weiter als Staunen, was in der That bei solchen seltsamen Gästen ganz gerechtfertigt war.

„Wie heißt diese Stadt?“ fragte der Komiker, nach den Schneehütten deutend.

Die Frau grinste.

„Giebt’s hier ein Hotel?“

Keine Antwort.

„Seid Ihr schon entdeckt? Auch nicht? Bist Du ein sogenannter Eskimo, mein Junge? Aha, das ist ja eine Frau! Wie heißt Du denn, meine schöne Eskima?

Er kitzelte sie bei diesen Worten unter dem Kinn und die ‚Eskima‘ grinste weiter.

Speak you english? Parlez-vouz français? Hol’s der Geier, was redet Ihr denn hier für eine Sprache? Aha, parlare italiano? Wie ist’s denn mit einem bißchen Arabisch? Kennst Du das Land, wo die Citronen blühn? Ooch nich? Sanskrit? Kritschikratschipffftschlumhokuspokus?“

Vielleicht war bei diesen Fragen ein Wort dazwischen, das mit einem Eskimolaut Verwandtschaft hatte, kurz und gut, die Frau begann plötzlich zu reden. Da kauderwälschte der Komiker noch eine Antwort und wandte sich dann wieder um mit einer Handbewegung, als wenn er sagen wollte:

„Na, seht Ihr’s nun, daß ich eskimoisch kann?“

Nun war’s aber genug mit den Anstrengungen der Matrosen, sie begannen zu lachen, daß die Eiswüste wiederdröhnte, und alle anderen stimmten ein; die Eskimos aber schienen nur darauf gewartet zu haben, lachen zu[WS 11] dürfen, denn dieses Völkchen lacht ja überhaupt so gern und freut sich über jede Kleinigkeit; sie hüpften und tanzten herum, klatschten sich auf die Schenkel und wälzten sich vor Lachen im Schnee – warum, das wußten sie nicht, das war ja auch ganz gleichgültig – und auch Richard lachte so – daß er darüber erwachte und sich lachend im Bette seines Schlafzimmers befand.




Heft 10 enthält die Erzählung: „Die indischen Eskimos“.


Verlag von H. G. Münchmeyer, Dresden.
Karl May’s illustrierte Werke.

Diese neue illustrierte Ausgabe umfaßt die in obigem Verlage erschienenen Werke des bekannten und beliebten Reiseschriftstellers Karl May in Radebeul bei Dresden. Dieselbe erscheint in 6–7 Serien à ca. 30 Lieferungen oder in ca. 30 Bänden à 5–600 Seiten.

Jede Lieferung von 5–6 Bogen, à 16 Seiten, kostet nur 30 Pfg.
Jede Serie ist für sich abgeschlossen.

Serie I bringt den Reiseroman:

Deutsche Herzen und Helden

mit seinen 4 Abteilungen:

               Eine deutsche Sultana,

               Die Königin der Wüste,

               Der Fürst der Bleichgesichter,

               Der Engel der Verbannten.




Zehn Jahre im dunklen Afrika.
Reiseroman von Otto Freitag.
Mit 90 Bilderbeilagen, 17 Karten und
circa 900 Textillustrationen.
90 Lieferungen brosch. à 15 Pf.
18 Bände geb. à 1 Mk.

Zu beziehen durch die meisten Buchhandlungen, wo nicht zu haben, auch direkt franko von der Verlagsbuchhandlung.


Prospekt.
„Aus dem Reiche der Phantasie“


ist der Gesamttitel für das vorliegende, epochemachende Unternehmen, das der bekannte und beliebte Reiseschriftsteller Robert Kraft der reiferen Jugend bietet.

Wohl kein anderer Schriftsteller dürfte geeigneter sein, ein derartiges Werk, das im Genre der Jules Verne’schen[WS 12] Schriften gehalten ist, besser durchzuführen, als Robert Kraft, dessen reiche und unerschöpfliche Phantasie unterstützt wird durch seine Erlebnisse und Erfahrungen, die er auf seinen Weltreisen gesammelt hat.

Schon als 13 jähriger Knabe zog Robert Kraft hinaus in die weite Welt und bereiste dieselbe als Schiffsjunge, Matrose und Forscher viele Jahre. (Siehe seine Werke: „Erlebnisse eines 13jährigen Knaben“ und „Die Vestalinnen oder Eine Reise um die Erde,“ aus dem unterzeichneten Verlage.)

Meisterhaft hat es Robert Kraft in seinem neuesten Werke: „Aus dem Reiche der Phantasie“ verstanden, den Leser nicht allein dauernd zu fesseln, sondern auch dabei zu belehren, und so hofft die Verlagsbuchhandlung, daß er sich durch dieses Werk viele neue und treue Freunde erwerben möge.

„Aus dem Reiche der Phantasie“ erscheint in abgeschlossenen Heften, à 10 Pfg., 10 Hefte in Umschlag broschiert kosten 1 Mk., 30 Hefte in hocheleganter Einbanddecke, gebunden, kosten 4 Mk. Bisher erschienen:

Heft 1) Der letzte Höhlenmensch. – 2) Die Totenstadt. – 3) Der rote Messias. – 4) Die Weltallschiffer. – 5) Die verzauberte Insel. – 6) Der König der Zauberer. – 7) Das Stahlroß. – 8) Die Ansiedlung auf dem Meeresgrund. – 9) Eine Nordpolfahrt. – 10) Die indischen Eskimos.

Die Hefte sind durch alle Buch-, Kolportage- und Schreibwarenhandlungen zu beziehen, wo nicht zu haben, auch direkt franko von der Verlagsbuchhandlung.

Dresden-A.,
H. G. Münchmeyer.
Freibergerstraße 75.

Fußnoten

  1. Bitte den Text auf nebenstehender Umschlagseite zu beachten.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Das Coverbild wurde von Thomas Braatz und Gerd-Michael Rose nachbearbeitet.
  2. d. h. Heft 9
  3. Vorlage: wollten
  4. Vorlage: ihren
  5. Vorlage: zun
  6. Vorlage: zerissen
  7. Vorlage: allem
  8. Vorlage: Schneeballen
  9. Vorlage: Gewehrte
  10. Vorlage: Norpol
  11. Vorlage: zur
  12. Vorlage: Vern’schen