Eine Nacht im Harem des Paschas von Belgrad

Textdaten
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Autor: A. F-m.
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Titel: Eine Nacht im Harem des Paschas von Belgrad
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 39, S. 650–653
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Eine Nacht im Harem des Paschas von Belgrad.


Es ist vielfach darüber gestritten worden, welche Religion wohl am schnellsten und eindringlichsten bei plötzlich hereinbrechenden unabänderlichen Schicksalsschlägen Tröstung und Beruhigung bringt, und da ist wohl nicht ganz mit Unrecht der Islam mit seiner Lehre von der Vorherbestimmung als diejenige Glaubensgrundlage bezeichnet worden, die namentlich bei morgenländischer Welt- und Lebensanschauung diese heilbringende Aufgabe am vollkommensten löst.

Erlauben Sie, daß ich den Lesern Ihres Blattes ein Erlebniß erzähle, das sie hiervon überzeugen dürfte.

Vor ungefähr dreißig Jahren hatte mich mein jugendlicher Wandertrieb an die östliche Grenze unseres Vaterlandes geführt, und besondere Zufälle hielte mich längere Zeit in Semlin fest, wo ich nach einigen glücklichen Curen bald ein gesuchter Arzt wurde. Semlin ist eine öde kleine Grenzstadt Oesterreichs an dem Ufern der Save, die sich dort, majestätisch herangewachsen, mit der Donau vermählt. Gegenüber, jenseits der blauen Wogen stolz und malerisch emporsteigend, liegt Belgrad, die Hauptstadt Serbiens, damals noch ein türkisches Fort, der Sitz des Paschas. – Tags über war lebhafter Verkehr auf und ab, herüber und hinüber auf dem breiten Wellenrücken des Flusses. Man sah Dampfer, Fischerkähne, Fahrzeuge aller Arten und Formen bis herab zu den mit Seilen gezogenen primitiven Fähren oder Flößen, welche die Verbindung der beiden Nachbarstädte vermittelten. Die abenteuerliche Bemannung, die seltsamen Ladungen, das Sprachengewirre, das ganze Treiben bot ein Bild bunten und reichen Lebens, bis die alte Uhr auf dem Festungsthurme mit heiserem Tone den Tagesschluß (zehn Uhr) verkündete. Da war [651] wie durch einen Zauberschlag Alles verändert. Ein Kanonenschuß donnerte von den Basteien; die Zugbrücken wurden aufgezogen, die Thore gesperrt, die Communication aufgehoben – dem Geräusche des Tages folgte lautlose Stille.

Ich wohnte am Stromufer. In einer klaren, poetisch schönen Frühlingsnacht saß ich am offenen Fenster. Die Brust athmete mit innigem Wohlgefühle die erfrischende Wasserluft, und entzückt weidete sich mein Auge an den orientalisch weichen Linien der Türkenstadt, die mondverklärt wie ein Gemälde Canaletto’s vor mir lag, gekrönt von dem weißschimmernden Castell des Paschas, der, die Hoheitsrechte wahrend, das Ansehen, die Macht und Pracht eines Sultans besaß. Doch meine Gedanken wandten sich in den Momenten süßen Nichtsthuns, wachen Träumens weit ab von Politik. Der tändelnden Phantasie gefiel es, die unübersteiglichen Bastionen zu überfliegen, die klafterdicken Mauern zu durchdringen, mich unmittelbar in das innerste Hauswesen des Paschas, in den Harem, zu versetzen. Alle Märchen aus „Tausend und einer Nacht“ mußten herhalten, die üppigen Bilder meiner Einbildungskraft auszustatten. Ich sah den Pascha, umgeben von allen Wundern der Pracht und Ueppigkeit des Morgenlandes; Odalisken sah ich, schön wie die Houris des Paradieses, dem Herrn schmeichelnd zu Füßen, zu ihm wie zu einem Gotte aufblickend, alle Künste anwendend, allen Liebreiz aufbietend, um einen Gnadenblick, ein Liebeswort zu erhaschen. Ich sah blühende Bajaderen mit berauschenden Tänzen ihn umgeben, hörte Musik und holden Gesang erklingen. Schaaren von Sclaven harrten nur des befehlenden Winkes, den Gaumen mit den erlesensten Genüssen zu reizen und zu sättigen. Welches Meer von Wonne im Vergleiche zu meinem hartgeplagten Dasein, der armseligen Erwerbsquelle eines jungen europäischen Arztes, der erst Carrière machen will! Ein Gefühl neidischer Bitterkeit, gepaart mit unbestimmter Sehnsucht, bemächtigte sich meiner. Ein tiefer Seufzer entrang sich unwillkürlich der freudelechzenden Brust: wer doch – nur eine Nacht – mit dem Glücklichen tauschen könnte!

Ein Kanonenschuß, der von der Bastion abgefeuert wurde, brachte mich zur Besinnung. Das Thor der Festung öffnete sich. Einige Reiter erschienen gespenstisch im Halbdunkel der Nacht und sprengten gegen das Save-Ufer. Zwei tief in ihre Mäntel gehüllte Männer stiegen von den Pferden und weckten den Fährmann, der auf seinem Flosse zusammengekauert schlief; er fuhr erschreckt auf. Die Beiden stiegen ein; die Stricke wurden gelöst, und die Fähre setzte sich gegen Semlin in Bewegung. Angekommen, bedeuteten sie durch eine Handbewegung den Schiffer zu warten und wandten sich gegen die Stadt. Wenige Minuten darauf wurde an meine Hausthür gepocht; fremde Stimmen begehrten Einlaß. Mein Name wurde fragend genannt; und ich trat hinaus. Im Flur stand, ein trübe flackerndes Talglicht in der Hand, mein Hausgeist in Nachtmütze und Pantoffeln, vor ihm die zwei Männer, die ich von Belgrad kommen gesehen. Beim Knarren meiner Thür wandte er sich um und zeigte mit zornigem Knurren ob der gestörten Nachtruhe auf mich. Erstaunt erkannte ich in dem einen der fremden Männer einen alten Bekannten, Baron Velden, vormaligen österreichischen Officier, dann politischen Flüchtling, jetzt Dolmetsch des Paschas. Er schien sehr eilig, ja bestürzt, grüßte flüchtig und stellte seinen Begleiter vor, den Secretär und Günstling Achmed Paschas. Sie kamen im Auftrage ihres Gebieters, mich sogleich zu einem Schwerkranken in dessen Harem abzuholen.

War es einer jener lichtdurchwobenen Augenblicke gewesen, in denen der Seele innerstes Sehnen vor dem Weltenlenker Erhörung findet, als vorhin der abenteuerliche Wunsch in mir aufdämmerte? Welche cirkassische Venus war der ärztlichen, war meiner Hülfe bedürftig? Wie kam ich dazu, in jene allen männlichen Geschöpfen, den Ungläubigen noch besonders unzugänglichen, geheiligten Räume des Harems meinen profanen Fuß setzen zu dürfen? Hatte ich unbekannte Freunde, Gönnerinnen in jenen geheimnißvollen Regionen?

Brennende Neugierde ließ mich eine bezügliche Frage thun. Die Herren schienen aber nicht Lust zu weiteren Erklärungen zu haben. Sie antworteten ausweichend und drängten zum Gehen. Dürfen sie nicht mehr sagen? Sind sie nur Boten und wissen nicht mehr? Pah! dem Arzte muß es gleich sein, wer seiner Hülfe bedarf. Damit warf ich meinen Rock um, drückte den Hut in die Stirne und folgte meinen Führern, die stumm und rasch zur Fähre schritten. Am jenseitigen Ufer angekommen, rief ein schriller Pfiff des Türken die Pferde herbei, auch mir wurde eins geboten. Wir ritten zur Festung, wo auf ein Zeichen das Thor geöffnet wurde; die Parole wurde gewechselt, und in wenigen Minuten waren wir am Ziele. Der Baron empfahl sich und verschwand im Dunkel der Nacht, während mein anderer Begleiter mich in den Palast des Würdenträgers führte. In einem Vorsaale, nur matt beleuchtet, winkte er mir zu warten und entfernte sich durch eine Seitenhür. Nach geraumer Zeit erschien er wieder und ersuchte mich in gebrochenem Französisch, ihm zum Pascha zu folgen. Mein Herz klopfte hörbar. Nachdem wir noch einige schmale halbdunkle Räume durchschritten, gelangten wir in ein größeres, hellerleuchtetes Zimmer. Rings um die Wand lief ein breiter niedriger Divan. Darauf saß, der Thür gegenüber, mit untergeschlagenen Beinen, seine Wasserpfeife rauchend, regungslos wie ein Steinbild, ein noch junger Mann mit großen dunklen Flammenaugen, die mir fast unheimlich entgegenstarrten. Ein dunkler Bart wallte ihm fast bis zum Gürtel herab; ein grüner Turban bedeckte sein Haupt. „Ein Mekka-Pilger, ein Ulema“ war das Resultat meiner kurzen Beobachtung. Die lichten Dampfwolken des Nargileh umgaben ihn mit einer Art mystischen Heiligenschein – so mußte Mohamed ausgesehen haben.

Wir machten die üblichen Verbeugungen. Während mich der Pascha mit stummem Neigen des Hauptes begrüßte und durch eine Handbewegung zum Sitzen einlud, entfernte sich der Secretär. Erwartungsvoll sah ich den Hausherrn an. Wird er mir endlich das Räthsel meines Hierseins lösen? Vorläufig hatte er nicht Lust dazu; er klatschte in die Hände. Diener mit goldblinkenden Kaffeegeräthschaften erschienen und setzten dieselben auf Tabourets, die im Orient als Tische dienen, vor uns nieder. Wir tranken Kaffee und rauchten. Lautlose Pause. Endlich begann der Türke in französischer Sprache:

„Allah segne Deinen Eingang, Doctor! Erkenne, wie viel ich von Dir erwarte, daß ich Deinetwillen die geheiligten Gesetze des Herkommens breche und Dich, den Ungläubigen, in das Innerste meines Hauses, in die Frauengemächer, führen will! Ermesse daran, welches Vertrauen ich in Deine Kunst, Dein Wissen setze!“

„Ich werde Eure gute Meinung, hoher Herr, nach Möglichkeit zu rechtfertigen suchen,“ antwortete ich, mich verbeugend. „Wollt Ihr mir sagen, wer meiner Hülfe bedarf?“

„Freund! Ich bin in großer Bekümmerniß,“ erwiderte er kaum vernehmbar mit dem Ausdrucke tiefsten Schmerzes in den edlen Zügen. „Das Wesen, das meinem Herzen am theuersten ist, ich kann wohl sagen, das Einzige, was mir nahe steht – mein Sohn ist krank, sehr krank. Das Vorurtheil unseres Volkes gegen europäische Aerzte, die schlimme Sitte, unsere Frauen und Kinder durch alte Weiber behandeln zu lassen, hat schon manches blühende Leben in unseren Harems geknickt. Ich war immer gegen diese unvernünftige Quacksalberei, aber erst jetzt erkenne ich das Unheil ganz, seit mein Kind, mein einziges geliebtes Kind das Opfer wurde. Er ist an den Rand des Grabes gebracht – o rette ihn, Effendi! Rette ihn! Du sollst königlich belohnt werden, wenn Du den Krallen des Todes die edle Beute entreißt.“ Ein tiefer Seufzer schloß die Worte; sein Haupt sank auf die Brust. Regungslos wie ein Automat saß er wieder da.

„Führt mich zu dem Kranken, Herr!“ wagte ich nach einigen Minuten die Stille zu unterbrechen. Der Pascha fuhr zusammen wie aus einem Traume erwachend, klatschte in die Hände und befahl dem darauf eintretenden Diener, uns im Harem zu melden.

„Bevor Du dahin geführt wirst, muß ich Dir die Gedanken mittheilen, die mich vorhin gefangen hielten. Du wirst daraus ersehen, Doctor, wie entsetzlich, wie unersetzlich mir der Verlust meines Kindes wäre.“ In dem Augenblicke erschien der Diener wieder und meldete mit gekreuzten Armen: man sei bereit, den fremden Doctor zu empfangen. Achmed Pascha erhob sich und winkte mir zu folgen. Wir durchschritten mehrere Corridore und gelangten endlich in einen hohen, düstern Saal. Ein dicker Teppich machte unsere Tritte unhörbar; eine Anzahl Wachslichter auf blinkenden Girandolen verbreiteten ein angenehmes mattes Licht; breite Polstersitze liefen rings um die [652] Wände, und in der Mitte des weiten Gemaches stand ein seltsames mit Decken behangenes Gerüste, fast wie ein bunter Katafalk anzusehen. Röchelnde Athemzüge drangen von dort an mein Ohr. Achmed trat auf den Zehenspitzen näher – es war das Krankenbett.

Ich blieb in einiger Entfernung stehen und blickte forschend umher. Der Saal schien menschenleer zu sein, und doch hörte ich ein seltsames Rauschen und Zischeln. Da bemerkte ich, daß die Wände mit braunem Holzgitterwerk bekleidet waren, wie ich es in jüdischen Synagogen an den Frauenabtheilungen schon gesehen hatte. Was oder wer verbarg sich dahinter? Meine Entdeckungsreise in das Innere unterbrach ein Aechzen des Kranken. Er war erwacht, und ein Wink des Paschas rief mich zu ihm. Ich ergriff eine brennende Kerze und ließ das volle Licht auf den Patienten fallen. Welcher Anblick bot sich mir dar! Auf dem reichen Bette lag ein unförmlicher thranduftender Klumpen, aus dessen Kopfende ein schönes, aber wachsbleiches, abgemagertes Menschenantlitz mit großen dunklen Augen hervorstarrte. Ich stand, schreckerstarrt, einige Minuten stumm beobachtend da. Welche Qualen mußte das arme Kind in dieser entsetzlichen Einpackung ausstehen!

„Doctor! Warum schweigst Du? Wie findest Du seinen Zustand?“ fragte mich der arme Vater mit angstbebender Stimme.

„Ich sehe ihn wegen der Umhüllungen nicht recht,“ antwortete ich ihm ausweichend, denn der erste Blick verrieth mir den trostlosen Zustand höchstgradiger Abzehrung. „Die Wärterinnen mögen ihn entkleiden. Dann wollen wir das Weitere sehen.“

Er rief halblaut einige Worte. Auf mehreren Seiten zugleich öffneten sich Thüren im Gitter, und verschleierte Frauen traten heraus. Das Zimmer, in dem wir uns befanden, war also ein Mittelraum, ähnlich dem Atrium der Griechen, in den die übrigen Zellen des Harems mündeten.

Ich ersuchte die Frauen, den armen Jungen vollständig zu entkleiden. Ein Murren des Widerspruchs wurde laut; ein strenger Blick des Gebieters – es verstummte und Alles geschah nach meinen Anordnungen. Zehn und mehr in Schlangenfett getauchte Tücher und Decken, die mit ranzigem Geruche die Luft arg verpesteten, wurden allmählich abgenommen. Aus dem ungestalten Klumpen entpuppte sich der zum Gerippe abgemagerte Körper eines schöngebauten zwölf- bis dreizehnjährigen Knaben. Ein Becken warmes Wasser wurde auf meinen Wunsch gebracht; ich goß eine stärkende Essenz hinein, ließ dem vernachlässigten, gemarterten Körper die langentbehrte Labung des Waschens angedeihen, die übelduftenden Bandagen hinausbringen, reines Linnen anlegen. Die Procedur that dem Kranken, der schon von Agonie befallen war, sichtlich wohl; er athmete geräuschloser und tiefer.

„Ist noch Rettung möglich? O, sage: ja! Ich sehe, Deine Nähe wirkt wohlthätig auf ihn,“ flüsterte der Vater, den Kranken, der ihn nicht mehr erkannte, mit unendlicher Liebe anblickend.

„Wir müssen abwarten, welche Folgen die Waschung nach einigen Stunden der Ruhe, des Schlafes hat,“ antwortete ich, ihn zu beruhigen; ich wußte nur zu gut, daß die Sanduhr des jungen Lebens im Ablaufen war; ich verordnete noch einen kühlenden Trunk, wenn die trockenen, fieberverbrannten Lippen darnach begehren sollten, dann wollte ich mich empfehlen und versprach den nächsten Tag wiederzukommen.

„Du darfst uns jetzt nicht verlassen, Doctor,“ rief der Pascha mit glühenden Blicken, als wir das Krankenzimmer hinter uns hatten. „Dein Aussehen weissagt Böses, und ich habe Niemanden, keine Menschenseele, der ich vertrauen, auf die ich mich verlassen kann. Bleib’ hier, bis es sich zur Besserung wendet oder – wie es Allah in seiner Weisheit sonst bestimmt.“

„Ich habe alles Nöthige angeordnet, und Eure Frauen, gnädigster Herr, werden das Kind gewiß vortrefflich pflegen, bis ich wiederkomme,“ war meine Erwiderung.

„Ich habe keine Frauen. Mein Weib ist lange todt,“ seufzte der Pascha; „die Du sahst, Fremdling, sind blos Dienerinnen, in deren Händen mein Kind in diesem Zustand gerieth. Du siehst, Du mußt bleiben.“

Wir waren in seinem Gemache angekommen. Wieder brachten Diener Kaffee und Tschibuks; wir saßen eine Weile stumm rauchend. Die blauen Rauchwolken ringelten sich empor. Achmed Pascha verfolgte die phantastischen Ringe eine Weile mit träumerischer Melancholie, dann wandte er sich zu mir und sagte mit weicher Stimme:

„Der Diener unterbrach mich vorhin, als ich Dir eine Episode meines Lebens, die Bezug auf mein krankes Kind hat, erzählen wollte; höre sie jetzt!

Mein Vater war Gelehrter und seine Freunde bildeten einen Kreis weiser Männer, in deren Gesellschaft sich die Liebe zur Wissenschaft bald mächtig in meiner Kindesseele regte. So brachte ich auch meine Jugend, statt mit sinnlosen Vergnügungen, die meinen Alters- und Standesgenossen geläufig waren, mit ernsten Studien zu. Mein Lehrer und zugleich wärmster Freund war Butu, ein Ulema von ungewöhnlichen Geistesgaben, der, meinen Wissensdurst erkennend, mich ungehindert am Zauberborne der Erkenntniß trinken ließ. Bald genügten mir die Studien nicht mehr, wie sie an unseren Medressen geboten wurden. Ich begann christliche Bücher und Sitten zu studiren; nicht lange konnte ich meinen Neigungen leben; nach den Jahren der Vorbereitung mußte ich, um dem Willen meines Vaters nachzukommen, in den Staatsdienst treten und sollte mir ein eigenes Hauswesen gründen. Unsere Religion überläßt weisermaßen die Zahl der Ehefrauen ganz den Neigungen des Betreffenden. Meine Vorliebe für die Gebräuche und Sitten des Abendlandes hatte Widerwillen gegen die Vielweiberei in mir erweckt. Ich liebte eine schöne, junge Armenierin; sie trat meinetwillen zum Islam über und wurde meine Gattin, meine einzige, angebetete Gattin. An der Seite dieses Weibes fand ich Alles, was die Erde zum Paradiese macht; meine Dienste für den Staat wurden auch im vollsten Maße anerkannt, glänzend belohnt; der Weg zu den höchster Ehrenstellen war mir geebnet. Ich wäre vollkommen glücklich gewesen, wenn es der Vorsehung gefallen hätte, unserer Liebe ein sichtbares Zeichen, ein Kind, einen Sohn, zu gewähren.

Endlich, nach vielen Jahren, als wir die Erfüllung unseres Lieblingswunsches fast nicht mehr hofften, gefiel es dem Propheten, mein Weib zu segnen.

In der Freude meines Herzens wallfahrtete ich kurz vor der Geburt des Sehnlicherwarteten zu dem heiligen Grabe nach Mekka, Allah für die große Gnade zu danken, seinen Schutz und Beistand zu erflehen und auch meinen alten Freund und Lehrer Butu, der mittlerweile dort Imam geworden, wiederzusehen. Am Grabe des Propheten war, wie er sich ausdrückte, der Geist der Weissagung über ihn gekommen. Schaaren wallten aus allen Theilen des Reiches zu ihm, sich das Räthsel der Zukunft von ihm lösen zu lassen; sein Ruhm war in Aller Mund.

Unser Wiedersehen war ein herzliches und freudiges; ich erzählte ihm der Grund meiner Pilgerreise und bat ihn, kraft seiner Sehergabe mir das Leben und Schicksal des noch Ungeborenen vorherzusagen.

Es war ein seltsamer Orakelspruch, den er nach langen inbrünstigen Gebeten, nach der Stellung der weißen Stäbe und anderen geheimnißvollen Vorbereitungen verkündete: ‚Du wirst einen Sohn bekommen,‘ lautete der Spruch, ‚der frei von jeder Sünde bleiben wird.‘ Mein Dankgefühl war grenzenlos – ein Sohn, und dieser Sohn makellos, und ich war das Gefäß der Gnade, auserwählt, der Erzeuger dieses vollkommenen, dieses reinen Menschen zu werden. Wozu hatte ihn das Schicksal schon vor seiner Geburt bestimmt? Sollte er der Wohlthäter seines Volkes, der Segen seines Jahrhunderts, die Leuchte seines Vaterlandes werden?

Erfüllt von der frohen Botschaft, reiste ich fröhlichen Sinnes nach Hause. Die Nacht vor meiner Heimkunft war mein Weib niedergekommen. Der Neugeborene war ein schöner, kräftiger Knabe; der erste Theil der Verkündigung war erfüllt.“

Der Pascha schwieg und seufzte tief. Als er wieder aufblickte, waren seine Augen feucht. „Ich sah einen heißen Wunsch erfüllt; ich hatte einen Sohn,“ flüsterte er, „aber Allah! um welchen Preis! Fatime, mein Weib, war gestorben. Ich habe kein Weib mehr genommen. Jussuf ist mein einziges Kind geblieben. Armer Jussuf! armer Jussuf! Viel ist in den dreizehn Jahren über mich hingegangen; ich hatte lange Zeit weder an den alten Imam noch an seine Prophezeiung gedacht. Als Jussuf immer tiefer in sein Leiden versank, sehnte ich mich [653] nach der Nähe des alten Freundes und sandte einen sichern Boten, mit einem Schreiben, das die Bitte um seinen Rath und sein Gebet für meinen armen Sohn enthielt. Gestern konnte mein Sendbote zurückgekehrt sein; ich erwartete ihn vergebens und gab endlich dem Drängen meines Secretärs nach, Dich holen zu dürfen, aber als ich vorhin an dem Krankenbette mit Dir stand und Dein unseliges Schweigen mir meines Kindes Todesurtheil verkündete, da gedachte ich plötzlich der alten Weissagung und verstand den dunklen Sinn. Flüchtig, grell und entsetzlich wie Wetterleuchten flammte die Erkenntniß auf, mein ganzes Leben zu verwüsten, zu vernichten.“

Der Türke hatte die Hände vor das Gesicht gepreßt und ächzte. Ich hatte den Sinn seiner Worte nicht gefaßt und sah ihn forschend an, doch ehe ich eine Frage stellen konnte, erschien ein Diener und meldete dem Fürsten einige Worte in arabischer Sprache. Achmed Pascha erhob sich und winkte mir, ihm zu folgen – wir gingen nach dem Krankensaal. Einige Frauen, jetzt in ihrer Verzweiflung unverschleiert, hockten um den Sterbenden und versuchten mit dem Hauche ihres Mundes die erkaltenden Hände und Füße des Kindes zu erwärmen. Beim Nahen des Vaters erhoben sie sich laut heulend. Er gebot ihnen Ruhe. Ich ergriff die herabhängende Hand; kein Pulsschlag verrieth mehr inneres Leben – die Brust hob sich kaum merklich. Bei mehr Lebenskraft hätte die vernünftigere Behandlung das Leben des Kranken verlängert, vielleicht sogar gerettet; in dem Zustande der Erschöpfung, in welchem ich ihn fand, hatte die Veränderung des Gewohnten sein Ende beschleunigt. Noch ein tiefer, röchelnder Athemzug, ein leises Zucken – er war todt. Ein mildes Lächeln verklärte die erstarrten Züge. Wie ein flügelloser Seraph lag der schöne Knabe da.

Laut weinend stürzte sich der Vater auf den geliebten Leichnam. Der Saal füllte sich mit Menschen, die ein gräßliches Klagegeheul anstimmten. Plötzlich wurde das Weinen gedämpft. Rechts und links wichen die Leute zurück; der Secretär des Paschas führte einen Greis herein. Der Fremde näherte sich Achmed, legte die Hand auf seine Schulter und flüsterte ihm einige Worte zu.

Kaum hatte der unglückliche Vater den Alten erblickt, so erhob er sich von den Knieen und umarmte denselben mit wilden Aufschrei. Der Ankömmling sprach ihm Trost zu und führte ihn aus dem Sterbegemache.

In demselben Augenblicke näherte sich mir der junge Mann, der mich hierhergebracht. „Herr Doctor,“ sagte er französisch, „wollen Sie gefälligst dem Diener folgen. Sie dürfen nicht länger im Frauengemache bleiben.“

„Wer ist der Fremde, der solchen Einfluß auf den Pascha hat?“ frug ich neugierig.

„Sein alter Lehrer, ein großer Prophet und weiser Mann. Leider kam er zu spät,“ antwortete der Secretär und entfernte sich.

Ich folgte dem Diener wieder durch mehrere Corridore, die seine Fackel gespenstisch erleuchtete; endlich führte er mich in ein Cabinet, zündete einige Kerzen an, verbeugte sich und verließ stumm das Zimmer, die Thür geräuschvoll schließend. Ich war hungerig, müde, allein – was sollte ich hier? Die Nacht wich schon dem Morgengrauen, dessen bleicher Schein unangenehm, mit dem gelben flackernden Kerzenlichte kämpfte. Die Thore mußten bald geöffnet werden; ich wäre gerne nach Hause zurückgekehrt – „aber ohne Abschiedsgruß?“ sagte eine innere Stimme dagegen; „Warten wir noch eine Weile!“ war das Resultat meines Selbstgespräches. Auf dem Divan lag der Koran; es unterhielt mich, eine Weile darin zu blättern, die seltsamen Schriftschnörkel zu entziffern, den Inhalt halb zu übersetzen, halb zu errathen.

Nach einer Weile begann die Ungeduld wieder gegen die Höflichkeit zu protestiren. Ich zog die Uhr; sie zeigte sieben. Meine Anwesenheit hier war so überflüssig. Die Stunde meiner Morgenbesuche nahte; meine armen Kranken harrten meiner sicher mit Sehnsucht. Der Pascha hatte in dem Schmerze um sein geliebtes Kind meine Wenigkeit vergessen – das war so natürlich. Ich nahm meinen Hut und drückte auf die Thürklinke; sie gab nicht nach. Nochmals versuchte ich meine ganze Kraft, sie zu öffnen – vergeblich; kein Zweifel, der Diener hatte mich eingeschlossen, wahrscheinlich auf hohen Befehl; ein kalter Schauer überlief mich. Säcke mit menschlicher Inlage, nächtlicher Weile in den Bosporus gesenkt; Mörser, die Hochverräther zu Brei zermalmten, und ähnliche gräßliche Bilder tauchten schwindelerregend vor meinem bestürzten Geiste auf.

Haftet der Arzt nach türkischen Begriffen mit seinen Kopfe für den Ausgang der Krankheit, das Leben des Patienten? Hat die asiatische wilde Art der Rechtshandhabung ihre Ableger auch an die blaue Donau, die zahme Save versetzt?

Mitten in meinen abenteuerlich düsteren Phantasien hörte ich den Riegel an der Thür zurückschieben; sie wurde geöffnet – der Pascha trat ein. In seinem Gesichte war die wilde Verzweiflung dem Ausdrucke heiliger Ergebung gewichen. Er reichte mir die Hand, ließ sich auf dem Divan nieder und bedeutete mir, ein Gleiches zu thun. Diener erschienen und stellten auf goldenen Platten ein delicates Frühstück vor mich hin, dem ich auf die Einladung des hohen Hausherrn tapfer zusprach.

„Vergieb, Doctor, daß ich Dich so lange vergessen konnte!“ sprach er weiter mit weicher, tiefer Stimme, in der die Aufregung der Nacht noch leise nachzitterte. „Auch der Prophet möge mir vergeben, daß ich mich gegen den erhabenen Rathschluß des Schicksals mit knabenhaftem Trotze und Ungestüm auflehnte. O, jetzt erkenne ich es klar: es war eben so vergeblich wie thöricht und vermessen, auf menschliche Hülfe zu hoffen und gegen das Verhängniß ankämpfen zu wollen. Mein frommer und gelehrter Freund, der heute Nacht statt durch schriftliche Botschaft in eigener Person mich zu trösten kam, hat das vorhergesehen und mir durch ein Wort die Ruhe der Ergebung verliehen, einem großen und gerechten Schmerze den quälendsten Stachel genommen, den Stachel der Selbstqual, des Vorwurfs, daß bei größerer Fürsorge die Rettung meines todten Lieblings doch möglich gewesen wäre. Der Gedanke war eine arge Versündigung gegen Gott, der in seiner Allmacht nur zuläßt, was sein soll. Siehst Du, Fremdling!“ fuhr er mit gesteigerer Aufregung fort; „die Weissagung lautete: ‚Du wirst einen Sohn bekommen, der frei von jeder Sünde bleiben wird.‘ Des dunklen Satzes düstere Lösung ist – der Tod. Ja, mein Sohn mußte heute Nacht, an der Schwelle seines dreizehnten Geburtstages, sterben; denn erst mit dreizehn Jahren wird nach den Satzungen unseres Glaubens der Mensch für seine Handlungen im Himmel verantwortlich gemacht. Bis dahin ist er ohne Sünde, ohne Erkenntniß und ohne Schuld. Das Loos jedes Menschen ist nach unerforschlichen Gründen von Anbeginn bestimmt. Gelobt sei Allah, der es in seiner Weisheit so gefügt! Nimm meinen Dank für Deine Mühe und kehre glücklich heim!“

Damit erhob sich der Pascha und verließ das Zimmer; gleich darauf erschien der Secretair, übergab mir im Namen seines Gebieters eine Rolle Ducaten und geleitete mich zur Fähre hinab. Wie im Traume fuhr ich über den wohlbekannten Strom. War das wirklich Uros, der alte Fährmann? Noch ganz unter dem Eindrucke des Erlebten, glaubte ich aus einem Fabellande zu kommen; so seltsam hatte die Zaubermacht des Fatalismus meine skeptische Seele berührt. O ihr gesammten Philosophen der Erde, habt ihr einen wissenschaftlichen Satz gefunden, der eine Menschenseele so zu trösten, zu versöhnen vermag, wie der blinde Glaube, die Lehre der Vorherbestimmung? „Wahrlich, wenn ich nicht Alexander wäre, ich möchte Diogenes sein.“
A. F–m.