Eine Nacht des Entsetzens
Eine Nacht des Entsetzens.
Diesen Monat werden es gerade dreizehn Jahre, daß ich an einem Abende, mit mir und der ganzen Welt unzufrieden, allein in meinem Zimmer saß. In Brüssel war es, wo ich den Winter zu verbringen gedachte, nachdem ich am Rhein, in Wien, in Neapel, in Genf, in Dresden und Paris eine Zeit lang gelebt hatte, ohne zu finden, was ich suchte – das Glück der Zufriedenheit.
Da klopfte es an meine Thür. Schon einmal war es mir gewesen, als höre ich etwas der Art, da ich aber keine Tritte die Stufen herauf kommen gehört, hatte ich mir eingeredet, ich habe mich geirrt. Hastig griff ich nach meiner Lampe auf dem Tische, um sie anzuzünden; während ich aber die Kohlen im Kamine zu einer Flamme anzublasen versuchte, wurde das Klopfen stärker wiederholt und so ging ich an die Thür, um im Finstern zu öffnen.
„Wer da?“ fragte ich, denn ich sah Niemand.
„Ich bin’s,“ antwortete eine Stimme. „Sie werden mich schwerlich erwartet haben.“
„Falk?“ sagte ich, denn ich erkannte die Stimme.
Der Mann, der mich so unerwartet besuchte, war mir immer unangenehm gewesen. Vor einigen Monaten hatte ich mich in Verdruß von ihm getrennt und ihn seitdem nicht wieder gesehen. Besucht hatte er mich niemals, und so konnte ich mir durchaus nicht denken, was ihn jetzt zu mir führte.
„Sie haben mir etwas zu sagen?“ fuhr ich fort.
„Machen Sie Licht und ich werde mich erklären,“ antwortete er.
Ich machte Licht und setzte die Lampe auf den Tisch. Falk warf sich auf einen Stuhl und schob seinen Mantel zurück, der vom Regen durchnäßt war. Er hatte sich seit der Zeit, daß ich ihn nicht gesehen, so merkwürdig verändert, daß ich ihn dem Aussehen nach gewiß nicht erkannt haben würde. Sein Gesicht war eingefallen und blaß; seine Augen lagen tief in den Höhlen; er hatte einen großen Theil seines Haares verloren und das noch übrige war ganz kurz abgeschnitten.
„Auf der Straße würden Sie mich nicht erkannt haben,“ sagte er.
„Wahrscheinlich nicht,“ gab ich zur Antwort.
Er strich mit der Hand über die Stirn, als wisse er nicht, wie er fortfahren solle. Plötzlich sagte er dann:
„Wir schieden in Unfrieden.“
„Allerdings.“
„Denken wir nicht mehr daran. Ich habe den Muth nicht, alte Streitigkeiten wieder aufzustören. Ich bitte [34] Sie, mich diese Nacht in Ihrer Wohnung zu behalten, da ich keinen Freund habe, den ich um diese Gefälligkeit angehen möchte, und unter Fremden mag ich sie nicht verbringen. Ich bin nicht mehr der Mann, den Sie sonst in mir kannten. Ich habe Unglück gehabt, – nicht blos im Spiel, denn eigentlicher Spieler bin ich nie gewesen; Alles ging, wie es nicht gehen sollte. Ich bin gebrochen und habe nichts mehr, – kein Geld, keinen Muth, sonst käme ich nicht zu Ihnen, um Sie um ein Obdach in dieser rauhen Nacht zu bitten. – Helene, Sie kannten Helenen?“
„Ihre Frau?“
„Ja . . Sie können sie so nennen. Nie hat ein Mann ein Weib zärtlicher geliebt, zuvorkommender behandelt, so lange er Mittel besaß . .“
Er schwieg und legte dann die Hand wieder auf die Stirn, als hätte er vergessen, was er habe sagen wollen. So saß er mehrere Minuten lang da und blickte vor sich hin.
„Sie sprachen von Ihrer Frau,“ sagte ich.
„Ja, . . aber schweigen wir von ihr . . Wenn man in jeder Stunde, in jeder Minute, bei Tag und bei Nacht an etwas denkt, spricht man natürlich auch davon und vergißt, daß andere Leute nicht gleiches Interesse daran haben.“
„Sie scheinen in Noth zu sein,“ sagte ich so freundlich als möglich.
„Ja,“ antwortete er, „es stand verzweifelt schlimm, ehe das letzte Unglück hereinbrach. Die Leute werden sagen, ich sei selbst schuld daran. Vielleicht ist’s so, aber das Leben zeigte sich mir nie so wie jetzt. Der Zufall brachte mich auf den unrechten Weg, ehe ich den Unterschied zwischen Recht und Unrecht kannte, und Mancherlei trieb mich auf demselben Wege weiter. Alte Gewohnheiten legen sich schwer ab. Könnte ich das Leben noch einmal von vorne anfangen, würde ich es in anderer Weise thun. Die Erfahrung kömmt fast immer zu spät, als daß man sie nutzen konnte. Und doch hat man kein Mitleid mit Verirrungen, ob es gleich oftmals gar schwer ist, das Rechte zu finden, besonders für einen jungen Mann, der in die Welt hineinlebt, bis er geworden was die Welt einen Taugenichts nennt.“
Er sprach in einem Tone, daß ich ihn bemitleiden mußte. Offenbar litt er unter einem Unglücke, das ihn erst vor Kurzem betroffen hatte. Ich machte mir sogar Vorwürfe darüber, daß ich erst Abneigung gegen ihn gehabt hatte, und dachte bei mir, wie wenige Menschen vielleicht einander hassen würden, wenn Aller Herzen sichtbar wären.
„Meine Kraft ist zu Ende,“ fuhr er fort. „Was mich quält, ist nicht von heute oder gestern. Ich habe äußerlich sorglos mich gezeigt, obgleich ich Dinge im Herzen trug, die jeden Andern um den Verstand gebracht haben würden; länger aber halte ich es nicht aus. Ich bin hin und her gehetzt worden wie ein entlaufener Sclave und fand auf keiner Seite einen Ausweg . . Ich will mich nicht mehr hetzen lassen,“ setzte er hinzu und stand rasch auf.
„Nun, denken Sie nicht mehr daran,“ fiel ich ein. „Wir wollen das Feuer wieder anmachen und es uns in der stürmischen Nacht hier wohl sein lassen.“
Ich legte Holz auf, blies die Kohlen an, setzte mich und bat Falk, sich auch einen Stuhl an das Feuer zu rücken.
„Ich hin so naß und kalt wie eine Hundenase“, sagte er und hielt die Hände vor die lustig aufflackernde Flamme.
„Sie waren auf dem Lande?“ bemerkte ich, da ich sah, daß seine Stiefeln sehr beschmuzt waren.
„Ich bin beute zehn Stunden weit gegangen und der trübe Himmel lastete auf mir, als läge ich lebendig in einem bleiernen Sarge begraben. Nachmittags kam ich an und bin seitdem zwecklos in den schmuzigen Straßen umhergelaufen. Ich glaubte ein Paar Freunde hier zu haben; es war ein Irrthum und ich trage die Schuld. Habe ich mir doch meine Bekannten selbst ausgewählt und ich hätte wissen sollen, wie sie gegen mich sein würden, wenn eine Zeit wie die jetzige gekommen. Von Einem nur erwartete ich mehr,“ fuhr er fort und er blickte stumm in das Feuer, „aber nach dem Benehmen Helenens darf ich nirgends Treue und Redlichkeit in der Welt erwarten. Auch lebte der Freund nicht Jahre lang unter meinem Dache wie sie und schwur mir nicht täglich Liebe zu . . Mag sie im Hospital sterben!“
Mehrmals versuchte ich es, unserm Gespräche eine andere Richtung zu geben; er kam immer wieder auf denselben Gegenstand zurück. Endlich ließ ich ihn reden, ohne ihn zu unterbrechen. Nach einiger Zeit schien sein Zorn verraucht zu sein und er versank in düsteres Hinbrüten.
„Ich bin selbst kein reicher Mann, Falk,“ sagte ich und zog die Börse.
„Nein, nein,“ fiel er ein und machte mit der Hand eine abwehrende Bewegung, „Geld brauche ich nicht. Geben Sie mir ein Obdach für diese Nacht und werde ich Sie in keiner Weise wieder belästigen.“
Ich hätte ihn gern gefragt, was ihn denn eigentlich so betrübe, um ihm wo möglich rathen oder helfen zu können, aber sein offenbar sehr gereiztes Wesen schreckte mich ab. So nahm ich mir denn vor, bis zu einer günstigen Gelegenheit zu warten. Ich beobachtete ihn, wie er so dasaß, der Lampe den Rücken zugekehrt; in seinem Gesicht spiegelten sich unverkennbar die Gedanken, die durch seine Seele zogen. Sie waren finster und unheimlich, so daß ich mich in der Nähe dieses Mannes allmälig sehr unbehaglich fühlte. Ich dachte an die Art, wie wir das letzte Mal geschieden, an die Worte, die wir damals gewechselt. Ich hatte an einem öffentlichen Orte laut Drohungen gegen ihn ausgesprochen. Viel hätte ich darum gegeben, wenn ich ihn hinwegzubringen vermocht; aber es war schon sehr spät und der Regen schlug noch immer klatschend an die Fenster.
„Wollen Sie etwas essen, Falk?“ fragte ich nach einer langen Pause, um nur der unheimlichen Stille ein Ende zu machen.
„Wenn Sie ein Glas Schiedamer haben,“ antwortete er, „oder irgend etwas, das die Lebensgeister anregt …“
„Eine Flasche Wein?“ fragte ich und stand auf, um sie zu holen.
Mein Gast nickte und ich stellte die Flasche vor ihn. Er schenkte sich ein Glas voll und trank es auf einen Zug aus.
„Wollen Sie mit mir trinken?“ fragte er. „Schenken Sie noch einmal ein. Es wird wohl das Beste sein, Ihrem Rathe zu folgen und über die Sache gar nicht mehr [35] nachzudenken. Spielen Sie mir eine lustige Melodie aus dem „Barbier,“ aus „Figaros Hochzeit“ vor . . Aber nein,“ unterbrach er sich; „Musik stimmt mich wehmüthig, wie lustig sie auch klingen mag. Haben Sie Würfel?“
„Ich habe mir vorgenommen, nicht mehr zu spielen.“
„Ich auch. Sie können keine triftigeren Gründe haben, den Würfelbecher zu hassen als ich. Spielen wir um Steine, um gar nichts, nur daß eine Stunde schneller vergeht.“
Ich suchte und fand Würfel. Wir setzten uns einander gegenüber am Tische mitten im Zimmer und fingen an zu spielen.
„Hatte ein Spieler jemals solches Glück!“ sagte er nach einigen Würfen. „Damit hätte ich schon eine große Summe gewonnen haben können . . Seltsam! In Homburg kannte ich einen Russen, der jedesmal gewann, wann er um nichts spielte, und jedesmal verlor, wann er auch nur einen Kreuzer setzte . . Da, sehen Sie, schon wieder! Meinen Sie, daß ich anderswo auch Glück haben würde?“
„Jeder Wurf hängt von zahllosen Kleinigkeiten ab, z. B. von der Haltung des Armes, vom dem mehr oder minder öfteren Schütteln, von der Kraft des Wurfes, von der Glätte der Würfelecken, von dem Winkel, in dem sie auf den Tisch fallen. Die einfachste Wirkung liegt an einer Kette von Ursachen, die in alle Ewigkeit zurückläuft; die leiseste Störung in irgend einem Gliede derselben muß auch eine andere Wirkung herbeiführen.“
„Sie haben Recht,“ antwortete er. „Noch ein Glas! Und noch ein Paar Würfe!“
„Es langweilt mich . .“
„Auch gut. So spiele ich gegen mich selbst .. Sehen Sie? Das Glück bleibt dasselbe und wie manche Nacht habe ich geworfen ohne das Glück bannen zu können. Ich könnte mir den Kopf an der Wand einrennen.“
Dabei warf er die Würfel ungestüm hin, ging auf und ab und sprach halblaut; dann trat er nochmals an den Tisch und versuchte die Würfel von neuem. Ich saß in einem Lehnstuhl am Kamine, sah ihm zu und wurde allmälig schläferig. Ich sträubte mich allerdings eine Zeitlang gegen den Schlaf, aber der Wein, den ich getrunken hatte, that das Seinige auch und so schlossen sich meine Augen. Zwar zog ich sie mehrmals mit Anstrengung wieder auf, endlich aber schlief ich ein.
Ich habe mich an die Ereignisse jener Nacht so oft erinnert, daß kein Umstand, kein Gedanke, der mich damals beschäftigte, nach dreizehn Jahren aus meinem Gedächtniß entschwunden ist. Ich weiß genau noch was ich träumte, als ich nach mehreren Stunden fröstelnd erwachte. Es war dunkel und kalt in dem Zimmer. Die Lampe war ausgegangen; gleichwohl sah ich in dem matten Lichte, das durch das Fenster hereinfiel, das Gesicht meines Gastes, der mich von der andern Seite des Tisches her anstierte. Seine Arme lagen auf dem Tische und sein Kinn ruhete auf denselben; seine Augen befanden sich fast in gleicher Linie mit den meinigen. Ich kam da, ich weiß selbst nicht wie, auf den Gedanken, er habe mich überfallen wollen und sei, als er mich eben genauer beobachtet, plötzlich zurückgehalten worden, weil ich die Augen aufgeschlagen. Ich sprang auf und sagte: „Was? Sie sitzen schlaflos ohne Licht und Feuer da?“
Er antwortete nicht.
„Brüten Sie wieder über Ihrem Ungemach?“ fuhr ich in einem gezwungen spöttischen Tone fort.
Er verharrte im Schweigen und machte auch nicht die geringste Bewegung. Ich bückte mich und schürte die Asche im Kamin auf. Es war kein Funke Feuer mehr darin. Dann nahm ich die Lampe und versuchte sie anzuzünden. Alles Oel war darin aufgezehrt. Ich rief meinen Gesellschafter bei seinem Namen, - vergebens. Unentschlossen stand ich da und scheute mich ihm näher zu treten.
„Wenn ihn der Schlag gerührt hätte!“ dachte ich dann, „oder –“ und ein Schauer rieselte durch meine Glieder – „wenn er sich selbst umgebracht hätte!“
Ich wollte Lärm im Hause machen und hatte bereits die Thürklinke in der Hand, aber ich ließ sie schnell wieder los, denn mir fiel ein, man könnte wohl mich für den Mörder halten. Ich wußte ja, wie sinnreich die kleinsten Anzeigen oft gegen den Angeklagten benutzt werden und dachte mit Entsetzen wieder daran, daß ich dem Manne an einem öffentlichen Orte vor vielen Personen, die sich der Sache gewiß noch erinnerten, mit meiner Rache gedroht hatte.
Ich trat wieder an den Tisch. Es war nun gerade hell genug, um in der Nähe einen Gegenstand deutlich erkennen zu können und als ich vom Fenster her zu dem Manne kam, erblickte ich die Bestätigung meiner Muthmaßung. Er hatte sich die Kehle durchgeschnitten; seine Arme waren auf den Tisch, sein Gesicht auf die Arme gesunken, wie ich ihn gleich im Anfange gesehen. Mein Rasirmesseretui stand geöffnet auf dem Tische und eines der Messer hatte er noch in der Hand. Gesicht und Hände waren bereits kalt, vom Puls nichts mehr zu fühlen.
In dieser schrecklichen Lage stellte sich mir die Gefahr, die mich bedrohte, so lebhaft vor, daß ich fast gelähmt wurde. Mein früherer Streit mit ihm, der Umstand, daß das Messer mein Eigenthum war und die Wunde von der Art, wie man sie selten an denen findet, die selbst Hand an sich gelegt, mußten schwer gegen mich zeugen. Und wie viele Mordthaten sind durch geringfügigere Ursachen veranlaßt worden!
So dachte ich, als ich neben dem Todten stand, und unbewußt hatte ich ein neues Zeichen der Schuld hinzugefügt, das mehr noch zu fürchten war als alle früheren: ich war in meiner Aufregung nicht darauf bedacht gewesen, mit dem Blute nicht in Berührung zu kommen und bemerkte nun, daß meine Aermelaufschläge feucht von Blut waren.
Jetzt Lärm zu machen und in meiner Aufregung die Wahrheit meiner seltsamen Geschichte zu behaupten, schien mir sicheres Verderben bringen zu müssen. Nur in der Flucht sei Heil zu finden, flüsterte mir die Furcht zu. Welche Zeit es war, wußte ich nicht; die Dämmerung konnte den nahenden Tag verkünden oder auch das Licht des Mondes hinter Wolken. Ich beschloß also das Nothwendigste zusammen zu nehmen, fortzugehen, meine Thür zuzuschließen und den Versuch zu machen, zunächst an die Grenze und dann wo möglich nach England zu kommen, um da das Weitere abzuwarten.
Als ich noch halbschwankend dastand, war es mir als zeige sich plötzlich ein Schatten am Fenster. Ich drehte mich sofort um und sah mit Entsetzen, daß von draußen Jemand hereinblicke. Täuschen konnte ich mich nicht. [36] Der Unbekannte am Fenster stand eine Zeit lang still; dann trat er bald an die, bald an jene Seite, als wolle er sich überzeugen, was ich hinter mir zu verbergen suche; aber trotz meiner Angst bewegte ich mich jedesmal nach derselben Seite hin, daß ich immer so vor dem Todten stand, daß er von Außen nicht gesehen werden konnte. Anfangs glaubte ich, es wäre mein Nachbar gegenüber, ein Maler, aber die Figur kam mir größer vor. Jedenfalls hatte etwas in meinem Zimmer die Aufmerksamkeit des Unbekannten erregt; vielleicht hatte er schon früher hereingesehen, wohl gar bemerkt, wie ich mit dem Messer in der Hand mich über den Dasitzenden gebückt.
Die Figur stand wiederum still; eben horchte sie offenbar und endlich hörte ich deutlich mit den Nägeln an die Scheibe pochen. Die schwache Hoffnung, daß ich in dem dunkeln Zimmer nicht gesehen worden sei, veranlaßte mich still zu bleiben. Das Pochen wurde wiederholt, bald aber sah ich, daß die Figur verschwand und auf den Stufen hinabging, die vor dem Hause, in dem ich wohnte, hinunterführten.
Ging der Mann fort um Anzeige zu machen, mich verhaften zu lassen? Ich trat an das Fenster und sah hinaus, ohne irgend Jemand zu erblicken. Dann zog ich den Laden zu, kleidete mich etwas anders an, steckte Geld zu mir, nahm einen Stock und ging hinaus, schloß meine Thür zu und schlich mich in dem Flur hin. Die Hausthür konnte ich leicht öffnen; ich that es so geräuschlos als möglich, schloß sie wieder zu und eilte davon.
Es schlug eben drei Uhr. Am Thor fragte mich ein Mann, wohin ich gehe. Ich sagte, ich sei ein Arzt und gehe zu einem Kranken, zu dem ich eben gerufen worden; ich durfte ungehindert weiter wandern. Die ganze Nacht lief ich, als würde ich schon verfolgt. Früh kehrte ich in einem kleinen Dorfe ein. Von da an vermied ich die Straße und ging ängstlich auf Feldwegen hin, denn ich wußte recht wohl, daß ich meine Lage durch die Flucht um vieles verschlimmert hatte. Was konnte ich sagen, wenn ich angehalten wurde, nachdem zu allen übrigen Anzeichen der Schuld die noch gekommen waren, daß ich in der Nacht aus meiner Wohnung entflohen war, alles was mir gehörte in Stich gelassen, im Thore eine falsche Angabe gemacht hatte und nun zu Fuße der Grenze zueilte? Es half nichts, daß ich es bereute, nicht sogleich die Wahrheit angegeben und meiner Unschuld vertraut zu haben.
Ich hatte so viel Zeit auf Nebenwegen verloren, daß ich erst am dritten Tage über die Grenze kam. Am vierten erreichte ich Arras, wo ich von meiner Müdigkeit etwas auszuruhen beschloß, hauptsächlich aber Zeitungen suchen wollte, um nachzusehen, ob über den Mord und meine Flucht etwas bereits darin erwähnt sei. Es war dunkel und ich hielt mich in enge Gassen, bis ich ein kleines Wirthshaus traf. In dieses trat ich und ließ mir etwas zu Essen geben. Meinen Platz nahm ich in einer Ecke allein und fragte dann schüchtern nach einer Zeitung. Man brachte mir die Gazette du Nord.
Zitternd las ich darin bald die Ueberschrift: Geheimnißvolle Flucht und ein Todesfall, und da hieß es:
„Am vergangenen Freitag klopft der Hausmann Clärs in dem Hause Nr. 6, Straße …, Brüssel, an die Thür des Herrn W., welcher da im ersten Geschoß wohnte und wunderte sich, daß derselbe noch nicht aufgestanden, da doch bereits Mittag vorüber war. Da er auch nach mehreren Stunden nichts von ihm vernahm, wurde er besorgt und öffnete die Thür mit dem Hauptschlüssel. Bei dem Eintreten bot sich ihm ein grauenhafter Anblick dar. Auf einem Stuhle an dem Tische saß ein todter Unbekannter, über und über von Blut aus einer tiefen Halswunde bedeckt. Auf dein Tische lag ein mit Blut beflecktes Rasirmesser. Der Todte war ein gewisser Falk, wie sich bald ergab. Sonst fand sich nichts Bemerkenswerthes. Anzeigen von einem Kampfe zeigten sich nicht; da aber der Bewohner des Zimmers verschwunden war, fiel Verdacht auf ihn. Der Hausmann erinnerte sich, daß der Fremde am Abende vorher nach Herrn W. gefragt. Herr Vandermere, ein Maler, der dem Hause gegenüber wohnte und ein Freund W.’s gewesen, sagte aus, er habe in jener Nacht bis nach Mitternacht Licht in dem Zimmer W.’s gesehen und da er wegen seiner kranken Tochter in die Apotheke habe gehen müssen, an das Fenster des Freundes geklopft, aber keine Antwort erhalten; dies sei halb zwei Uhr früh gewesen. Seitdem hat sich ergeben, daß kein Mord vorliegt, da der Verstorbene am Tage vorher an einen Bekannten in Brüssel geschrieben und ihm gemeldet, daß er in der nächsten Nacht sich das Leben nehmen wolle. Verlust am Spieltische und die Furcht vor Verhaftung wegen einer Betrügerei sollen ihn zu diesem verzweifelten Schritte betrieben haben. Das Verschwinden W’s ist noch ein Geheimniß.“
Gott sei Dank, es blieb nicht lange ein Geheimniß, denn es war mir eine Centnerlast vom Herzen genommen, ich kehrte nach Brüssel zurück und machte Anzeige von dem Geschehenen. Niemals aber aß, trank und schlief ich wieder in jenem grauenhaften Zimmer und nach acht Tagen bereits verließ ich auch Brüssel, das ich um keinen Preis wiedersehen mag.