Textdaten
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Autor: Z.
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Titel: Eine Maifahrt im Schnee
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 21, S. 325–328
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[325]
Eine Maifahrt im Schnee.


Dorf Splügen.
Nach der Natur aufgenommen von J. Sütterlin.

Wer die Alpenpässe der Schweiz und Tirols, den Gotthard, die Bernina, das Wormser Joch, den Simplon u. a. nur im hohen Sommer gesehen hat, der kann sich schwer ein Bild von dem so ganz andern Gepräge machen, welches diese Alpenstraßen im Frühling und Winter annehmen, wenn sie beim Schnee in offenem Schlitten befahren werden. Wird die Reise z. B. im Mai und von der schweizer Seite aus angetreten, so ist es eine wahre Fahrt durch zwei Zonen, indem man auf der Paßhöhe eine wilde sibirische Winterlandschaft vor Augen hat, um wenige Stunden später im Gebiete der Feigen und Kastanienbäume italienischen Himmel, südlich warme Luft und den Blüthensegen eines herrlichen Mais zu begrüßen. Die Erlebnisse einer solchen Fahrt von Splügen nach Chiavenna versuche ich nachstehend den Lesern der Gartenlaube vor Augen zu führen.

[326] Es war an einem Mittage des unfreundlichen Mai des letzten Jahres, daß ich im Dorfe Splügen, dem malerischen Bergorte, welchen unsere Abbildung, allerdings im Sommergewande, zeigt, am Fuße des gleichnamigen Berges, ankam. Eine jener riesigen Archen auf vier Rädern, eidgenössische Postwagen genannt, hatte mich vor dem stattlichen Gasthaus zur Post abgesetzt, wo das officielle Mittagsmahl unser harrte. Um fünf Uhr früh war ich von Chur abgereist, bei einem strömenden Regen, der hie und da unter dem Einflüsse eines rauhen Ostwindes sich zu Schneeflocken verdichtete. Von einem Genusse der Schönheiten der interessanten, stellenweise classischen Route war keine Rede. Der Wind trieb Flocken und Regentropfen so an die Wagenfenster, daß selbst die nächstliegenden Gegenstände sich nur undeutlich aus dem dunkeln Nebelhintergrunde abhoben. Felsberg, Reichenau, die Via mala, die prächtigen Burgruinen – das Alles ging uns verloren. Es blieb uns nichts übrig, als trotz des Frühlings, dicht in den Mantel gehüllt, mit offenen oder geschlossenen Augen zu träumen. Es war daher auch keine rosige Stimmung, in welcher die Insassen des Wagens den Fuß wieder auf die Erde setzten, verschlafen, steif vom langen Sitzen, fröstelnd – mit all’ dem leiblichen und seelischen Mißbehagen, das man nach einer solchen Frühmorgenfahrt bei kaltem Regenwetter empfindet. Zu diesem Katzenjammer gesellte sich aber noch die Besorgniß, es möchte in Folge des plötzlichen Schneefalls des Morgens der Paß unfahrbar geworden und uns beschieden sein, einen Tag lang in Splügen zu bleiben, bis die Passage wiederhergestellt sein würde. Solche Ueberraschungen werden dem Reisenden nicht selten zu Theil, namentlich auch am Fuße des Gotthard. Glücklicher Weise gab der Postmeister gleich beim Aufsteigen über diesen Punkt die beruhigendste Auskunft. Bei mir selbst verlor sich das Mißbehagen, so wie ich die schlaftrunkenen Augen recht öffnen konnte.

Der Himmel hatte ausgetobt, Regen und Schneegestöber waren, verschwunden, ein freundlicher Sonnenblick fiel auf das stattliche Dorf Splügen und vor uns lag in seiner ganzen Glorie der imposante Berg mit seinen malerischen Zacken – im weißen Schneegewand zwar, aber von einer warmen Maisonne beschienen und und in lieblichen Farbentönen erglänzend.

Das Dorf Splügen liegt bereits viertausend vierhundert und dreißig Fuß über dem Meere[1] und gehört also zu den höchstgelegenen Dörfern Europas. An der Grenzscheide zwischen zwei sehr besuchten Schweizeralpenstraßen – denjenigen über den Splügen und den Bernhardin – stehend, ist es der Mittelpunkt eines sehr regen Verkehrs, der viel Wohlstand in das ursprünglich arme Bergdorf gebracht hat. Denn der Splügen ist jetzt der weitaus am meisten bereiste Schweizerpaß, und außer den Kaufleuten und den Touristen lockt die romantische Gegend und der Reichthum an Mineralien und seltenen Alpenpflanzen jeden Sommer auch Schaaren von Künstlern und Naturforschern in diesen Thalkessel hinaus. So ist denn auch das Gasthaus zur Post in Splügen eine vortreffliche Herberge, die allen Ansprüchen an Comfort Genüge leistet.

In dem geräumigen Speisezimmer hatte sich bereits eine zahlreiche Gesellschaft um den Mittagstisch versammelt, meist Kaufleute aus der Lombardei oder dem Canton Graubünden. Ein lustiges Feuer prasselte im Kamine und verbreitete behagliche Wärme, der purpurne Veltliner Wein löste die Zungen und goß flüssige Gluth in die Adern der Tischgenossen. Der Schirrmeister machte aber bald dem geselligen Leben ein Ende, indem er die Splügenreisenden abberief. Der Eilwagen stand fertig gepackt und bespannt vor der Thür; der Schwager thront auf seinem hohen Sitze, wir steigen ein und – hipp – die Bergfahrt beginnt.

Zwischen dem Dorfe Splügen und dem eigentlichen Berge liegt ein wüstes Trümmer- und Steinfeld, mit gewaltigen Felsblöcken, ein Erinnerungsblatt der Verheerungen, welche die Hochwasser in den dreißiger Jahren wiederholt hier angerichtet hatten. Der mitten durch’s Dorf Splügen fließende Bach hatte Brücken und Häuser weggerissen und einen großen Theil der Straße zerstört. Beim Zurückgehen in sein gewohntes Bett ließ er dieses Steingeschiebe als Zeichen seiner Kraft hier zurück.

Die Straße über den Splügen ist eine der bestangelegten und bequemsten Alpenstraßen; die Steigung ist so gering, daß man nie Vorspannpferde braucht, und die Breite so respectabel, daß zwei schwergeladene Frachtwagen sich bequem ausweichen können. Wie alle Alpenstraßen, geht sie in Zickzacklinien, deren man von der Schweizerseite aus sechszehn bis zur Paßhöhe zählt. Wir waren nur wenige Minuten gestiegen, als wir den ersten Schnee begrüßten, der, erst nur als leichter Schaum die Straße bedeckend, rasch an Mächtigkeit zunahm. Die Schlittenpartie, der interessantere Theil der Reise, hatte zu beginnen; wir waren kaum zwanzig Minuten von Splügen entfernt, als wir denn auch an der Seite der Straße eine lange Reihe bespannter Schlitten, jeder mit einem Kutscher, stehen sahen. Die Schneedecke war bereits zu hoch für unseren schweren Wagen; er mußte seine Bemannung und sein Gepäck abgeben und nach Splügen zurück. Das Frachtgut ward sorgfältig auf einen Fourgonschlitten geladen, die Reisenden aber wurden je zwei in einen Schlitten verpackt, und abermals ging es vorwärts.

Diese Postschlitten sind sehr einfach und ihrem Zwecke entsprechend gebaut; die Breite ist nur gerade für zwei Personen hinreichend, vorn befindet sich der Sitz für den Schwager, der aber, nur bei der Thalfahrt benutzt wird. Bei der Bergfahrt geht der Kutscher vor oder hinter dem Fuhrwerk einher, indem er die Zügel einem der Reisenden übergiebt oder einfach vorn an seinem Sitze befestigt. Die Pferde sind so vertraut, daß er die Passagiere getrost ihrer Führung überlassen darf. Der Sitz der Reisenden ist gepolstert, mit einer Rücklehne, die bis an’s Kreuz geht, aber ohne alle Bedachung. Bei Schneegestöber und Regen muß dies für die Fahrenden sehr peinlich sein, die denn auch oft halb erstarrt und mit entzündeter Gesichtshaut am Fuße des Berges ankommen; bei so herrlichem Wetter aber, wie wir es zu unserer Bergfahrt hatten, ist dagegen der freie Rundblick, den diese offenen Schlitten gewähren, von großer Annehmlichkeit. Die Füße der Reisenden sind mit einer Lederdecke geschützt; die Post hat aber auch außerdem väterlich für das Behagen gesorgt, indem nicht nur auf dem Fußbrett reichlich Stroh aufgeschüttet ist, sondern auch Teppiche, Wolldecken und Wildschuren im Ueberfluß vorhanden sind, in welche jeder Reisende, gleich einem Wickelkind, bis an die Arme hinauf eingehüllt wird. Jeder Schlitten ist mit einem Pferde bespannt und die einzelnen Fuhrwerke folgen sich in einer geschlossenen Reihe. Ich hatte neben mir als Schlittennachbar einen jungen Graubündner. Kaum den Knabenjahren entwachsen, hatte er doch schon unter Garibaldi den Feldzug nach Sicilien und Neapel als Officier mitgemacht, sich mit den Oesterreichern herumgeschlagen und schien wieder aus militärischen Zwecken die Alpen zu übersteigen.

So sanft auch die Steigung, der Straße über den Splügen ist, so geht doch die Reise bei dem beschwerlichen Weg im weichen Schnee nur sehr langsam fort. Bei jedem Schritte sinkt das Pferd ein und macht sich durch einen Ruck frei, der sich auf unangenehme Weise bis in den Schlitten fortpflanzt und jene eigenthümliche Erschütterung bewirkt, die man auf dem Kameele bei einem Ritt durch die Wüste empfindet. Aber das Schauspiel, das sich uns darbietet, ist so großartig, so eigenthümlich, daß man beim Anfang der Reise die langsame Beförderung fast vergißt. Ein Blick rückwärts zeigt uns eine lange Reihe von Schlitten in malerischem Zuge und das Zickzack der Straße, die sich gegen Splügen verliert. Vor uns thürmen sich Felswände, imposante Berghöhen, Wellenlinien in allen Formen, Alles mit tiefem Schnee bedeckt. Nur einzelne verkrüppelte Nadelbäume biegen sich unter der weißen Belastung, um noch weiter oben ganz zu verschwinden. Die Schneedecke, welche im Anfange die Straße nur ein paar Zoll hoch bedeckte, nahm rasch an Mächtigkeit zu, je weiter wir hinauf kamen, um nach einer Fahrt von etwa einer Stunde die Höhe von zehn bis zwölf Fuß zu erreichen. In diese Schneemasse hinein hatten die Arbeiter eine Art von Stollen gegraben, eine tiefe Rinne, in welcher sich die Schlitten fortbewegen, zu beiden Seiten von einer imposanten Schneemauer überragt. Die Sonne schien mit aller Macht einer jungfräulichen Maisonne, die Schnee- und Eisnadeln flimmerten in ihrem Scheine wie Millionen Krystall und alle Farbentöne des Prisma funkelten uns entgegen, wo die Strahlen senkrecht herunterfielen. Ich hatte gleich am Anfange der Fahrt einen grünen Schleier vorgebunden, um der Schneeblindheit zu entgehen, aber das feine Gewebe war eine ungenügende Blendung gegen diese Fluth des grellsten weißen Lichtes, das von allen Seiten mir entgegendrang. Zuerst stellte sich ein Thränen der Augen, dann eine krampfhafte Lichtscheu und endlich ein so furchtbarer bohrender Schmerz in der Tiefe der Augenhöhlen ein, daß ich ernstlich für meine Augen besorgt wurde. Selbst das feste Schließen der Lider brachte nur wenig Erleichterung, ich glaubte [327] zu meinem Entsetzen gezwungen zu sein, mit verbundenen Augen die Fahrt bestehen zu müssen, als mir der Schirrmeister, der meine qualvolle Lage sah, mit einer grünen Schneebrille aushalf, die wie mit einem Zauberschlage allen meinen Leiden ein Ende machte. – Diese rasche Einwirkung des vom Alpenschnee reflectirten Lichtes auf die Netzhaut des Auges hat etwas sehr Eigenthümliches. Ich hatte schon oft in der Ebene tagelange Fahrten im offenen Schlitten und beim blendendsten Sonnenlichte gemacht, ohne besonders darunter zu leiden, während eine Fahrt von kaum einer Stunde über den Splügen nur so verhängnisvoll wurde. Man scheint sich gegen diese Einwirkung auch nicht durch Gewöhnung abhärten zu können, denn die Kutscher, der Schirrmeister und die Schneeschaufler, die wir zu Hunderten längs der Straße trafen, waren alle mit dunkeln Brillen versehen. Und doch sind diese Leute oft schon vom October an bis zum Frühling fast täglich in diesen Höhen beschäftigt, mit Schaufeln und Picken den Schnee wegzuräumen, der oft in wenigen Stunden die Straße überdeckt und unfahrbar macht. Sie tragen bei dieser beschwerlichen Arbeit, wenigstens beim Sonnenschein, alle ihre dunkeln Augengläser, was den ernsten kräftigen Gestalten einen ungemein komischen Anstrich verleiht. Man könnte glauben, daß man mitten in der Schneewüste auf ein Stück verspäteten Carnevals gestoßen sei, oder daß man sich einer Augenheilanstalt nähert, deren Reconvalescenten eine Schneepromenade angetreten haben. Diese Schneeschaufler, die wir immer nur in langen Reihen beisammenstehend trafen, waren aber auch die einzigen lebenden Wesen, denen wir begegneten. Kein Wanderer arbeitete sich durch den Schnee fort, kein Vogel segelte vorüber. Nur die Fährten eines Raubthieres oder Alpenhasen erschienen hier und da im Schnee abgedrückt und ließen sich auf weite Entfernungen verfolgen. Eine Wendung der Straße, und wir waren wieder allein, und wieder lag die einsame Schneewüste vor uns, unbeweglich, schweigsam, nichts als weiße Höhen, Abgründe – den Wellen eines wildaufgeregten Meeres ähnlich, die plötzlich erstarrt sind. –

Nach dreistündiger Fahrt langten wir endlich auf der Paßhöhe an, in der muldenförmigen Ebene, welche die Einsattlung des Berges bildet und über welche jedes Jahr die Zugvögel mit ihrem unverbrüchlichem Festhalten an traditionellen Routen in zahlreichen Schwärmen nach Italien ziehen. Der Blick wird freier, die Fernsicht ausgedehnter, eine schöne Ebene liegt vor uns und zieht sich dem Kamme des Berges entlang in leichten Wellenlinien fort. Links von uns erhebt sich der Soretto mit seinem prächtigen Gletscher, rechts, im Westen, das steilansteigende Schneehorn. Wir nähern uns der Grenze Italiens, und die aus Stein gebaute casa cantoniera (Berghaus), deren graue Mauern so einladend aus dem Schneevorwerk hervorblicken, steht bereits auf italienischer Erde. Sie ist ein Zufluchtsort für Reisende im Winter, ein Gasthaus und zugleich eine Art von Leuchtthurm. Denn bei Schneegestöber und Nebel wird die große Glocke hier in Bewegung gesetzt, um verirrten Reisenden die Richtung des Weges anzuzeigen. Für uns ist aber hier keine Ruhestätte, bereits sitzt der Kutscher auf seinem Bocke und schwingt seine Peitsche. Es geht thalwärts! Schnell wie der Wind fliegt das leichte Fahrzeug einher, und wird links und rechts, oft dicht an den Abgrund geschleudert, wenn die Straße eine scharfe Wendung beschreibt. Wir aber schauen behaglich dem veränderten Bilde, der tollen und doch ganz gefahrlosen Fahrt zu; lustig wirbeln die blauen Wölklein unserer Pfeifen in die reine Luft herauf, und wir lassen uns die Schneeflocken von den Hufen der Pferde in’s Gesicht schleudern.

Der rasche Trab führt uns ja Italien zu, dem sonnigen Süden, der wiedergeborenen Italia libera! Mir war es, als hätte ich Mignon’s Sehnsucht nach der Heimath und die hohe Poesie von Goethe’s herrlichem Liede noch nie so warm empfunden, als hier an dieser hohen Grenzscheide, sechstausendfünfhundert Fuß über dem Meere. Wieder heben sich ein paar graue Mauern aus dem Schnee empor, ein Haufen armseliger düsterer Häuser, mit kleinen Fenstern und unheimlichem Aeußeren; es ist die Dogana, wo zur Zeit der österreichischen Herrschaft das Mauthamt seinen Sitz hatte, während es jetzt nur eine Station für die Grenzwächter ist. Das erträglichste dieser trübseligen Baracken ist das Wirthshaus „zum Splügen“. Hier fliegen wir nicht vorbei. Schon stehen die Postpferde bereit, die unsere müden Gäule ersetzen sollen, und uns bleibt noch Zeit zu einem erquickenden Glase italienischen Weines. Welch’ trauriger Winkel Erde im Winter, diese Dogana, die oft bei Schneestürmen halb verschüttet wird, in diesem öden Kessel, rings von himmelhohen Gebirgen umschlossen! Nur im Sommer bringen der Touristenzug, der Waarentransport und die Bergamaskerschafe, die zu Tausenden das spärliche Gras der mageren Bergtriften abweiden, einiges Leben in dieses verlorene Nest. Es bleibt uns aber keine Zeit zu weltschmerzlichen Träumereien; der italienische Postillon sitzt wieder aus seinem Bocke, die Hetzjagd beginnt auf’s Neue. Ueber das baumlose Hochplateau der Staffetta, beim majestätischen Carcinsagletscher vorbei, dessen bläuliche Eismassen aus der Ferne uns entgegenschimmern, fliegen wir bei der zweiten und dritten Cantoniera vorbei und kommen endlich in’s Bereich der Galerien, die zum Schutze der Straße vor Lawinen erbaut worden sind, gewaltige Bauwerke aus festem Mauerwerk, mit massiven Dächern, über welche die Schneemassen gefahrlos hinübergleiten, um in dem Abgrunde, rechts von der Straße, zu zerschellen.

Welche strategisch mächtige Position für ein Häuflein entschlossener Männer, um einer großen feindlichen Uebermacht den Weg zu verlegen! Welche mächtigen Strebepfeiler stützen diese Mauern gegen den Abgrund hin! Welchen großartigen Eindruck machen diese Viaducte schon durch ihre Höhe, die bei fünfzehn Fuß beträgt, und durch die imposante Länge von vielen hundert Fuß! Man fühlt, wenn man im Winter und Frühling durch diese Gänge, die an den gefährlichsten Stellen erbaut sind, hindurchfährt, ein unendliches Behagen; man wird der Gefahren, durch die man bis dahin mit heiler Haut durchgeschlüpft, erst recht bewußt, wenn man die großartigen Vorkehrungen gewahr wird, welche gegen sie hier errichtet sind. Man mißt staunend diese Cyklopenmauern mit den Augen und berechnet mit Behagen, daß dieselben auch der größten Lawine widerstehen würden. Um das Tageslicht durchzulassen, sind in diesen Galerien in regelmäßigen Abständen schießschartenähnliche Fenster gegen den Abgrund angebracht. Der Fußgänger wirft durch sie einen Blick in die grausige Tiefe. Jetzt aber waren sie zum großen Theil mit Schnee und Eis vermauert und ein geheimnißvolles Dunkel herrschte im Innern. An vielen Stellen aber, wo der Schnee nur in dünnen Schichten lag, fiel das Tageslicht reicher durch diese Blendungen ein, brach sich in den wundervollsten blauen und grünen Farbentönen, wie in der blauen Grotte von Capri, und zauberhafte Lichtreflexe funkelten am Boden. Vier solcher Galerien folgen sich in kurzen Entfernungen. Beim Austritt aus der zweiten überrascht uns der prächtige Prospect auf die alte frühere Splügenstraße, welche in Zickzackwindungen durch die gefährliche Cardinell nach dem tief unten im Thale gelegenen Isola führt. Auf diesem gefährlichen Wege führte im December 1800 Macdonald eine Abtheilung der französischen Armee nach Italien, unter namenlosen Beschwerden und unter großer Einbuße von Menschen und Saumthieren, die in ganzen Reihen von Lawinen in die Tiefe gerissen wurden. Von solchen Fährlichkeiten ist die neue Splügenstraße frei, die namentlich auf der italienischen Seite ein wahres Musterbild des Straßenbaues in den Alpen ist. Scheinbar unüberwindliche Hindernisse sind hier siegreich überwunden und Stunden lang ist das Auge in einer beständigen Spannung, bald durch die Erhabenheit der Natur, bald mehr noch durch die Großartigkeit dieser kühnen Brücken, Terrassirungen und Schutzmauern in Anspruch genommen.

Wir sind wieder in der Baumregion; der Trab unseres Pferdes wird schärfer, je mehr die Steigung sich mindert. Die Scene wechselt mit überraschender Schnelligkeit. Wir fahren dicht an dem imposanten Wasserfalle des Madesimo vorbei. Welche reichen Wassermassen werden da an siebenhundert Fuß in die Tiefe geschleudert! Wenige Wasserfälle in den Alpen dürften sich an Fallhöhe, Wasserreichthum und Großartigkeit der Umgebung mit dem Madesimo messen. Die Schlitten halten alle ein paar Minuten vor dieser wundervollen Scene, deren Schauplatz die Straße in mehreren Windungen umkreist, so daß wir den Fall, dessen Donner uns noch lange nachfolgt, von den verschiedensten Seiten betrachten können. Wir fühlen bereits, daß wir an dem Südabhange der Alpen sind; laue Lüfte wehen uns entgegen, dünner und dünner wird die Schneedecke und auf einmal steht die Diligence vor uns! Decken, Pelze, Schneebrillen – Alles fliegt weg, die Schlitten treten die Rückreise an und die behaglichen Räume des Eilwagens nehmen die ganze Reisegesellschaft auf. Wiederum poltert der feste Erdboden unter unseren Füßen, das erste Grün erquickt die Augen, wir rasseln durch eine vierte und letzte Galerie hindurch und nach [328] einigen Windungen der Straße fahren wir in Campo dolcino ein. Gut italienisch, wie der melodisch klingende Name, ist da schon die Bauart der Häuser, die fensterarmen Mauern, der Schmutz, das rege Straßenleben. Das halbe Dorf ist um das armselige Wirthshaus versammelt, wo zugleich die Douane ist – lebhafte braune Gesichter, dunkles Haar, schwarze Augen, italienischer Typus vom reinsten Wasser. Man könnte sich in die Campagna di Roma oder nach Sicilien versetzt glauben, wenn die Vegetation nicht zu nördlich wäre, so verschieden von Land und Leuten, die wir vor wenigen Stunden in Splügen gesehen hatten, ist Alles in diesem elenden Bergdorfe.

Die Gepäckvisite ist nicht allzu scharf, bald setzt sich der Wagen wieder in Trab. Wir lenken in’s malerische Lirathal ein, dessen Thalsohle eine wilde Steinwüste ist, wo haushohe Blöcke neben und über einander liegen, als hätte ein großer Bergsturz sie hierher geschleudert. Aber schon fängt der südliche Charakter der Vegetation an, schon zeigt der Kastanienbaum seine unscheinbaren Blüthentrauben und sein markiges Blättergrün, erst in einzelnen schüchternen Bäumen, dann in Gruppen, bis uns in San Giacomo der erste Kastanienwald entgegentritt, der sich in üppiger Blätterfülle bis hoch an die Berghänge hinaufzieht. Wir fahren über eine kühngeschwungene Brücke, die Straße ist eben, die Landschaft hat ihren wilden Charakter verloren, Maiblumen und Blüthen begrüßen uns, in duftiger Ferne winkt der Campanile von Chiavenna. Einzelne Feigenbäume erheben sich verschämt aus den kleinen Gehöften, die Rebe breitet ihre mächtigen Ranken aus; wir nähern uns dem Reiseziele des heutigen Tages. Aber schon ist die Sonne am Untergehen, ein warmer südlicher Ton ist über die malerische Landschaft ausgegossen, der Tag geht zur Rüste. Die Avemariaglocke tönt uns entgegen, wie wir im altehrwürdigen Chiavenna einziehen, aus dem Battisterio dringen die gedämpften Töne der Vigiliengesänge. Hier und da schimmert schon ein Licht aus einem Fenster, es ist Feierabend. Alles drängt in’s Freie, der Abend ist so mild und lau, der Blüthenduft so balsamisch. Die liebe Straßenjugend umtanzt heulend und jubelnd die Diligence, aus den Bierschenken schallt die Garibaldi-Hymne. Alles duftet, jubelt, singt uns entgegen: Ja, das ist Chiavenna – la Chiava (der Schlüssel) d’Italia.!

Z.




  1. Also nahezu eintausend Fuß höher als der Gipfel des Brocken.