Textdaten
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Autor: La Mara
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Titel: Eine Leipziger Musikgröße
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 28, S. 455–457
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Eine Leipziger Musikgröße.[1]

Von0 La Mara.


Leipzigs Musikleben und die Kunst im Allgemeinen haben einen empfindlichen, in gewissem Sinne sogar einen unersetzlichen Verlust erlitten, als Ferdinand David, der große Geigenkünstler, durch einen jähen Tod abberufen ward aus diesem Dasein. Mit ihm ging der letzte jener großen Namen dahin, an die sich Leipzigs glorreichste Musikepoche knüpft; mit ihm, dem Freunde Mendelssohn’s, dem Genossen Schumann’s, Hauptmann’s, Moscheles’, ward diese selbst nun ganz und für immer zu Grabe getragen. Vorüber ist die Zeit, da Leipzig die musikalische Suprematie in Deutschland behauptete, da ihm in Sachen der Tonkunst eine erste Stimme zuerkannt werden mußte in Europa, ja in der ganzen gebildeten Welt. Es braucht sich dessen vielleicht nur bewußt zu werden, um sich zu erneutem Aufschwunge aufzuraffen – an Kraft dazu wird es ihm nicht gebrechen. Aber wir erinnern uns der Worte Mendelssohn’s beim Tode seiner Schwester: „Ein großes Capitel ist nun eben aus und von dem nächsten ist weder die Ueberschrift, noch das erste Wort bis jetzt da.“

In den geweihten Kreis der Todten, deren Cultus sein künstlerisches Wirken vorzugsweise gewidmet war, ist jetzt auch Ferdinand David eingegangen. Es bedurfte dessen nicht zur Besiegelung seiner Meisterschaft in den Augen seiner Zeitgenossen. Was vom Künstler im Allgemeinen gilt, das litt auf ihn keine Anwendung. Nicht karg an Gunst, sondern reich an Sympathie, Dankbarkeit und Anerkennung hat sich ihm die Mitwelt erwiesen; eine Ausnahme, wie sie sich noch am ehesten beim reproducirenden Künstler findet. Daß selbst die große kunstfremde Masse der Bedeutung seines Genius Rechnung trug, daß er, der doch immerhin exclusive Künstler, einer weitgehenden Schätzung seiner Verdienste, einer unleugbaren Popularität genoß, das bezeugte die Theilnahme der Tausende, die sich versammelten, um ihm nahe zu sein auf jenem letzten Gange, von dem Keiner wiederkehrt.

Ferdinand David ward am 19. Januar 1810 zu Hamburg geboren, als Sohn eines Kaufmanns, der ihn dem eigenen Berufe zuzuführen gedachte. Statt irgend welcher kaufmännischer Talente machte sich indeß eine auffallende künstlerische Begabung schon frühzeitig an ihm bemerkbar, und zwar eine zweifache, die ihn gleicher Weise zum Maler wie zum Musiker bestimmt erscheinen ließ. Er portraitirte namentlich mit großem Geschicke, sodaß man eine Zeitlang schwankte, ob man ihn nach dieser Richtung hin ausbilden sollte, und seine Lehrer sogar darüber in Streit geriethen. Doch überwog am Ende der Drang zur Musik. Schon als zehnjähriger Knabe erregte er durch sein Geigenspiel die Bewunderung der Concertbesucher. In seinem dreizehnten Jahre bereits fand ihn Spohr, der berühmte Casseler Meister, zur Genüge gereift, um ihn unter seine Schüler aufzunehmen, unter denen er später die hervorragendste Stelle einzunehmen berufen war. Nur eines dreijährigen gründlichen Studiums bedurfte es unter der Obhut des Lehrers; dann entließ ihn dieser, damit er, selbstständig geworden, seine eigenen Bahnen weitergehe.

Den Lehrjahren ließ er nun nach Virtuosenart die Wanderjahre folgen. Meist in Gemeinschaft mit seiner jüngeren Schwester [456] Louise – der nachmaligen Hofpianistin der Herzogin von Kent, Frau Dulken – trat er bald hier, bald dort concertirend auf. Auch Leipzig hörte damals (28. December 1825) seinen Ferdinand David, auf dessen Besitz es später stolz sein durfte, zum ersten Male. Kaum sechszehn Jahre alt gelangte er zu Amt und Würden, indem er im Orchester des Königsstädtischen Theaters (nicht als Concertmeister, wie irrig verbreitet) in Berlin eine Anstellung fand. Im November 1829 vertauschte er seinen dasigen Wirkungskreis mit einem anderen, der sich ihm in Dorpat eröffnete. Als erster Violinist und Leiter eines Privatquartetts war er daselbst sechs Jahre hindurch (bis Ende 1835) im Hause des livländischen Landmarschalls, Baron von Liphart, thätig.*[2] In dessen schöner und geistreicher Tochter, Sophie, seiner Schülerin, fand er die geliebte Gefährtin seines Lebens, mit der er sich in December 1836 in Berlin vermählte.

Eine dauernde Heimstätte hatte sich ihm inzwischen in Leipzig aufgethan, wo Mendelssohn, der ihm von Berlin her Befreundete, mit dem October 1835 die Leitung der Gewandhausconcerte überkommen hatte. Er rief den kaum nach Deutschland Zurückgekehrten als ersten Concertmeister an seine Seite (Februar 1836) und gewann in ihm nicht allein eine künstlerische, sondern gleichzeitig eine bildende Kraft allerseltenster Art, mit der vereint es ihm gelang, das altrenommirte Concertinstitut zu höchstem Ruhm und Glanz emporzuführen. Bekannt ist, was Mendelssohn dem Musikleben Leipzigs gewesen und wie ihm dieses seine Weltstellung als Metropole der Tonkunst vor Andern dankt. An den schönen Erfolgen der Mendelssohn’schen Thätigkeit aber gebührt Ferdinand David gewiß ein nicht zu unterschätzender Antheil. Von der Sorge um das Technische insbesondere befreite er seinen genialen Freund. Die berühmt gewordene Präcision des Gewandhaus- und Theaterorchesters, die Sicherheit und Gewissenhaftigkeit, der ernste Ordnungsgeist in den technischen Ausführungen desselben sind David’s Verdienst. Er war die Seele des herrlichen Instrumentalkörpers, ein strenger, gefürchteter und doch äußerst geliebter Führer. Keinerlei Nachlässigkeit entging seiner Rüge, doch freudig erkannte er auch jegliche gelungene Leistung an. Den Enthusiasmus, der ihn selbst erfüllte, und der ihn sich jeder Aufgabe mit wahrem Feuereifer widmen ließ, erwartete er auch von seinen Schülern und Genossen – Lauheit galt ihm als schwerstes Vergehen in Sachen der Kunst.

So wirkte sein Beispiel zündend und begeisternd; die Leistungen des Orchesters belebten sich unter seiner schonungsvollen Führerschaft und athmeten ein oft unvergleichliches künstlerisches Feuer. Er war eben, wie Schumann sagt, das Muster eines Concertmeisters, ja als solcher wohl sogar unerreicht. Sein Schüler Wilhelmj, gegenwärtig einer unserer ersten Geiger, bezeugt: „Er verstand es oft besser, dem Orchester die Absichten des Dirigenten zu interpretiren, und so zur Ausführung zu bringen, als dieser selbst.“ Gleichwohl war er als eigentlicher Dirigent weniger glücklich, eine Thatsache, die sich während seiner zeitweiligen Uebernahme des Capellmeisteramtes herausstellte.

Wie hoch er übrigens in seiner Eigenschaft als Concertmeister auch außerhalb Leipzigs in Ansehen stand, bewies man ihm unter Anderm gelegentlich des Weimarer Beethovenfestes (1870), wo unter einer Elite anerkanntester Geigenkünstler Franz Liszt ihn an die Spitze der Streichinstrumente stellte. Die Wiedergabe gewisser Werke, wie der Beethoven’schen Symphonien, der Cherubini’schen und Mendelssohn’schen Ouverturen, unter seiner Mitwirkung, die auch nach Mendelssohn’s frühzeitig erfolgtem Tode besten Geist und Auffassung im Orchester lebendig erhielt, ward lange Zeit als die einzig mustergültige angesehen. Die von seiner Hand herrührenden Vortragsbezeichnungen und Ergänzungen in den einzelnen Orchesterstimmen, die theils ein genauestes Zusammenspiel der Geiger bezwecken, theils (wie in den Blasinstrumenten) den Fortschritten der modernen Instrumentenbaukunst entsprechen sollten, waren allgemein als so werthvolle anerkannt, daß sie von andern Orchestern für Musteraufführungen häufig entliehen und copirt wurden.

Von der Mitwirkung bei der Oper hatte er sich in den letzten Jahren mehr und mehr zurückgezogen, sich nur noch einige wenige, vorzugsweise classische Werke vorbehaltend. Häufig und gern betheiligte er sich dagegen an Kirchenconcerten. Sein Vortrag des Violinsolos in Beethoven’s Missa solemnis, in Bach’s Matthäuspassion z. B. wird Allen, die ihn gehört, unvergeßlich bleiben.

Nicht minder, als durch seine Thätigkeit als Orchesterführer gereichte er als Quartettspieler und Virtuos dem Leipziger Musikleben zur Zierde. Die von ihm im Gewandhaussaale allwinterlich veranstalteten Kammermusikunterhaltungen galten unsern Kunstfreunden als Hochgenüsse, und keiner der berühmtesten Quartettvereine, weder der Florentinische, noch der Müller’sche oder Hellmesberger’sche und wie sie alle heißen, welche die Welt von sich reden machten, hat den Ruhm des von David geleiteten Quartetts in Schatten zu stellen vermocht. Als Virtuos durfte er, in seiner Blüthezeit zumal, die Rivalität der Besten nicht scheuen. Auf deutschem und fremdländischem Boden (namentlich in England) hat er sich verdiente Lorbeeren gepflückt, und neben den glänzenden Namen Paganini, Lipinski, Ernst, Vieuxtemps, Spohr wird der seine eine bleibende Stelle finden. Nachdem er den Erstgenannten zum ersten Male gehört, hatte er – so erzählt Wilhelmj – das Violinspiel ganz aufgeben wollen. Doch ward zum Heile der Kunst dieser Entschluß nicht zur That; denn geradezu epochemachend wurde sein Wirken für die Geschichte des Violinspiels dadurch, daß er, das breite, sogenannte deutsche Spiel Spohr’s weiter ausbildend, die Errungenschaften eines Paganini mit dem classischen alten Geigenspiele in Einklang zu bringen und eine Verschmelzung beider anzubahnen suchte. Solchergestalt ward er zum Reformator, ja, wie Wilhelmj ihn bezeichnet, zum „Vater der modernen deutschen Geigerschule“.

Fragen wir doch die jüngeren unserer Violinkünstler, was sie ihm nicht Alles danken! Nicht nur die Schaar seiner Schüler, auch Die, welche nie in persönliche Beziehung zu ihm getreten sind, müssen sich durch seine pädagogische Kraft gefördert bekennen. Seiner Studienwerke, namentlich der unübertroffenen Violinschule, in der er die Summe seiner Erfahrungen niederlegte, kann heutigen Tages Keiner mehr entbehren, der eine höhere Stufe im Violinspiel erstrebt, und wo wäre der Geiger, der nicht wenigstens einzelne seiner fünf Concerte, seiner kleineren Charakterstücke, wie die „Bunte Reihe“, „Dur und Moll“, „Aus der Ferienzeit“, zu seinen beliebtesten Repertoirestücken zählte? Als eine Fundgrube werthvollster Musik sind ferner seine Bearbeitungen älterer Werke, die theils in seiner „Hohen Schule des Violinspiels“, theils separat gedruckt erschienen, in Aller Händen. Vergessene oder bisher ungedruckte Compositionen Bach’s, Händel’s und namentlich der alten Italiener (Corelli, Nardini, Locatelli u. A.) brachte er in ihnen wieder an’s Tageslicht und zu neuer Geltung. Als Tonsetzer mit unglaublicher Schnelligkeit und Leichtigkeit producirend, bethätigte er sich nach den verschiedensten Seiten hin; denn auch Concerte und Stücke für andere Instrumente, Lieder, Psalmen, Quartette und Symphonien, ja sogar eine komische Oper, „Hans Wacht“, wurden von ihm geschrieben, ohne es jedoch zu einem gleichen Erfolge wie seine Geigencompositionen zu bringen. Im Laufe des letzten Sommers bereitete er noch eine Suite Händel’scher Streichconcerte, elf an der Zahl (ein dazugehöriges zwölftes ist schon früher erschienen), in neuer Bearbeitung, mit Vorzeichnungen versehen, zur Herausgabe vor. Den weiteren Plänen, mit denen er sich trug, hat der Tod ein Ende gemacht, und zahlreiche Manuscripte liegen nun in seinem Nachlasse begraben.

So vielseitig Ferdinand David demnach an der Förderung der Tonkunst Antheil genommen und seine Kräfte in ihren Dienst gestellt, der Schwerpunkt seiner künstlerischen Bedeutung lag gewiß auf pädagogischem Gebiete. Darum preist auch der Berufenste unter Denen, die der Trauer über seinen Hingang Ausdruck gegeben, sein Lehrgenie als die reichste der reichen Gaben und Eigenschaften des seltenen Meisters. Seit Gründung des Leipziger Conservatoriums (Ostern 1843) als erster Lehrer des Violinspiels daselbst angestellt, hat er dreißig Jahre lang zum Ruhme der Anstalt und als einer ihrer stärksten Magnete gewirkt. Die Zahl und der Ruf seiner in aller Herren Ländern verbreiteten Schüler, die ersten unserer jetztlebenden Violinvirtuosen, Joachim und Wilhelmj an ihrer Spitze, legen Zeugniß ab, wie geläufig ihm die schwere Kunst des Bildens und Schulens jugendlicher Talente gewesen. Mit dem ihm eigenen scharfen Beobachtungssinne erkannte er die individuelle Begabung jedes Einzelnen und machte deren planmäßige Ausbildung zu einer Hauptaufgabe des [457] Unterrichts. Anregend und anfeuernd wirkte er auf alle, auch auf kühlere Naturen; die ihn selbst durchglühende Begeisterung für alles Schöne, für Kunst und Künstlerberuf verstand er in einem Jeden zu erwecken. Allerdings erwuchs ihm aus dieser seiner Lehrthätigkeit der unberechenbare Vortheil, daß er, wie bekannt, das Orchester nach und nach mit Violin-Künstlern zu besetzen vermochte, die er sich selbst herangebildet hatte. Wie hat er aber auch sein Lehramt auf seinem Herzen getragen und ihm mit unablässiger Treue obgelegen! Wie vielen Unbemittelten auch erwies er unentgeltlich die Wohlthat seines Unterrichts!

So vielverzweigt seine Thätigkeit war, die Pflicht gegen seine Schüler ging Allem voran, selbst der Rücksicht auf seine in den letzten Jahren in Folge eines Herzleidens erschütterte Gesundheit. Nimmer, ob er auch rastlos schuf und strebte, that er sich selbst genug; in ununterbrochener Folge sollte, so forderte er, die ihm eingeborene eiserne That- und Willenskraft sich bewähren. „Er verlor nie eine Minute,“ rühmt Ferdinand Hiller in seinem schönen Nachrufe von ihm. In den freien Augenblicken der Conservatoriumsprüfungen z. B. zeichnete er, wie er denn niemals aufhörte, die von Kindheit an geübte Kunst zu pflegen. Während einer gemeinsamen Rückreise von Prag spielte er seinem Freunde Moscheles im Eisenbahnwagen auf der Geige vor, und hatte er sein Instrument aus der Hand, die Feder bei Seite gelegt, „war ihm die allerbeste Lectüre gerade gut genug“. Auch für Alles, was außerhalb seiner Kunst Bedeutendes geschah und geschrieben wurde, gab er das lebhafteste Interesse kund. So zählte die Leipziger geographische Gesellschaft ihn zu ihren eifrigsten Mitgliedern; in ihren Sitzungen hat man ihn kaum je vermißt. Voll Geist und schlagenden Witzes, lebendigen, ja feurigen Naturells, sah man in ihm den willkommensten Gesellschafter, wo er auch erschien. Den Seinen war er der treueste Gatte und Vater, seinen Kunstgenossen ein heiterer Gastfreund, ein gewissenhafter Berather, je nachdem man das Eine oder Andere bei ihm zu suchen kam.

Trotz alledem hat es ihm ebensowenig an Gegnern gefehlt, wie den meisten künstlerischen Größen. Sein nervöses Temperament und der damit zusammenhängende häufige Wechsel seiner Stimmungen, sein energisches, vielleicht nicht immer gemäßigtes Auftreten in künstlerischen Angelegenheiten haben ihm manchen Feind geschaffen. Er war ja eine so unmittelbare, impulsive Natur, daß die Eindrücke, welche er empfing, sympathische und antipathische, sich offen und unzweideutig von seinem Aeußeren ablesen ließen.

Auch für die oppositionelle Haltung der Gewandhausdirection gegenüber mehreren der bedeutendsten neueren Kunsterscheinungen hat man ihn vorzugsweise verantwortlich gemacht. Mit Unrecht, wie Wilhelmj meint, der im Gegentheil die Vielseitigkeit und Unbefangenheit seines Urtheils anerkennend hervorhebt. Es ist gewiß, seine Kunstideale lagen diesseits der classischen Richtung, und mit Vorliebe hat er ihr immerdar seine Kräfte gewidmet; doch sollte ihm billig kein Vorwurf daraus erwachsen, daß er, dessen Entwickelungs- und Blütheperiode einer früheren Zeit angehörte, das Banner derselben hochgehalten und seinem Bekenntnisse treu geblieben bis zum letzten Athemzuge.

So unausgesetzt, Jahrzehnte hindurch, treuester Berufserfüllung hingegeben, hat Ferdinand David manchen Wechsel in den Musikverhältnissen Leipzigs mit ansehen müssen. Dem frühen Tode Mendelssohn’s folgte Schumann’s Weggang; dann gingen Hauptmann und Moscheles schlafen – er war der Letzte, der als thätiger Zeuge einer großen Vergangenheit übrig blieb. Wohl klopfte im Herbste des Jahres 1872 der Tod auch an seine Thür – doch ging er noch einmal vorüber: der schwer erkrankte Meister gesundete wieder und ward mit Jubel in Gewandhaus und Conservatorium als genesen begrüßt. Der Arzt hatte gewünscht, er solle dem Kunsttreiben entsagen; aber das konnte er nicht. „Ohne meine Kunst zu leben, wäre ja erst mein Tod,“ meinte er. Als er im neunzehnten Abonnementconcert das von ihm selbst bearbeitete Bach’sche D-moll-Concert spielte, wollten die Aeußerungen der Dankbarkeit kein Ende nehmen; sein großer edler Ton, der wundervolle Gesang, das jugendliche Feuer seines Vortrags entzückte uns Alle – und eben da nun haben wir ihn zum letzten Male gehört.

Am 14. Juni 1873 verließ er Leipzig, um, wie er dies seit 1870 alljährlich zu thun pflegte, in Tarasp und Klosters in der Schweiz die Badecur zu gebrauchen. Zwei seiner Töchter (er hinterließ deren fünf) und sein in England als Musiklehrer lebender Sohn begleiteten ihn. Wenige Stunden vor seiner Abreise noch versammelte er seine Schüler im Conservatorium zum Unterrichte um sich. „Ich muß doch ordentlich Abschied nehmen,“ entgegnete er einer Freundin, die ihm besorgt davon abrathen wollte. Heiter und anscheinend wohl, erfreute er sich in Tarasp viel am Verkehr mit Berthold Auerbach, dem er schon früher befreundet war. Ohne Musik verging ihm kein Tag; sein Sohn mußte auf dem Clavier sein Spiel begleiten. So probirten Beide in Klosters, wohin David mit den Seinen am 7. Juli übersiedelte, noch das letzte Manuscript, das er daselbst beendete, eine Uebertragung Chopin’scher Mazurken für Violine, und begeistert lauschten die anwesenden Curgäste allabendlich dem Klange seiner Geige. Sie überboten sich in Aufmerksamkeiten für den berühmten Meister und hatten noch für den Tag, an dem er der Welt entrissen ward, ein Ständchen als Ueberraschung für ihn vorbereitet. Täglich auch wurden Spaziergänge in die herrliche Umgebung gemacht. Während eines solchen Ausflugs, auf dem Wege nach der Clubhütte am Silvretta, traf ihn plötzlich der Tod. „Da hinauf möchte ich nicht und wenn die zehnte Symphonie von Beethoven im Manuscript oben läge,“ hatte er, auf den Silvrettagletscher deutend, wenige Minuten zuvor gesagt. Trotz der Anstrengung des Steigens aber fühlte er sich frei und leicht. „Du glaubst gar nicht, wie wohl mir heute ist,“ versicherte er noch seiner jüngsten Tochter, die an seiner Seite ging. Einige Augenblicke später sank er neben ihr zusammen und hauchte in ihren Armen seinen letzten Seufzer aus. Er hatte geahnt und prophezeit, daß es einmal so kommen würde; Vater und Geschwister waren ihm in ähnlich unerwarteter Weise vorangegangen. Noch kurz vor seiner Abreise hatte er sich während seines liebsten Ganges auf den Kirchhof ein „einfaches schwarzes Kreuz mit seinem Namen“ als dereinstigen Grabschmuck erbeten, wie er ihm nun auch geworden ist. Drauf lesen wir noch die Worte des von ihm componirten Psalms: „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von denen mir Hülfe kommt“, dieselben, welche Pastor Ahlfeld auch als Text seiner Rede am Sarge wählte. „Zu den Bergen“ hatte er ja in Wahrheit sterbend seine Augen aufgehoben.

Eine marmorne Gedenktafel, in einen Felsblock eingelassen, von einigen mit ihm gemeinsam in Klosters gegenwärtigen Züricher und Baseler Familien pietätvoll errichtet, bezeichnet die Stelle, wo Ferdinand David am 18. Juli 1873 gestorben. Dieselbe liegt achttausend Fuß hoch am Fuße des Silvrettagletschers, unterhalb der Hütte des Schweizer Alpenclubs. Nicht in fremder Erde jedoch sollte er ruhen – seine Kinder haben ihn wieder heimgebracht. Am Nachmittag des 24. Juli ward er unter Theilnahme der gesammten Einwohnerschaft Leipzigs begraben, mit Ehren, wie man sie nur den Großen dieser Welt erweist. Neben Moscheles, dem Freund, der ihm im Leben nahe gestanden, schläft er nun. Im Herzen des dankbaren Leipzigs aber leben sie Beide fort, vereint und unvergessen.



  1. Wir wollen den in die nächste Woche fallenden Jahrestag des Todes (18. Juli) unseres um das deutsche Musikleben so hochverdienten, unvergeßlichen David nicht vorübergehen lassen, ohne dem Verblichenen durch den Abdruck des obigen aus berufener Feder geflossenen Artikels auch unsererseits den verdienten Zoll der Anerkennung und Dankbarkeit darzubringen und uns damit den Stimmen anzuschließen, die in der deutschen und außerdeutschen Presse zu Ehren des Meisters so zahlreich laut wurden.D. Red.     
  2. * Die Angabe, daß er gleichzeitig als Dirigent eines Musikvereins gewirkt, ist unrichtig.