Eine Ballonfahrt im Sternenschein

Textdaten
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Autor: J. C. Heer
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Titel: Eine Ballonfahrt im Sternenschein
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 215, S. 794–799
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Eine Ballonfahrt im Sternenschein.

Mai 1899! – Wiesbaden hat sich wie eine Braut zum Empfang der deutschen Kaiserfamilie geschmückt und der Nachmittag füllt die herrliche Stadt im Schoß der Taunushöhen mit unendlichem Jubel über die Ankunft der hohen Gäste. Mitten in der Freude spähen Tausende zum blauen Frühlingshimmel. Zur Erhöhung des festlichen Gepränges soll im Augenblick, in dem die kaiserliche Familie die Feststadt betritt, die „Wega“ des Kapitäns Spelterini, einer der schönsten und größten Ballons, die je gebaut worden sind, zur Sonne steigen.

Umsonst aber suchen die Augen der Neugierigen das leichte Schiff in den Gefilden der Luft. Als eine hellgoldene Halbkugel liegt die „Wega“ noch auf dem Promenadeplatz zwischen den Veranden des Kurhauses und dem großen Teich, in den die alten schönen Bäume des Parkes ihre lenzgrünen Aeste senken. Der Druck, den die Gasfabrik von Wiesbaden in ihren Leitungen auszuüben vermag, ist zu schwach gewesen, um den Ballon auf die festgesetzte Zeit zu füllen.

Denn ein Riesenballon ist die „Wega“, das einzige Luftschiff, das je – es war am 3. Oktober 1898 – die Firnen des Hochgebirges überflogen hat. Sie faßt 3300 Kubikmeter Gas, und hat sie sich damit gefüllt, so beträgt der Durchmesser der aus 3168 Seidenstoffstücken zusammengesetzten Kugel 18,5, der Umfang 58 Meter, ihre Oberfläche 1065 Quadratmeter. Schon seit der vorangehenden Mitternacht arbeiten Kapitän und Gehilfen an ihrer Füllung.

Eine Regimentskapelle konzertiert mit rauschenden Klängen; auf den Promenaden ergeht sich die vornehme Welt, die dem immer schönen Schauspiel des Ballonaufstieges beiwohnen will; es wird sechs, es wird sieben Uhr, noch bauschen sich in der untern Hälfte der „Wega“, die bereits das Dach des Kurhauses und die machtvollen Baumkronen des Parkes überragt, die Falten, aber sie gerät, trotz der achtzig Sandsäcke, die sie an den Boden fesseln, doch schon in zitterndes Schwanken, und das Meisterstück des Netzwerkes, das sich mit seinen über 12 Kilometern Seilen und Seilchen und seinen 21504 Maschen in geradezu ästhetisch wirkender Verteilung über die straffe, glänzende Seidenkugel legt, kommt immer schöner zur Geltung.

Der Tag geht in den Dämmerabend über, da wird die „Wega“ flott. Alles an ihr bebt, lebt, sie drängt wie ein sich [795] bäumendes Pferd in die Höhe. Schon ist das in 24 Seile zusammenlaufende Netzwerk im Holzring am untersten Ende des Ballons zusammengezogen, die Gondel, ein großer aus Meerrohr und Weiden geflochtener Korb, mit 12 starken Stricken daran gehängt, und „Eintreten der Passagiere!“ befiehlt der Kapitän. Eine gewaltige Spannung hat sich der Zuschauerschaft bemächtigt, eine kleine Schar drängt sich um den Korb – ein letzter prüfender Blick des Kapitäns auf Gondel und Ballon und nun „Los!“

Fanfaren der Regimentskapelle – überall Bewegung, Hüte- und Tücherschwenken, tausendstimmige Rufe der Zuschauerschaft: „Glückliche Reise!“ In erhabener Ruhe steigt die hellgoldene Kugel zum sanft geröteten Abendhimmel, auf dem Rand des Korbes steht der Kapitän im Netzwerk und schwenkt die Mütze zum Lebewohl.

Es ist seine fünfhundertunddritte Fahrt – möge sie glücklich sein wie die vorangegangenen!

Man mag so oft, wie man will, in die Gondel eines Ballons steigen, stets werden die letzten Minuten vor der Abfahrt, wenn sich das Fahrzeug wie ein gefesseltes, nach Befreiung lechzendes Raubtier hin und her reißt, das Gemüt beklemmen, wird etwas von der aufgeregten Stimmung der Zuschauerschaft auf den Passagier übergehen, immer wird aber auch der Augenblick, wo die Erde von uns zurück in die Tiefe gleitet, den Passagier mit einem jäh aufströmenden Sicherheits- und Glücksgefühl überraschen, welches so stark befreit und beruhigt, daß selbst den Aengstlichsten plötzlich eine große Unternehmungslust ergreift.

Unsichtbare Hände heben uns sanft und liebevoll. Die Musik verrauscht, die Abschiedsstimmen der Tiefe verhallen – wie eine Blume, die sich mit plötzlichem Schlage öffnet, geht die Welt unter uns auseinander, wird die Enge zur Weite, und was uns vorher groß geschienen hat, Kurhaus, Garten und Teich, selbst die schöne Stadt Wiesbaden, das alles liegt einige Augenblicke nach der Abfahrt klein wie aus einer Nürnberger Spielzeugschachtel genommen unter uns. Am kleinsten sind die Menschen, sie sind nicht einmal mehr so groß wie Bleisoldaten, sie sind Ameisen, schwarze wuselnde Punkte, die auf den hellen Fäden der Straßen komisch dahingleiten, und von allem Lärm, mit dem sie die Erde erfüllen, dringt nichts mehr in die grenzenlose Stille, die uns umgiebt, als der halbverwehte Pfiff einer Lokomotive oder eines Rheindampfbootes.

Mit den Blicken gehen die Gedanken in die Ferne, beschaulich genießen wir die tief unter uns ausgebreiteten Bilder; in unfreiwilliger Andacht empfinden wir die Größe der Welt, die Weite des Raums; ja die Eindrücke der ersten Stunde im Ballon wirken so auflösend auf die Sinne, daß wir sie nur mit dem stärksten Aufgebot des Willens auf die Beobachtung von Einzelheiten zu sammeln vermögen.

In etwas größerer Höhe als die Spitzen des nahen tannendunklen Taunus gelangt die „Wega“ in die Gleichgewichtslage – sie steht ruhig, wie eine goldene Riesenampel, im Abendfrieden, und in den letzten Strahlen der Sonne glüht ihre Hülle, die unsern Blicken offen steht, in feierlichen Orangetönen und scheint wie ein Dom erfüllt mit goldenem Rauch.

An dieser leichten, halb durchsichtigen Hülle hängen drei Menschenleben. – – –

Wenn die Stricke rissen!

Ich habe einmal einen Professor sehr schön über den Tod derer reden hören, die aus einem Ballon stürzen. Sie sterben lange ehe sie den Boden erreichen, der sie zerschmettert. Während des Falles saugt ihnen die aufsteigende Luft den Atem aus der Brust, sie ersticken unterwegs. Der Erstickungstod aber werde von lieblichen Hallucinationen vorbereitet und das Leben ende schmerzlos mit einem schönen Traum!

Das ist tröstlich, tröstlicher ist die Gewißheit, daß es ein tüchtiger Kapitän ist, mit dem wir im Blauen kreisen.

Es sind bald zehn Jahre her, daß ich mit Kapitän Eduard Spelterini zum erstenmal in die Gondel eines Luftschiffes gestiegen bin. Und dann habe ich erlebt, was jeder erfährt, der eine glückliche Ballonfahrt hinter sich hat: er wird das Heimweh nach den hohen Lüften nie wieder los. Jahr um Jahr, oft ein paarmal im gleichen Sommer bin ich mit meinem Kapitän gefahren, meistens über die Berge, Abgründe und Seen der Schweiz. Wir sind nie an einem Gipfel hängen geblieben, wir haben nie einen Zusammenstoß mit einem andern Ballon erlebt, und wenn wir auch einmal eine morsche Esse eingerissen haben, so hat mich mein Freund doch immer wieder mit der Sorgfalt und Sanftheit, die man einer köstlichen Porzellanfigur widmet, auf die Erde zurückgestellt.

Man ist in seiner Gondel so sicher wie im Eisenbahnwagen.

Mein Mitpassagier, ein junger Herr aus Wiesbaden, ist davon nicht so überzeugt wie ich.

„Landen wir wohl bald?“ forscht er ein bißchen ängstlich.

„Wohin denken Sie, wir haben im Sinn, die Nacht durchzufahren!“

Da kommt eine sehr thörichte Geschichte an den Tag. Der junge Mann, der sich im letzten Augenblick vor der Abfahrt zur Mitreise gemeldet hat, ist, wie sich herausstellt, nur infolge einer leichtsinnigen Wette in die Gondel gestiegen.

Nun rinnt ihm der Schweiß der Reue über die Stirn. Schmerzlich ungläubig lächelt er zu unserm Plan.

Aber mitgegangen, mitgehangen!

Eine Nacht im Ballon! – Warum nicht? – Wer je schon bei klarem Himmel und im Schweigen des Sternenscheins auf hohem Berg gestanden, kennt die unergründlichen Reize eines Nachtgemäldes, die poesiereicher sind als der hellste Tag. Wenn die Natur die Farben auslöscht, werden erst ihre zartesten Stimmen vernehmlich, und die Aussicht, so wunderbar sie z. B. über einem Gebirgsland sein mag, ist noch lange nicht das feinste Element einer Ballonfahrt. Das ruhevolle Segeln durch den ungemessenen Raum, die Stille, die tiefer ist als das Schweigen eines Kirchhofes, der Ahnungsreichtum der Himmelsnähe, das Horchen auf die Laute der eigenen Brust, Mannigfaltiges, was halb äußere Natur, halb inneres Erleben ist, geben diesen friedlichen Stunden einen Inhalt, an dem die Erinnerung länger als am Wechsel der Landschaftsbilder zehrt.

Freilich, um sie nachher in Worte zu prägen, sind diese Erlebnisse zu individuell und zu fein.

Der linde Maienabend, in dem kaum ein leises Lüftchen die „Wega“ bewegt, verspricht eine wundervolle Nacht.

Ueber dem Hunsrück jenseit des Rheins steht das Sonnenrot wie eine flammende Wand, und darin rollt und sprüht das Riesenrad des untergehenden Gestirns. Im reinen Himmel, oberhalb der Abendröte, wandelt das blasse Horn des zunehmenden Mondes, der als treuer Knappe der Sonne in die Tiefen des Westens folgen will. Entzückende Lichtspiele gehen in der Halbdämmerung über die Lande. Die Schlange des Mains, die sich dem Rhein zuwindet, schillert in silbernen Schuppen, aus dem Grund des größern Stroms ist das Gold der Nibelungen an die Oberfläche der Wellen gesüegen und funkelt, der ferne Flußlauf der Nahe hat sich mit Rosen bedeckt, nah’ und fern liegt wunderzarter rötlicher Duft über den Landen und verklärt das in weicher Anmut träumende Bild.

Unendlich stimmungsvoll ist das Dahinschweben über den großen und kleinen Städten der Rheinlandschaft.

Wiesbaden, Kastel, Mainz, Höchst, Frankfurt, Darmstadt, selbst das ferne Worms leuchten noch, als ströme zurückgebliebenes Tageslicht aus ihnen, und Hunderte kleinerer Ortschaften blinken wie Häufchen weißer Kiesel im verblauenden Grund.

Jetzt sind nur noch die höchsten Taunusspitzen hell. Feierabend und Friede weit und breit. Ist es Täuschung, ist es Wirklichkeit, hören wir ferne Abendglocken? – Da flammen in Mainz die ersten Lichter auf – einige Augenblicke später, und im Rhein scheinen die Lichtguirlanden der Uferstraßen und Brücken wieder, die Fabriken von Höchst und der große Bahnhof von Frankfurt heben ihre hellen Leuchten in die weite Nacht, und in Wiesbaden brennt man eben das große Feuerwerk zu Ehren des Kaiserbesuches ab. Wie tief bleiben die steigenden Sterne und Farbengarben unter der Gondel, und ihr Spiel, das von der Stadt aus gewiß ein hinreißendes Schauspiel bietet, ist für uns im Bild der lichterflammenden Städte, die wie blitzende Kronen auf dunklem Kissen ruhen, nur eine bescheidene Episode.

Weit über die elektrisch erleuchteten Orte der Nähe hinaus glänzt [796] noch eine Menge großer und kleiner Lichtnebel auf, die gestirnte Erde überstrahlt mit ihrer Pracht die Sternenwelt des Himmels, und die Myriaden nächtlicher Feuerpunkte erweisen die unermeßliche Zahl der menschlichen Wohnstätten, die sich in den glücklichen Rhein- und Mainlanden drängen.

Die Johanniswürmer der Eisenbahnzüge kriechen und schimmern und die Scheinkäfer der Dampfboote ziehen auf dem immer noch metallisch, ja mit Pfauenfederfarben glänzenden Band des Rheins.

Am Himmel sinkt die Mondsichel gegen ferne Berge, ein sanftes Helldunkel erfüllt die Luft. Wenn das Land auch alle Farben ausgelöscht hat, so erkennen wir doch die Umrisse der Gegenstände auf der Erde fast so scharf wie am Tag – selbst die Wanderer auf den Straßen. Im Tau der Nacht, der sich an ihre Hülle setzt, sinkt die „Wega“, ein frisches Lüftchen regt sich, der Ballon dreht sich wie ein Kreisel um die eigene Achse, er treibt gegen Höchst und Frankfurt und fällt langsam so tief, daß der Guiderope, das Schleppseil, dessen letzte dreißig Meter frei hängen, dann und wann am Boden schleift.

Mächtig wächst und schwillt vor uns das Lichtermeer Frankfurts, seine aufsteigenden Strahlen setzen die Riesenkugel der „Wega“ in Transparenz, und so freudig der Gedanke ist, in der Nähe der Menschen zu sein, so wollen wir doch nicht an den Schornsteinen und Türmen der Stadt hängen bleiben.

„Ein halber Sack Sand über Bord!“ – Wie ein goldener Regenstreif rieselt er in die Tiefe.

Unter uns glotzen die Lokomotiven in die Nacht, stehen die beleuchteten Züge, schallen die brausenden Stimmen des Verkehrs.

Wir fliegen – es ist abends zehn Uhr – über den mächtigen Bahnhof, über das von einem silbernen Lichtduft umhüllte Giebelgewirr der Stadt, wir blicken in die hellerleuchteten Straßen, die wie ein Labyrinth von Lichterkränzen sich um die ragenden dunklen Massen der Häuser schmiegen. Wir sehen die Menge der Spaziergänger und hören das Gesumme ihres Plauderns – ob wohl ein Sternengucker unter den tausend Wandlern ist, ob er den Riesenmond, die von den Bogenlichtern der Tiefe beleuchtete „Wega“, entdeckt?

Nein – sie alle gehen ruhig ihres Weges, und obwohl die „Wega“ in den Vormitternachtsstunden dreimal die Türme und Dächer Frankfurts kreuzte, habe ich nie gehört oder gelesen, daß irgend einer von den paar hunderttausend Einwohnern die kreisende Kugel beobachtet hat.

Die Menschen der großen Städte forschen zum Feierabend nur selten in den Rätseln des Himmels.

Unser junger Wiesbadener aber meint: „Wie reizend säße sich’s dort unten bei einem feinen Diner im Restaurant – –.“ Es ist mir entfallen, welches er nannte.

Als ob nicht auch die Gondel der „Wega“ ein für unsere Bedürfnisse wohleingerichtetes Hotelchen wäre. Es ist zwar nicht einmal zwei Meter lang und kaum anderthalb Meter breit und gleicht mit den zwölf Stricken, die sich über unseren Köpfen in den Ring zusammenziehen, eher einem Vogelkäfig als einem Speisesaal. Aber in einer Ecke ist ein kleines gewähltes Büffett; als Stuhl und Tisch dienen die Sandsäcke, über die wir Teppiche gebreitet haben. Und Kellner sind wir uns selbst.

Auch die Luftschiffer leben nicht von Luft. Hell klingen die Rheinweingläser! – Es ist etwas Königliches um ein Abendbrot im Ballon.

Von Frankfurt treibt das Luftschiff in jene bergumwallte Bucht der Mainebene hinein, in der die Städtchen Homburg, Oberursel, Königstein und Soden am Rand des Taunus liegen.

In diesem Kessel geraten wir in eine merkwürdige sanfte Rundströmung der Luft. Die „Wega“ fährt mit uns, als sei sie an einem Faden geheimnisvoll festgehalten, als seien wir verzaubert und gebannt in diesen Kreis, die dunklen Berglehnen entlang über Homburg, Höchst und Frankfurt wie ein Karussell, und wir grüßen die Schlösser von Cronberg und Königstein, die wie Burgen des Märchens stumm und starr in die Nacht ragen. Die Mondsichel sinkt im Westen hinter eine Wolkenbank und die Finsternis nimmt überhand. Tief gleitet der Ballon, von dem der Tau niederrieselt, über die pechschwarze Gegend.

Auf einer Straße unter uns gehen zwei Männer – sie unterhalten sich lebhaft – wir verstehen jedes ihrer Worte:

„Leichtsinnig ist die Hansel, die fällt ’rein!“ versetzt der eine, worauf der andere ebenso eifrig erwidert: „Die fällt nicht ’rein, sie scherzt nur, sie nimmt ihn aber nicht.“

Wer mag die scherzhafte Hansel sein?

Wir rufen den Plaudernden „Guten Abend!“ zu, doch hören sie uns nicht, denn die menschliche Stimme, die leicht nach oben steigt, geht nur schwer in die Tiefe.

„Ein wenig Sand auf ihre Hüte!“ – Und siehe da, vor dem rauschenden Regen verstummt ihr Gespräch – sie bemerken das Ungeheuer, das scheinbar nur haushoch über ihnen durch die Nacht fliegt – sie flüchten sich mit einem Schreckensruf, als greife der Teufel nach ihren armen Seelen – sie stehen still – sie pfeifen durch die Finger – das nahe Dorf wird lebendig. „Ein Ballon! – ein Ballon!“ schallt’s herauf, und einige rufen: „Bitte, steigen Sie doch bei uns ab – wir helfen Ihnen gern!“

Allein, ehe wir uns die freundliche Einladung überlegt haben, eilt die „Wega“ davon in schlafende Gegenden. Die Mondsichel ist untergegangen, mählich erlöschen die Lichter der Städte, die roten Punkte im Lande vergehen, nur der Bahnhof von Frankfurt steht wie eine irdische Sonne in der Nacht.

Unter uns rauschen die dichten Hochwälder des Taunus leis und feierlich; oft berührt nicht nur unser Schleppseil, oft streift selbst unser Korb die Wipfel der Forste, er wiegt sich darauf wie ein Boot auf den Wellen und unter uns bricht das aufgeschreckte Wild durch die Stämme, die dürren Aeste brechen unter seinen Hufen, und röhrend schreien die Tiere vor Angst.

Auf fernen Türmen schlagen die Glocken Mitternacht.

Mit einer Saat von Sternen, wie man sie sonst nur in einer Winternacht oder im Hochgebirge erschaut, funkelt der Himmel, wie Silberrauch zieht sich die Milchstraße hin am blaudunklen Firmament. Die Lichter, die noch auf der Erde glühen, sind leicht zu zählen. Was deuten sie? – Dort sitzt vielleicht eine Mutter am Bett ihres kranken Kindes und lauscht seinem Atem – dort säumt noch ein Liebespaar in seligem Traum und schmiedet Pläne des Glücks – beim dritten Licht vielleicht hockt ein einsamer Autodidakt über seinen Studien.

Die Phantasie ist rege in der Nacht, weit, weit geht der Gruß der Gedanken.

In der Finsternis schreibe ich Postkarten mit Freundesadressen in aller Welt. Ihrer sechzehn fliegen aus dem Korb hinab auf Wald und Feld.

Und ihr Schicksal? Fünfzehn sind von freundlichen Findern zur Post gegeben worden und haben, die einen überraschend schnell, die andern erst nach Monatsfrist, ihr Ziel erreicht.

Die Antwort aber, die nach einigen Tagen auf eine dieser Karten kam, erschütterte mich wie selten ein Ereignis.

„Lieber Freund!“ lautete sie. „In der Nacht, wo Sie Ballon gefahren sind und unter den sonderbarsten Umständen an mich gedacht haben, habe ich die Leiche meiner lieben jungen Frau, die Sie auch gekannt haben, aus dem Spital zu Z., wo sie plötzlich gestorben ist, über den Flüelapaß in die Heimat geführt.“ – – –

Diese Karte kam aus dem Engadin.

So ist das Leben! Der eine jagt fröhlich durch den Himmel und der andere sinkt vor Leid fast in die Erde.

Langsam zerrinnt im Ballon Viertelstunde um Viertelstunde. Auf den Ballastsäcken sitzend, die Teppiche über die Knie gezogen, plaudern wir – wir plaudern von frühern fröhlichen Fahrten. -Die Nacht wird kühler – ich ziehe die Pelerine des Mantels über den Kopf – „nur ein wenig nicken,“ denke ich in wohliger Müdigkeit – und höre noch die Stimme des Kapitäns, der meinem Begleiter ein Abenteuer aus Aegypten erzählt. – Dann höre ich sie nicht mehr.

Drei Stunden habe ich im Ballon fest geschlafen, deutlich erinnere ich mich an das Erwachen.

„Du bist nicht zu Hause,“ sage ich mir, „du bist irgendwo auf einer Reise! – Aber in welcher Stadt, in welchem Hotel?“ Ich durchgehe alle Orte, die ich in den letzten Tagen besucht habe. [798] Da fällt mir Wiesbaden ein – und plötzlich kommt es mir: „Du bist im Ballon, du hast im Ballon geschlafen!“

Angenehm war mir die Entdeckung gewiß nicht, ein irdisches Gemach, wo ich mich noch einmal hätte wenden können, wäre mir in diesem Augenblicke lieber gewesen als das immerhin nicht gewöhnliche Abenteuer, die freien Lüfte zum Kopfkissen genommen zu haben.

Im dünnen Strom des ersten Morgenlichts stehen meine Genossen am Korbrand.

„Du bist der einzige, der mir je auf einer Fahrt eingeschlafen ist,“ lächelt der Kapitän.

„Haben Sie keine Nerven?“ fragt der Wiesbadener, der vor Uebernächtigkeit blaß wie eine Leiche ist.

„Versuchen Sie’s – nur eine Viertelstunde Schlaf wird auch Ihnen wohl bekommen!“

Und nun nickt auch er ein.

„Wo sind wir?“ frage ich den Kapitän.

„Ja, das weiß ich selbst nicht, aber aus dem Taunus wenigstens sind wir schon lange glücklich heraus. Der Ballon geht gut.“

Im fahlen Licht des Morgens, unter reinem hellblauen Himmel dehnt sich in weiten niedrigen Wellen eine herrliche Waldlandschaft, ein Meer von Wipfeln, das von Oasen wohlbestellter Felder unterbrochen wird. In leichten Thalfurchen schimmern mattsilberne Fäden von Bächen, stille Gehöfte und Dörfer, in denen das Leben noch nicht erwacht ist, ducken sich in die Falten des Hügellandes. An den Rändern der Wälder äsen die Rudel der Rehe, Hirsche heben schnuppernd ihr stolzes Geweih und der langgezogene blökende Ruf ihrer Kälber ist der einzige Laut in der großen Morgenstille. Wo sind wir? – Die niedrige Kette des Taunus am fernen Horizont, Bussole und Landkarte weisen es uns.

Die „Wega“ zieht über Oberhessen.

Sonnenaufgang! – Aus einer schwachen Röte des Horizontes rollt die Kugel frei und stolz empor. Wie eine Flamme fliegt der erste Strahl über den Taffet und das Tauwerk des Ballons; es ist, als brenne er, seine Wölbung strahlt, als sei sie eine riesige Sonne, und die Seile, an denen der Korb hängt, erflimmern wie in eigenem Licht.

Wo ein Dorf, wo ein Schloß auf leichter Anhöhe steht, erglüht es rosenrot, die Wälder, die wie große Schatten auf der Landschaft lagen, leuchten grüngoldig auf, die Welt schmückt sich mit Farben, die Thäler und Berge treten mit überraschender Schärfe ins Relief.

Herzlich erfreuen wir uns an dem wärmenden Strahl, denn während der Nacht ist die Luft empfindlich kühl geworden.

Wie eine Landkarte, die sich langsam auf wagerechten Bändern entrollt, gleiten die Gegenden unter uns dahin, wir blicken auf die Stadt Gießen, auf die romantischen Schlösser an der Lahn und auf das alte Wetzlar, das die Erinnerung an Goethe weckt. Bei einem der Dörfer, die da unten im Sonntagsmorgenfrieden träumen, bei Garbenheim, liegt wohl noch das Gehöft, wo Werther seine Lotte zuerst sah, „ein Mädchen von schöner Gestalt, mittlerer Größe, die ein simples weißes Kleid mit blaßroten Schleifen an Arm und Brust anhatte. Sie hielt ein schwarzes Brot, und schnitt ihren Kleinen rings herum jedem sein Stück nach Proportion ihres Alters und Appetits ab.“

Litterarische Reminiscenzen im Luftballon! – Rasch decken die wechselnden Bilder die Erinnerungen aus der Schulbank.

Das Leben erwacht im tiefen Land, ein Lokomotivenpfiff gellt vom Silberfaden der Lahn empor, die Frühglocken erklingen, da und dort steigt über einem Dach ein blaues Räuchlein in die Luft, an den Dorfbrunnen tränken die Bauern ihr Vieh und vor einer Mühle steigen Müller und Müllerin zur Sonntagsfahrt in den bespannten Wagen.

Auch unsere „Wega“ schüttelt die Starrnis der Nacht von sich. Die Sonne hat den Tau, der sich reichlich an ihre Hülle gesetzt, aufgesogen, in der steigenden Tageswärme spannt sich knisternd der schlaffe Taffet, und fauchend entweicht eine Menge überschüssigen Gases als blauer Rauch aus der unteren Oeffnung des Ballons.

Wie steigt das Schiff, das die ganze Nacht mit mattem Flug über die Landschaft dahingeschlichen ist! Ohne unser Dazuthun hat die „Wega“, von der Sonne gestärkt, die Kraft eines Adlers erlangt.

Die Nähe taumelt zurück, die Aussicht spannt die Schwingen.

Und Plötzlich flüstert der Kapitän: „Wir sind bereits dreitausend Meter überm Meer!“

Unermeßlich ist im Sonntagsmorgenglanz der Gesichtskreis; uns ist, wir überblicken ganz Deutschland, weit über Taunus und Thüringerwald gleiten die Augen hinaus, und unwillkürlich spähen wir in die Fernen, ob wir nicht das Silberband des Meeres oder die Silberstirnen der Alpen zu erschauen vermögen.

Unendlich aber dehnt sich nur das in breiten Wellen schwimmende Land – Mitteldeutschland, mit hundert flimmernden Städtepunkten, aber fast ohne Linien – nichts als eine von den blauen Tönen der Luft gedämpfte Riesenlandkarte.

Und immer noch sinkt das Aneroid – steigt die „Wega“ rasend – minutenlang ziehen wir die Ventilleine – das Gas rauscht aus dem Ballon – aber im nächsten Augenblick strafft er sich schon wieder unter der Wirkung der Sonne, die als eine weißglühende, augenversengende Kugel im Osten steht – die „Wega“ steigt zum indigoblauen Himmel!

Sie trägt mit allem, was an ihr ist, ein Gewicht von rund 1600 Kilo. Ihre Hülle wiegt 500 Kilo, das Netzwerk und die übrigen Teile, Ventil, Korb und Anker, wieder so viel, wir haben noch 15 Säcke Ballast zu 25 Kilo und wiegen selbst, alle drei zusammen, über 200 Kilo.

So schwebt sie im Morgenstrom des Lichtes.

Wir nähern uns den viertausend Metern, wir nähern uns der Höhe der „Jungfrau“.

Schon in dieser Höhe überfällt die Pilger der Luft ein Heimweh nach der Erde, ein Gefühl grenzenloser Verlassenheit. Nichts spürt man als die Weite des Raums; das Aussichtsbild aber fesselt das Auge kaum mehr, denn mit ausgelöschten Farben, wie ein weites Feld, über das der Brand gegangen ist, liegt die Welt unter uns, die kaum mehr erkennbaren Dörfer, die Hügel, alles ist in den Boden gedrückt, kein Wald errauscht, kein Ton erklingt und in der gräßlichen Stille schleicht der Gedanke in die Brust: So wird die Erde in jenen fernen Jahrhunderttausenden sein, wo das Leben auf ihr erstorben ist, wo die Menschheit mit ihrer Ehre und ihrer Schmach in vergessenen Gräbern ruht, das brennende Auge der Sonne umsonst über die schwarzen Gegenden blickt und in der Wüste kein Lächeln und keine Thräne mehr findet.

Eine Ballonfahrt in beträchtliche Höhen bestätigt eine Erfahrung aus den Alpen. Auf dem Rigi lacht das Bild der Landschaft freundlicher als auf der Spitze der Jungfrau, und wer nur um des poetischen Genusses willen in eine Ballongondel steigt, der kommt, soweit es sich um das Ausgenießen der Landschaft handelt, in mäßigen Höhen leichter auf seine Rechnung als in den Hochlüften des Adlers und Condors.

Es ist empfindlich kalt, das Thermometer zeigt nur noch wenige Celsiusgrade über Null, unser junger Begleiter ist totenblaß, und ich selbst spüre, was ich bei anderen Fahrten in noch bedeutendern Höhen nicht erfahren habe – einen beklemmenden Mangel an Luft. Die Strapazen der Nacht mögen daran schuld sein.

Wir beraten ernstlich über den Abstieg, obwohl die für Wasserstoffgas gefirnißte „Wega“, durch deren Hülle das Leuchtgas kaum entweicht, mit dem Ballast, der uns übrig geblieben ist, Tragkraft genug besäße, uns noch den ganzen Tag über das Land hinzuführen.

Zur Vorbereitung des Abstieges wollen wir den faustdicken Guiderope, das Schleppseil, der jetzt nur 30 Meter unter den Korb reicht, in seiner ganzen Länge von 80 Metern aus der Gondel in die freie Luft hinunter entrollen, damit er, wenn wir in die Nähe der Erde gelangen, den Lauf des Ballons verlangsame.

Da stoßen wir aber auf ein hartes Stück Arbeit.

Die Nebenseile des Guiderope und die Haken des eisernen Ankers haben sich unterhalb des Korbes verwickelt und müssen auseinander gelöst werden. „Halte du den Anker, so weit du kannst, ich klettere aus dem Korb!“ Der Kapitän schwingt sich aus der Gondel und hängt mit seiner Linken an einem Henkel, [799] der sonst zum Transport des Korbes dient, frei in der Luft. Mit dem gebogenen Griff eines Schirms, den er in der Rechten hält, löst er die Stricke aus den Haken. Ein sonderbares Bild auf 3800 Meter Meereshöhe.

Anderthalb bis zwei Minuten dauert das Abenteuer, aber ich möchte sie nicht wieder erleben. Der Mann, der da unten schwebt, hat vor Arbeit 48 Stunden nicht mehr geschlafen, und ich spüre es in meinen Armen und auf der Brust – die 40 Kilo, die der Anker wiegt, sind in dieser Höhe ein entsetzliches Gewicht.

Ist aber auch nur der eine schwach, so ist es fast sicher der Tod aller dreie.

Jetzt ist der Ballon zum Abstieg bereit – doch was für ein wunderbares Schauspiel bietet jetzt die Erde. Als seien sie aus dem Boden gestiegen, haben Scharen silberner Lämmer sie bedeckt, die an den Flußläufen ziehen. Sie verdichten sich, sie schließen sich zusammen, wir schweben über einem Nebelmeer, wie über einem frisch aus Silber getriebenen Teller, über einem lichten Ocean, aus dem noch einige dorf- oder burggekrönte Hügel wie Inseln ragen.

An manchen Stellen ist aber der Flor so dünn, daß wir das darunter liegende Land noch wie eine halb ertrunkene Welt erkennen und die Umrisse der Gegenden wie eine blasse Wasserzeichnung in den Wolken erscheinen.

Und nun geben wir uns doch noch eine Weile den Bildern dieses schönen Fabelreiches hin.

Tief unter den Nebelflächen und tiefer als die Bilder der Erde wandelt ein zweiter Ballon, das Spiegelbild des unsrigen, das mit ihm durch eine lange senkrechte Schnur, den Guiderope, verbunden scheint.

Immer bilderprächtiger werden die Wolken! – Jetzt ist der ganze Horizont eine merkwürdige schöne Arena, ein aus Nebelspinnweb gebautes Kolosseum von vollendeter Symmetrie, und die unermeßliche Rundung erscheint wie mit Seidentüchern ausgeschlagen, die ohne spürbaren Uebergang vom Blaudunkel der Tiefe zu einem rosadurchhauchten perlmutternen Rand aufsteigen. Auf der Brüstung dieser Arena sitzen da und dort wie die Silberäffchen einer Menagerie weiße kleine Wolken und staunen in den Himmel, dessen Kuppel sich in azurenem Sammet wölbt.

Allmählich füllt sich die Luft unter uns mit vereinzelten Wolken, die über das halb durchsichtige Nebelmeer der Tiefe wie weiße Segel über einen See hinwegziehen und in reizenden Regenbogenfarben erglühen.

Wir schweben über ein stilles, glanzerfülltes Märchenland, das kein Wort zu schildern fähig ist.

Jetzt ist die Täuschung vollkommen, daß wir – wie der arme verschollene Andree – über den Landschaften des Nordpols treiben. Da giebt es Gletscherküsten mit blauschillernden Abbrüchen, gefrorne Felder, auf die man aussteigen möchte, um Schlittschuh zu laufen, in blauen offenen Buchten treiben Eisberge und mächtige Schollen türmen sich im Spiel eines leisen Windhauches.

Jedes Fächeln der Luft ruft eine Revolution hervor unter den leichten Gebilden.

Die weite See schäumt auf, es strudeln Katarakte, weiße Berge zerfließen, andere erbauen sich und umfangen uns plötzlich, als wäre die „Wega“ in eine Gletscherspalte geraten; ja sie schließen uns wie eine Halle ein, durch die das Licht der Grotte von Capri flutet. Im nächsten Augenblick steckt der Ballon im kalten feuchten Nebelgrau, wir lassen ihn ein wenig steigen, da dämmert von oben das Licht, und die Sonnenstrahlen, die durch einen Wolkenriß leuchten, werfen den Schatten der „Wega“ riesengroß an eine Nebelwand. Wir grüßen das Ballongespenst, das auf einem weißen Wolkenhintergrund mit unsern eigenen ins Gigantische verzerrten Gestalten, von einem großen Regenbogenkreis, dem Heiligenschein der Luftschiffer, umgeben, auf- und niederhüpft. Wir recken einen Finger, da langt aus dem Schattenkorb ein Riesenarm, wir lachen über das tolle Spiel – und horch – die Wolkenwände werfen unsere Stimmen zurück – ein kleines Lied – nahe und ferne hallt es wieder, als wären hundert Sänger in den Wolken verborgen! Meer und Alpen, Unter- und Ueberirdisches erlebt sich in dem Märchenland.

Plötzlich aber lacht durch einen gewaltigen Riß wieder die sonnige, wirkliche Welt.

Ueber zwölf Stunden sind wir nun Ballon gefahren. Was für eine Strecke wir aber über den Wolken zurückgelegt haben, wissen wir nicht, wir haben jede Orientierung verloren und die Gegend unter uns kennen wir nicht. Auf einer freundlichen Höhe schimmert ein altertümliches Städtchen. Von ihm her und aus den Dörfern der weiten Umgebung erklingen die Glocken, die zum Morgengottesdienst rufen. Vor dem Städtchen, dem wir entgegenfahren, liegt ein breites, frisches Wiesenthal, durch das sich an einem Weiler vorbei ein Bächlein schlängelt.

Die Uferwiesen wären ein prächtiger Landungsplatz. Und nun ist es die eigenartige Geschicklichkeit Spelterinis: aus entlegener Höhe wählt er die Stelle, wo sein Ballon landen soll – und an der Stelle, die er ausgelesen hat, landet er.

Die Wiese neben dem Weiler!

Durch das weit geöffnete Ventil lassen wir das Gas, die Lebenskraft der „Wega“, strömen, daß ihr Riesenleib aus der Kugelform in eine schlanke Birne zusammenfällt. Sie stürzt – die Erde fliegt uns entgegen, die Gegend wird plötzlich nachbarlich.

Ehe wir uns versehen, steht die „Wega“ so tief über den Dächern des Dörfchens, daß der Guiderope sie schon berührt.

Ballast, den wir auswerfen, mäßigt den Fall. Aus den Häusern kommen schreiend die überraschten Bewohner geeilt. Wir rufen ihnen zu: „Bitte, ergreifen Sie das Seil und ziehen Sie uns dort auf die Wiese!“

Einen Augenblick der Verwirrung noch, dann verstehen sie unsern Wunsch – und mit „Hurra!“ leiten uns dreißig oder fünfzig Leute auf den günstigen Landungsplatz.

„Bitte, zeigen Sie uns aber die Maschine, die da drinnen verborgen ist!“ ruft ein steinalter Mann und weist auf die Seide der „Wega“.

„Da ist keine Maschine drin,“ erklärt ein anderer, „vor Paris haben wir einen niedergeschossen – ja, das haben wir – da war er nur Zeug und Luft!“

Uns interessiert am meisten, wo in der Welt wir eigentlich sind.

„Unser Dörfchen heißt Holzhausen an der Efze und das Städtchen auf der Höhe ist Homberg bei Kassel!“

Es war eine schlichte, einfache Bevölkerung, unter die wir bei unserer glücklichen Landung traten, geschwärzte Arbeiter aus einem nahen Eisenhüttenwerk und sonnverbrannte Bauern, viele von ihnen nur in Hose und Hemd und barfuß. Aber wir widmen ihrer Hilfsbereitschaft, ihrem verständigen Zugreifen beim Leeren und Packen der „Wega“, der bescheidenen Art, wie sie die angebotene Entschädigung annahmen, eine freundliche Erinnerung.

Während sie mit dem Kapitän am Werke waren, ergoß sich von Homberg herunter ein Strom von Neugierigen, die die „Wega“ hatten aus den Wolken sausen sehen, und ihre Hülle war schon längst in den Korb verpackt, als aus der weiten Umgebung die letzten, die den Abstieg des Ballons bemerkt hatten, auf dem Platz erschienen.

Mit welchem Wonnegefühl betritt man nicht nach einer zwölfstündigen Ballonfahrt die mütterliche Erde! – Am glücklichsten war wohl unser junger Wiesbadener, der seine Wette – ich glaube, es handelte sich um etliche Flaschen Champagner – mit Schmerzen gewonnen hatte.

Im Verhältnis zum Zeitaufwand ist der Weg, den die „Wega“ damals zurückgelegt hat, ein überaus kurzer, denn Homberg liegt von Wiesbaden in gerader Linie nur etwa 150 Kilometer entfernt.

Aber ein großes Erlebnis für die Teilnehmer ist die Fahrt doch! – Sie zählt zu den erhebenden Stunden des Lebens, wo die Seele den Staub aus den Schwingen schüttelt! J. C. Heer.