Textdaten
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Autor: F. H.
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Titel: Ein sonderbarer Postillon
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 37, S. 623
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[623] Ein sonderbarer Postillon. Der „Post-Engel“ in Nr. 29 der Gartenlaube hat mich an eine jener alten Postverwalters-Familien erinnert, die in der Heimath der „Erbförster“ keine Seltenheit waren und sich eben falls Erbposter hatten nennen dürfen.

In einem thüringischen Städtchen ist die Posthalterei sogar noch heute in der Hand eines Nachkommen der Großmutter, von der ich erzählen will und deren Eltern schon in demselben alten Steingebäude mit dem großen Thor und den niedrigen Fenstern dasselbe Amt verwaltet hatten.

Die Reisenden, welche hier aus dem Post- oder Extrapostwagen stiegen, um in der Poststube die Zeit des Umspannens abzuwarten, hatten während einer ziemlichen Reihe von Jahren Gelegenheit, sich über die Abwesenheit von allem männlichen Postpersonal am Schalter und Schreibtisch zu verwundern.

Der Gatte der Großmutter hatte gleich in seinen ersten Ehejahren seine Frau in die Amtsgeschäfte eingeweiht. Er war kein Freund von der Federarbeit und sah die Aufsicht über Pferde, Stall und Postillon, sowie die Leitung seiner großen Ökonomie für eine manneswürdigere Aufgabe an, als die Schreiberei. So war die Frau Posthalterin installirt und besorgte als junge Frau und Mutter das Amt so lange, bis sie sich selbst wieder Töchter groß gezogen hatte. Von da an hatte immer die älteste Tochter zu amtiren, die jüngeren waren ihre Gehülfinnen und Großmama führte die Oberaufsicht. Als die älteste Tochter in den heiligen Ehestand trat, folgte die nächste ihr im Amte nach, und ehe noch die jüngste den selben Weg ging, hatte der Sohn, den man dem alten Herrn auf sein Gesuch als jungen Postverwalter beigab, auch eine junge Frau Postverwalterin in’s Haus gebracht, und Beide traten ganz genau in die Fußstapfen der Alten. Und schon half eine Enkelin mit am Schalter und Schreibtisch, aber noch immer war die Großmutter stramm auf ihrem Alles überwachenden Posten.

Das war aber auch eine Frau, die alte Frau Postverwalterin. Sie brauchte nur in Stall, Küche oder Stube zu erscheinen, die große, breite, handfeste Gestalt mit dem schönen Matronengesicht unter der weißen Haushaube, dem Feldherrnblick im Auge und dem stets scharf geladenen Mundwerk, so ging Alles wie am Schnürchen und etwaiger Uebermuth selbst der kecksten Gäste kroch in die gebührenden Schranken zurück. Und wenn sie gar im Sonntagsstaat aus dem Hausthor herausschritt, die hohe Haube mit dem goldglänzenden Haubenfleck und den langen seidenen Bändern wie einen Helm auf dem Haupt und auf demselben mit dem schwarzen Seidenband wie mit einem Sturmband befestigt, ferner den langen blautuchenen Mantel umgehangen, dessen gezackter Kragen mit zwei Finger breiten Goldborten besetzt war, auftretend auf festen Schuhen mit silbernen Schnallen, und in der Hand das Gesangbuch und den Kirchenstrauß, – dann hatten auch noch ganz andere Leute, als die Postillone und Taglöhner ihres Hauses, Respect vor der alten Frau Postverwalterin.

Ihr „Alter“ war „täppelig“ geworden, aber sie hielt es in Arbeit und Lebensmuth noch mit mancher Jungen aus, und davon sollte sie in ihren alten Tagen noch ein stattliches Pröbchen liefern. Es war zur Kirmeszeit, die bekanntlich in vielen Gegenden Thüringens in den Spätherbst fällt; da war gleich am Nachmittage das ganze junge Volk auf die nächsten Dörfer zu Schmaus und Tanz gegangen. Das weibliche Postpersonal that seine Schuldigkeit, die am Abende eintreffende gewöhnliche Post war besorgt, und mit ihr der letzte Postillon des Hauses davongefahren. Da bläst es aus der Ferne und rasselt von der Chaussee auf das Straßenpflaster herein, – muß das Schicksal gerade heute und jetzt eine Extrapost daherführen!

Das junge weibliche Postpersonal ist außer sich. Extrapostpassagiere durfte man nicht allzulange warten lassen, die nächsten Kirchweihdörfer, von wo man die Postillone hätte holen müssen, lagen wenigstens halbe Stunden weit entfernt, und in der ganzen Nachbarschaft wohnte kein Mann, der mit Pferden fahren konnte. Der Wagen näherte sich schon dem Hause, und noch wußten die jungen Damen sich nicht zu rathen und zu helfen. Da rannten sie, aber Alle, in ihrer Angst zur Großmutter in’s obere Stübchen.

Trotz des Durcheinanders von drei gleichzeitigen Berichterstatterinnen war die „Alte“ sofort im Klaren; aber statt des erwarteten Schreckens zeigte sie eine unbegreifliche Heiterkeit.

„Ist das ein Unglück! Herrjele! – O Ihr dummen Dinger! Deshalben braucht man noch lang kein Hirsch zu werden und vor Angst davon zu laufen. Jetzt geschwind an’s Zeug! Ihr Zwei haltet mir die Passagiere hübsch in der Stube und Du gehst mit mir in den Stall.“

So geschah’s. Die Enkelin leuchtete der Alten mit der großen Stalllaterne. Erst brachte sie die Pferde in Ordnung und legte ihnen das Geschirr auf, dann zog sie den Mantel ihres Mannes an, setzte den ihr passendsten Postillonshut auf, hängte sich das Posthorn um und griff zur Peitsche. Zu der vor Schrecken über „so was“ halb versteinerten Enkelin aber sagte sie: „Daß Du mir den Schnabel hältst! Jetzt leucht’ mir zum Anschirren, dann fort mit der Laterne, aber nicht eher in die Stube, bis ich das Zeichen geblasen habe. In drei Stunden bin ich wieder da. Stellt mir eine tüchtige Biersuppe zurecht.“

Die Dunkelheit war stark genug, daß nachbarliche Neugierde die Maskerade nicht entdecken konnte. Rasch und sicher war angeschirrt und ehe sich’s die Enkelin versah, saß die Großmutter auf dem Bock, und nun kam die Hauptüberraschung: sie blies das Signal zum Einsteigen so rein und richtig, daß man vermuthen mußte, sie habe das Horn nicht zum ersten Male am Munde gehabt.

Die „Herrschaften“ stiegen ein, der Wagen rollte fort und hell erklang das Posthorn, ein Zeichen für den Chaussegeld-Einnehmer, den Schlagbaum aufzuziehen – während daheim in der Poststube Erstaunen und Angst über das Wagniß der Großmutter die gesamten Vice-Postverwalterinnen in ungeheure Aufregung versetzte und sie bald vor das Thor, bald an die Fenster trieb.

Desto rühriger saß die Großmutter auf ihrem Postillonsthron. Peitsche und Zügel waren in guter Hand, das spürten die Pferde und liefen darnach. Der Großmutter stieg aber auch der Schalk im noch immer frischen Herzen auf; sie blies durch jedes Dorf ein Stücklein aus ihrer lustigen Jugend. Das mag manchen alten Bauern in seinem Bett an seine schönste Zeit erinnert haben. Und weil dieser „Schwager“ keinen überflüssigen Durst hatte, folglich vor keinem Wirthshaus Halt machen mußte, so gelangte der Wagen rascher als je zur Stadt mit der nächsten Poststation.

Auch hier wußte die resolute Frau ihr Incognito zu wahren, nachdem sie noch eine „heimliche Freude“ erlebt hatte. Die Passagiere hatten nämlich nicht umhin gekonnt, dem braven Schwager für rasche Fahrt und schönes Blasen ein ansehnliches Trinkgeld in die Hand zu drücken. Das Lachen darüber, das sie verbeißen mußte, drückte ihr fast das Herz ab. Sie ersah den Augenblick, wo die „Herrschaften“ in das Postlocal eingetreten waren, vom Bock herabzukommen, schirrte eiligst ihre Pferde ab, der Eckstein am Straßeneck half ihr, sich in Fuhrmannsweise auf ihr Sattelpferd zu setzen – und fort ritt sie, ohne weitere Formalitäten zu beachten, wieder zum Thor hinaus und auf den Heimweg. Im Freien aber schüttelte der Uebermuth das verstopfte Lachen aus ihr heraus und sie klimperte seelenvergnügt mit den Geldstücken dazu, die sie sich als Postillon verdient hatte.

Um Mitternacht erlebte die Postverwalterei die Freude, die Großmutter von Fahrt und Ritt glücklich zurückkommen zu sehen. Und weil’s ihr so wohl gefallen hatte, ließ sie keinen der kirmestollen Postillone strafen, sondern war stolz auf ihr Wagestücklein ihr Lebenlang.

Jetzt sagt man: „Ja, das war sonst. Da gab’s auch andere Leute!“ Aber das ist nicht wahr. Wie manche stattliche Thüringerin habe ich schon gesehen in Städten und auf dem Land, bei deren Anblick ich freudig ausrief: „Das gäbe auch so eine richtige alte Postverwalterin!“
F. H.