Textdaten
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Titel: Ein moderne Manie
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 39, S. 667
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[667] Eine moderne Manie. Wir haben in Nr. 3 dieses Jahrgangs Mittheilungen über die „Geschichte der öffentlichen Vorträge“ gemacht und das Verdienstliche derselben hervorgehoben; doch diese Vorträge haben auch ihre Schattenseite, wie das Ferdinand Groß in seinen pikanten „Blättern im Winde“ hervorhebt. Er spricht von einer täglich zunehmenden Manie. „Fast jeder will vorlesen. Die Wahl thut einem weh, so mannigfaltig sind die sich darbietenden Genüsse. Litteratur, Malerei, Bildhauerei, Politik, Naturwissenschaft, Philosophie, Gesundheitspflege – kein Gebiet menschlichen Wissens und Erkennens fehlt in dem Verzeichnisse; sogar Vorlesungen über die vierte Dimension sind nicht ausgeschlossen.“ Gewiß muß man zwischen Vorlesungen und Vorträgen unterscheiden; für den Vorleser steht der Stoff oben an, für den Vortragenden die Form. Ohne Frage entspricht es den Mustern des ehrwürdigen Alterthums, wenn der Dichter selbst sein Werk vorträgt wie Homer und die andern Rhapsoden; doch dann muß ihm auch die Gabe des Wortes verliehen sein, wie das bei Wilhelm Jordan zutrifft, bei Charles Dickens u. a. der Fall war. Dagegen gab es große Dichter, die, wie Schiller, schrecklich.waren, wenn sie poetische Dolmetscher ihrer Muse sein wollten; bekannt ist, wie dieser bei einer Vorlesung seines „Fiesco“ mit seiner Dichtung eine höchst traurige Wirkung hervorrief.

Die meisten Dichter lesen mangelhaft und die feinsten Wendungen fallen bei nicht genügender Nüancirung unbeachtet zu Boden. Ebenso kann aber auch die gewinnende Persönlichkeit eines Poeten leicht über den Unwerth seiner Dichtung täuschen. Ob der Vorleser im Augenblicke wirklich erfindet, schafft oder nicht, ist gleichgültig, wenn er nur zu schaffen, zu erfinden scheint. Saint Beuve vergleicht den Vorleser mit einem Führer, der einen auf eine Bergspitze geleitet und, sobald die Sonne aufgeht, die beleuchteten Höhen aufzählt und nennt. Ob der für Vorlesungen Begabte sein Manuskript liest oder Notizen zu Rathe zieht oder gänzlich frei spricht, ist gleichgültig; Gutzkow konnte sich nie entschließen, öffentlich zu lesen, weil er wußte, er sei nicht im Stande, den Schein einer Improvisation hervorzubringen. Viktor Hugo las öffentliche Reden von Papierbogen ab, auf welchen zollhohe Buchstaben, weithin sichtbar, gemalt waren. Groß erklärt, daß ihm der Gelehrte oder Schriftsteller am Vorlesetisch lieber ist als der Schauspieler, aber auch nur dann, wenn er twas Neues und zwar in einer Form zu sagen weiß, welche die Zuhörer glauben macht, das Vorgebrachte oder ein Theil desselben sei nicht am Schreibtisch ausgeheckt worden, sondern falle als eine Frucht der Begeisterung dem Hörer in den Schoß.

Die geistreichen Bemerkungen von Ferdinand Groß lassen sich vielfach ergänzen. Die Vorträge sind eine Modesache geworden. Liest ein Dichter vor, der Ruf hat, so kommt die Damenwelt, nur fein Porträt nicht bloß in effige anzuschauen. Bei wissenschaftlichen Vorträgen, die doch alle ihren Gegenstand nur streifen können, sucht ein Theil des Publikums einen gewissen Schein und Firniß von Bildung zu gewinnen, sich auch bildungsdurstig zu zeigen. Wohl aber fehlt es glücklicherweise auch nirgends an einem Publikum, das sich von dem dichterischen Werke begeistern läßt und aus dem wissenschaftlichen Vortrag die Anregung schöpft zu eigenem Forschen und Studium.
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