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Titel: Ein greiser Gelehrter
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aus: Die Gartenlaube, Heft 8, S. 703
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[703] Ein greiser Gelehrter. Wer hat nicht die ungebrochene Kraft bewundert, mit welcher Kaiser Wilhelm I., der demnächst das neunzigste Lebensjahr erreicht, allen Regierungsgeschäften obliegt? Vor Kurzem erst ist der große Geschichtschreiber Leopold von Ranke gestorben, der noch über das neunzigste Jahr hinaus als Forscher und Schriftsteller thätig war und aus dem Leben abberufen wurde, als er mitten in der Arbeit war und seine an großen Gesichtspunkten reiche „Weltgeschichte“ mit dem Fleiße eines Jünglings von Band zu Band weiter führte. Auch ein anderer Historiker, der sich besonders durch seine „Geschichte der Hohenstaufen“ einen Namen gemacht, Friedrich von Raumer, war über neunzig Jahre alt geworden.

Paris hat neuerdings den hundertsten Geburtstag eines Gelehrten gefeiert, welcher noch immer mit wunderbarer Rüstigkeit sich in dem Kreise einer Fachwissenschaft bewegt, der er bereits in jungen Jahren seine Thätigkeit zugewendet hat. Das französische Institut, die Gelehrten und Industriellen von ganz Frankreich haben seinen Geburtstag gefeiert; eine Festvorstellung in der Großen Oper, Bankette, Fackelzüge, Feuerwerke fanden ihm zu Ehren statt. Chevreul, der schon im Jahre 1815 Professor war, wie er es heute noch ist, der seit siebzig Jahren als Mitdirektor der berühmten Gobelins-Manufaktur, als einer der Vorstände des naturhistorischen Museums im Amt geblieben, war gewiß in weiten Kreisen bekannt, aber der Held einer volksthümlichen Feier konnte er doch nur werden, als er bei lebendigem Leibe sich auf das Piedestal eines Säkularhelden stellte. So kann das Alter schon um seiner selbst willen hohe Ehren einbringen. Wer erinnert sich nicht an die großartige Wiener „Grillparzer-Feier“? Wäre der Dichter der „Sappho“, der stille Tischgast des Matschacker Hofs, der in seinem vierten Stockwerke hypochondrisch über dem Undanke der Mitwelt brütete, gestorben, ehe er das achtzigste Lebensjahr erreicht: er wäre immerhin ein halb vergessener Mann geblieben, niemals der Held jenes von Laube inscenirten, von der Theilnahme der Aristokratie und der Begeisterung des Volkes getragenen Festes geworden.

Chevreul hat als Chemiker anerkannte Verdienste. Seine Untersuchungen über „Thierische Fettstoffe“ betrafen ein Gebiet, auf welchem die Modemedicin jetzt große Erfolge feiert. Ueber die optischen Effekte der Seidenstoffe, über Farbenkontraste und Farbenzusammenstellungen hat er Schriften verfaßt, welche für die Hauptstadt der Mode nicht verloren gehen konnten. Doch solche Verdienste bleiben meistens im Stillen, wie groß auch die Wirkungen derartiger wissenschaftlicher Forschungen auf die Praxis der Heilkunst und des Gewerbes sein mögen. Erst durch die elektrische Beleuchtung, welche die Feier eines hundertsten Geburtstages ausströmt, treten sie in ein Licht, das sie auch den ferner Stehenden sichtbar macht.

Der greise Chevreul hat nichts von seinem Gedächtniß eingebüßt, wird nicht von den Schwächen des Alters geplagt; ein rüstiges, gleichmäßiges Leben, eine Diät, die sich auf zwei tägliche Mahlzeiten beschränkt, vor Allem aber eine Konstitution, welche von Hause aus die Bürgschaft einer langen Lebensdauer erhält, da sein Vater ein Alter von 95 Jahren erreichte, seine Mutter 92 Jahre alt wurde: das war das Lebenselixir, welches so wunderthätige Wirkungen ausübte. Großes Gleichmaß des Charakters und des Empfindens trug wesentlich dazu bei, den Sturm der Jahre machtlos vorübergleiten zu lassen. Nur einmal verließ den greisen Gelehrten die Ruhe, die er sonst immer bewahrte: als die Deutschen seinen jardin des plantes im Jahre 1870 bombardirten, protestirte er gegen diese Barbarei, wie Archimedes, der den eindringenden Soldaten zurief: „Stört meine Cirkel nicht!“ Und dieser Protest verlieh dem Gelehrten den Glorienschein eines Patrioten. So konnte auch Boulanger, der Kriegsminister, der sich sonst wenig um die Farbenkontraste der Gobelins kümmert, obschon er selbst in seinem Leben mehrfach die Farbe gewechselt hat, eine Handhabe finden, um dem Gelehrten bei seinem Feste zu huldigen. †