Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Ein gelehrter Schauspieler
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aus: Die Gartenlaube, Heft 5, S. 69–71
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Der Schauspieler Carl Grunert
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Carl Grunert als König Lear.

Künstler zu bewundern, und als das Schlußspiel zu Ende war, lief er der Bande in den nächsten Biergarten nach, wo dieselbe Vorstellung von Neuem gegeben wurde. Glücklich zog er neben einem großen Pudel her, der auf seinem Rücken einen kleinen Affen in einem prächtigen himmelblauen Kleide mit silbernen Borten trug und sich von ihm den Kopf gemüthlich krauen ließ. Ein angehender Kunstmäcen und Bauerbursche hatte dem Hunde aus Anerkennung für seine Leistungen einen Wurstzipfel hingeworfen; der Künstler vermochte einer solchen Lockung nicht zu widerstehen und sprang darnach, indem er dem Knaben zwischen die Beine fuhr und ihn niederwarf.

Hinter ihm drein drängte und schob die nachstürzende Menge, ohne den Gefallenen zu beachten. Unaufhaltsam rollte er weiter, bis er in dem feuchten Chausseegraben mit seinem neuen Sonntagsanzug lag. Hier fand ihn die besorgte Mutter, welche ihn herauszog und mit einigen Püffen regalirte. Trotzdem wurde seine Liebe zur Kunst durch das Mißgeschick nicht abgekühlt, sondern gerade umgekehrt geweckt und gesteigert. Von nun an ahmte er Alles nach, was ihm nachahmungswürdig schien, den Ausrufer auf der Straße, den Prediger auf der Kanzel, dessen Gebehrden und Haltung er getreu copirte. Besonders aber begeisterte ihn das wirkliche Theater mit seinen menschlichen Schauspielern, die er [70] später in Gesellschaft seiner ebenfalls kunstliebenden Mutter sehen durfte. Daneben besuchte er die berühmte Thomasschule, wo Grunert den Grund zu einer in seinem Stande seltenen classischen Bildung legte. Lange schwankte er zwischen der Kanzel und der Bühne, bis er sich endlich für die letztere entschied, umgekehrt wie der bekannte Bischof Dräseke, der aus einem Schauspieler ein frommer Theologe wurde.[WS 1]

An den Ufern der Elster, dicht hinter Gerhard’s Garten, lag eine Wiese, die jetzt ein Stadttheil Leipzigs geworden; hier las der junge Künstler Schiller’s „Jungfrau von Orleans“ im Grase mit so lauter Stimme, daß der Besitzer des Grundstücks auf ihn aufmerksam wurde und ihn wegen Niedertretung des Grases, mit Prügel und Polizei bedrohte. Von dieser Naturbühne vertrieben, wurde das Rosenthal Zeuge seiner fleißigen declamatorischen und mimischen Uebungen. Auch bildete er mit andern von gleichem Streben erfüllten Knaben nacheinander vier Liebhabertheater-Gesellschaften. Es wurden Decorationen gemalt, Leseproben abgehalten, aber nur ein Stück wirklich aufgeführt, wobei der kleine Grunert seine Rolle so gut spielte, daß er von dem nachsichtigen Publicum herausgerufen wurde.

Mit diesem ersten Erfolge wuchs sein Vertrauen und er faßte ernstlich den Entschluß, sich ganz dem Theater zu widmen. In dem Städtchen Waldenburg in Sachsen betrat er zum erstenmale die Breter, welche die Welt bedeuten, und zwar als „Räuber“ in dem Schauspiel „die Fackeljungen von Cremona“. In seinem Banditenkleide stolzirte er hinter dem Prospect der kleinen Bühne und probirte zuvor noch einige kühne Stellungen, von denen er sich eine große Wirkung auf die Zuschauer versprach. Während er kühn den Dolch schwang und mit dem rechten Fuß nach hinten trat, um seine malerische Attitude zu vervollständigen – sank er plötzlich unter das Podium. Mit schmerzenden Gliedern suchte er sich aufzurichten, was aber nicht so leicht ging, da der unterirdische Raum zu niedrig war, um gerade zu stehen. Er mußte auf den Knieen liegen bleiben, zugleich rutschte ihm, ebenfalls auf den Knieen, die ehrwürdige Gestalt eines Greises mit langen, weißem Bart entgegen, in der einen Hand ein brennendes Licht, in der andern ein Buch haltend.

„Herr Jeses! Sein Sie das?“ fragte dieser in reinstem sächsischen Dialect.

Der Greis war nämlich der Souffleur der Truppe, welcher zugleich eine kleine Aushülfsrolle in dem Stücke spielte.

„Sie wollen,“ fügte der würdige Mann hinzu, „also ooch zu Dalichens (Thaliens) Fahne schwören, junger Gunstanfänger! Un da griechen Se hier unden ‘rum. Vermudlich um kleich die Gehrseite gennen zu lernen. Wo viel Licht, is ooch viel Schadden. Les extrémités se touchent!

So debutirte Grunert mit einem Durchfall, noch ehe er die Bühne betreten hatte, aber er ließ sich durch solche ominöse Anzeichen keineswegs abschrecken, sondern verfolgte mit der ihm eigenen Ausdauer sein hohes Ziel.

Schon vor diesem Debut hatte er den Versuch gemacht, Aufnahme bei einer größeren Bühne zu finden. Im Leben der schüchternste Mensch, suchte Grunert mit Herzklopfen den geistreichen Schauspieler Jermann auf, der damals unter Küstner’s Leitung am Leipziger Theater eine hohe Achtung genoß. Ihm trug er bescheiden sein Anliegen vor und bat zugleich um dessen Rath und Protection. Jermann warnte ihn jedoch vor der gefährlichen Laufbahn; es gäbe, sagte er ihm, schon genug unglückliche Schauspieler und das Theater sei nichts weniger als ein Paradies, worin die Poesie blühe.

Niedergeschlagen, aber nicht entmuthigt bat Grunert, ihn doch wenigstens zu prüfen, wozu sich Jermann auch bereit finden ließ, indem er ihm den Monolog aus „König Yngurd“ von Müllner zum Lesen gab. Während des Vortrages sprang der Künstler vom Stuhle auf, maß den jungen Anfänger mit blitzenden Augen, fuhr mit der Hand durch die Haare und sagte ihm zum Schlusse: „Sie dürfen nicht nur, sondern müssen zum Theater.“

Seitdem verlor Jermann den talentvollen Novizen nicht mehr aus den Augen und als er selbst die Regie des Augsburger Theaters übernommen hatte, rief er den damals noch nicht zwanzigjährigen Grunert zu sich und beschäftigte ihn in den bedeutendsten Rollen. Leider mußte Jermann schon nach einigen Monaten der Kabale seiner Collegen weichen und Augsburg verlassen. Unterdeß hatte sein Schützling und Schüler außer seinen Rollen mit einem befreundeten jungen Gelehrten fleißig Latein getrieben, Horaz und Goethe gelesen, sich in eine junge Sängerin verliebt und sie in zärtlichen Versen besungen, darüber aber die Sorge um seine Zukunft vergessen und sich nicht um ein neues Engagement bekümmert.

Von Neuem schwankte er zwischen der Kunst und Wissenschaft, so daß er sich um eine Unterstützung bewarb, um die Leipziger Universität besuchen zu können. Dieselbe wurde ihm jedoch abgeschlagen, dafür aber erhielt er einen ehrenvollen Antrag von den Actionären des Freiburger Stadttheaters, den er unter diesen Verhältnissen freudig annahm. Da hatte er Alles, was sein Herz begehrte, Theater und Universität, die Mittel für seine artistische und gelehrte Bildung, die er seitdem mit unablässigem Fleiße verfolgte, den Umgang mit bedeutenden Männern, wie den bekannten Professoren, Baron von Reichlin und Zimmermann, welche seine Studien vertieften und förderten.

Bald vertraute man ihm die Regie des Theaters an; ja der akademische Senat ernannte ihn zum Lehrer und nahm Grunert’s Vorlesungen „über die Kunst des schönen Vortrags“ in den Lectionskatalog der Universität auf. Diese doppelte Stellung benützte er oft in origineller Weise seinen Zuhörern gegenüber. So unterbrach er sich einmal, während der Theatervorstellung, mitten in seiner Rede als „König Philipp“ und machte den Jünglingen im Parterre mit trockenen Worten klar, daß Schiller ganz Recht habe, wenn er in des „Don Carlos“ Brieftasche „abgerissene Gedanken aus dem Tacitus“ finden lasse und daß sie daher Unrecht hätten, deshalb zu lachen, wie dies der Fall gewesen war. Und als bei einer nächsten Vorstellung es den Studenten komisch vorkam, daß „Sultan Soliman“ in Körner’s „Zriny“ ausrief: „Der ungarische Bär soll die Tatze des türkischen Löwen fühlen,“ wendete Grunert als „Soliman“, im grünen Kaftan auf dem Sopha liegend, das Haupt mit dem langen, weißen Bart gegen das Parterre, sah lange schweigend hinunter und fragte im gemüthlichen Tone: „Ihr habt wohl wieder viel Bier getrunken?“

Sonderbarer Weise schadeten ihm diese Randglossen bei der lebhaften Jugend nicht, sondern erhöhten noch seine Popularität und den Beifall, der oft nach des Künstlers bescheidener Meinung an ungehöriger Stelle erfolgte, so daß er einmal in dem Schauspiele „die Versöhnung“ von der Frau von Weißenthurm laut ausrief: „Wie kann man mich da nur applaudiren!“ Er selbst aber sagte von sich in einem Epiloge, daß er nur dann seine Aufgabe glücklich gelöst zu haben glaube:

„Wenn statt des ungemeßnen Beifalls Rauschen
Des Athems leises Weh’n
Kaum schüchtern hauchte durch beklommnes Lauschen“.

Schließlich machte ihn der Freiburger Magistrat zum selbstständigen Director des Theaters, wobei Grunert so wenig auf seinen Vortheil bedacht war, daß er zum Nutzen der Kunst Alles wieder ausgab, was er einnahm, und besonders deutsche Dramen, denen anderswo die Aufnahme verweigert wurde, zur Aufführung brachte, wie das freisinnige „Pasquill“ von Maltitz und sogar „Don Juan und Faust“ von Grabbe, natürlich nicht zum Vortheil seiner Casse.

Zu den Genien der Kunst und Wissenschaft gesellte sich in Freiburg noch die Liebe in der Gestalt eines holden Weibes. Bei einem Ausflug in das Elsaß fuhr Grunert von Breisach bis Bischofsheim den Rhein hinab; bald darauf hörte er, daß zu derselben Zeit, wo er auf dem Strome dahin glitt, ein junger Schauspieler Namens Wolgemuth in den Wellen ertrunken sei und eine junge, unversorgte Wittwe in tiefster Trauer hinterlassen habe. Wenige Monate später führte das Geschick die schöne, anmuthige Frau als Mitglied des Freiburger Theaters in seine Nähe. Sie wurde seine Gattin und ihm die liebevollste Freundin und zugleich erwarb sie sich durch ihre einsichtsvolle und stets aufrichtige Kritik den Dank ihres Gemahls.

Unterdeß fand Grunert’s Talent immer mehr verdiente Anerkennung; einen Ruf von Immermann nach Düsseldorf mußte er ablehnen, dagegen nahm er ein Jahr später die Stelle eines Hofschauspielers und Regisseurs in Hannover an, wo er durch strenge Selbstkritik und den Einfluß des vorsichtigen und tactvollen Directors von Holbein, sowie durch die höheren Ansprüche des gebildeten Publicums wesentliche Fortschritte machte. Aus dem ihm lieb gewordenen Wirkungskreise schied er nur, um die ihm angetragene Oberregie und das Fach der ernsten Charakterrollen in Mannheim [71] zu übernehmen. Um jedoch seiner Kunst ganz frei zu leben, verzichtete er auf diese ihm in Aussicht gestellte Directorialgewalt und nahm ein Engagement am Stadttheater zu Hamburg an, wo er der würdige Nachfolger eines Eckhof und Schröder wurde.

Im Jahre 1846 wurde Grunert mit lebenslänglicher Anstellung nach Stuttgart berufen, wo er sich schnell die Gunst des Hofes und des Publicums im reichsten Maße zu erringen wußte. Von dem damaligen Hoftheater-Intendanten Dingelstedt in München eingeladen, an den dortigen Mustervorstellungen mit Anschütz, Devrient, Laroche und Döring Theil zu nehmen, wurde ihm von dem Könige von Würtemberg die Erlaubniß dazu versagt, wahrscheinlich aus Groll gegen Dingelstedt, der eben erst vor Kurzem den Dienst desselben verlassen hatte. Grunert war entschlossen, den Zorn seines Königs zu wagen, doch unterblieb sein Auftreten aus „höheren Rücksichten“ und er selbst mußte sich mit den Auszeichnungen begnügen, die ihm in München als bloßem Zuschauer gezollt wurden. Auch von dem Gastspiele der deutschen Künstler in London wurde er durch den damals erfolgten Tod seiner Frau zurückgehalten.

Für diese Verluste fand er jedoch hinlängliche Entschädigung durch die Anerkennung der akademischen Jugend in Tübingen, die ihm einen Fackelzug brachte und das feierliche Comitat zu Pferde mit wallenden Fahnen gab, während er im Wagen an der Seite des berühmten Aesthetikers Professor Vischer saß. Zugleich wurde eine Sturmpetition bei der philosophischen Facultät der Universität angeregt, um für ihn den „doctor honoris causa“ zu erlangen. Dieser Antrag der jugendlichen Enthusiasten wurde jedoch von dem Senat abgelehnt, da das Statut die akademische Würde nur für wissenschaftliche, aber nicht für künstlerische Verdienste gestattet. Auf Andringen seiner Freunde schrieb darauf Grunert eine philosophisch-ästhetische Abhandlung, ein lateinisches „curriculum vitae“ (Lebenslauf) und wurde darauf feierlichst zum „Doctor“ und „Magister der freien Künste „cum laude“ (mit Auszeichnung) creirt.

Im Jahre 1801 wollte Grunert, nachdem er verschiedene Anträge großer Hofbühnen zurückgewiesen hatte, lediglich aus Liebe zur Kunst die Direction des Theaters in seiner Vaterstadt Leipzig übernehmen. Das Publicum hegte enthusiastische Erwartungen für die Regeneration der Bühne unter seiner Leitung, er selbst glaubte in dieser Weise den geeignetsten Abschluß seiner Künstlerlaufbahn zu finden und somit der Literatur und dem deutschen Leben wahrhaft zu nützen. Aber die Verhandlungen zerschlugen sich, da „der Rath“ das Theater nur für drei Jahre unbedingt vergeben wollte, während Grunert mindestens eine zehnjährige Frist fordern zu müssen glaubte. Unter diesen Umständen blieb er in Stuttgart um so eher, da der König die Entlassung blos unter der Bedingung ertheilen wollte, wenn Grunert auf die Pension für sein achtzehnjähriges Wirken verzichtet hätte.

Als Künstler nimmt Grunert, abgesehen von seinem großen Talente, schon durch seine ungewöhnlich hohe Bildung eine hervorragende Stellung ein. Er ist gleichsam der Schauspieler der studirenden Jugend, der gelehrten Welt, der Träger und Vermittler von Wissenschaft und Kunst, die sich in ihm harmonisch verschmelzen. Seine Leistungen tragen daher weniger den Stempel unmittelbarer Inspiration, als tiefen, gewissenhaften Studiums, ohne darum die Gluth der Begeisterung und Leidenschaft vermissen zu lassen. Vor Allem versteht er es, den Gedanken des Dichters zum Bewußtsein der Hörer durch seine vollendete Rhetorik zu bringen; weshalb der „weise Nathan“ zu seinen besten Rollen zählt. Aber eben so sehr besitzt er die Kunst der Individualisirung, der scharfen psychologischen Auffassung, so daß er mit Recht zu den ersten Charakterdarstellern der deutschen Bühne zählt. Dabei fehlt ihm auch nicht der unentbehrliche Humor, selbst die übermüthige Komik des Lustspiels und der Posse steht ihm zu Gebot. Der Vielseitigkeit seines Talentes entspricht der Reichthum seines Repertoirs, das die hochtragischen Gestalten Shakespeare’s, Schiller’s, Lessing’s und Goethe’s ebenso wie die bürgerlichen Figuren eines Iffland und die seinen Salongestalten der französischen Komödie umfaßt. Während er als „Lear“, dessen Rolle jedenfalls zu seinen meisterhaftesten und gewaltigsten Leistungen gehört, jeder Zoll ein König erscheint, ist er als „Graf Ranzau“ in Scribe’s „Bertrand und Raton“ ein so vollendeter Diplomat, daß ein solcher selbst über ihn sagte, nur ein Diplomat könne diese Rolle ihm nachspielen, wenn derselbe nämlich ein so guter Schauspieler wie Grunert wäre.

Die höchsten Triumphe feierte jedoch der Künstler als Vorleser besonders antiker Dramen. „Hier vereinigt,“ wie Vischer von ihm sagt, „Grunert mit der Energie der Charaktergebung die ideale Würde und Großheit, wie sie der monumentale Stil der Antike fordert.“



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Bischof Dräseke hat weder jemals die Bühne betreten, noch auch nur die Absicht gehabt, sich der Laufbahn eines ausübenden dramatischen Künstlers zu widmen (vergleiche: Berichtigung durch Theodor Dräseke, Heft 16, S. 256).