Ein französischer Caspar Hauser

Textdaten
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Autor: Eugen Laur
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Titel: Ein französischer Caspar Hauser
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aus: Die Gartenlaube, Heft 8, S. 133–135
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Ein französischer Caspar Hauser.


Von E. Laur.


Die bekannte Frage: wie viel Steine bilden einen Haufen? lautet in einer französischen Umwandlung: wie viel Thoren gehören dazu, um ein „Publicum“ auszumachen? Und weil das Publicum zum allergrößten Theile aus einer Menge besteht, welche von Unparteilichkeit nichts weiß, nicht durch Gründe sich bestimmen läßt, so sprechen wir mit Recht nur selten von dem öffentlichen Urtheil, gewöhnlich aber von der öffentlichen Meinung und haben vor derselben, wenngleich sie als sechste Großmacht auf Berücksichtigung entschieden Anspruch machen kann, doch im Grunde genommen wenig Achtung. Und dies ist natürlich, denn es fehlt der öffentlichen Meinung das wichtigste charakteristische Merkmal einer Großmacht: die Unabhängigkeit. Sie ist abhängig von der Mode, der herrschenden Stimmung, dem ersten Eindrucke. Napoleon der Erste definirte sie, als er bereits fern von Paris Zeit hatte, darüber nachzudenken, am 18. November 1815 im Memorial also: „Die öffentliche Meinung ist eine unsichtbare, geheimnißvolle Macht, welcher nichts zu widerstehen vermag; nichts ist beweglicher, unbestimmter, stärker, launischer.“ Wir können, glaube ich, hinzusetzen: nichts ist so schwer zu leiten und so leicht irre zu führen.

In den jüngsten Monaten spukte wieder einmal die Caspar Hauser-Geschichte. Mit Bezug auf diesen räthselhaften Findling hatte sich mit Hülfe der öffentlichen Meinung eine Legende gebildet, wie dergleichen Sagen immer entstehen.

Die Geschichte von dem Nürnberger Findling war nichts Anderes, als die neue Titelausgabe eines Vorganges, welcher vor hundert Jahren die öffentliche Meinung und die Gerichte beschäftigt hat. Auch damals ist für die Zugehörigkeit des Knaben zu einer vornehmen Familie ein Mann in die Schranken getreten, welcher sonst nicht nur über jeden Verdacht der Unehrenhaftigkeit erhaben ist, sondern allezeit als wahrer Menschenfreund, ja Wohlthäter der Menschheit wird gepriesen werden: es ist der Abbé de L’Epée, geboren in demselben Jahre wie Jean-Jacques Rousseau, gestorben in dem Jahre der Eroberung der Bastille, er, welcher den taubstumm Geborenen lehrte, das Auge als Ohr und die Hand als Zunge zu gebrauchen.

Am 1. August 1773, Abends zehn Uhr, wird zu Cuvilly in der Picardie auf der Landstraße ein taubstummer Knabe gefunden. Er ist bedeckt mit schmutzigen Lumpen, völlig abgemattet und ausgehungert. Nach dem einen Berichte wird er von einer Frau Poulin, nach dem andern von dem Steuerbeamten Leroux aufgenommen und beherbergt, auch sorgfältig gepflegt. Von dieser Thatsache unterrichtet, giebt der Polizeigenerallieutenant von Sartines in Paris den Befehl, den Knaben in der öffentlichen Anstalt zu Bicêtre unterzubringen. Dies geschieht am 2. September 1773. Im Juni des folgenden Jahres erkrankt das Kind und wird nach dem Hôtel Dieu in Paris gebracht. Hier ist es bereits seit acht Monaten, als eines Tages der Abbé de l’Epée bei einem zufälligen Besuche des Hospitals auf den Knaben aufmerksam gemacht wird, ohne hierdurch zu besonderem Antheil an dem Geschick des Kleinen bewogen zu werden. Er hatte mit den in seiner Obhut und Pflege befindlichen beklagenswerthen Kindern vollauf zu thun, sodaß seine Einkünfte kaum ausreichten, die ihm anvertrauten taubstummen Zöglinge zu erhalten. Nach einiger Zeit führt den Abbé ein Geschäft wieder in das Hôtel Dieu, und diesmal bittet ihn eine Nonne, sich des armen Findlings anzunehmen, dessen Loos um so mehr Theilnahme verdiene, als er, nach verschiedenen Aeußerlichkeiten zu schließen, offenbar nicht den unteren Classen des Volkes angehöre.

Hierdurch wird das Interesse des berühmten Lehrers der Taubstummen rege. Der Knabe wird herbeigeholt, und nun – so berichtet der Abbé selbst – giebt er auf Befragen durch Zeichen zu verstehen, daß er einer angesehenen und reichen Familie angehöre, daß sein Vater gehinkt habe und gestorben sei, daß seine Mutter als Wittwe mit vier Kindern hinterblieben, nämlich außer ihm mit drei Töchtern, von denen zwei älter, eine jünger als er selbst sei; die Mutter habe Bänder und schöne Kleider, auch eine Uhr getragen, in einem großen Hause gewohnt und mehrere Diener gehabt, auch er sei stets bedient worden; an das Haus habe ein großer Garten gestoßen, welcher unter eines Gärtners Obhut gewesen, viel Früchte gebracht habe und während des Winters sorgfältig geschützt worden sei. Einmal sei er, der Knabe, mit einem Reiter auf ein Pferd gesetzt worden und habe eine Art Schleier vor das Gesicht bekommen, dann habe man ihn weit weggeführt und schließlich verlassen. Doch wußte der Knabe nicht anzugeben, aus welcher Himmelsrichtung er gekommen, auch nicht ob er Franzose oder im Auslande geboren sei.

Der Abbé berichtet nicht, in welcher Weise ihm gelungen, mit dem Kinde sich zu verständigen. Er selbst hatte zwar bereits seit 1755 eine Unterrichtsanstalt für Taubstumme gegründet und, soweit seine Privatmittel reichten, auch unterhalten. Unter den von ihm erzogenen Schützlingen war der Findling nicht gewesen. Die erste Schrift über den Unterricht der Taubstummen war erst 1774 erschienen. Mithin konnte der seit September 1773 im Hôtel Dieu befindliche Knabe auch nicht von Anderen in der Bildung so weit gebracht worden sein, um über all das oben Mitgetheilte mit einem Fremden sich zu verständigen. Trotzdem stellt der Abbé de l’Epée aus den angeblichen Eröffnungen des Knaben einen Bericht zusammen und überreicht diesen dem Kriegsminister Graf von Saint-Germain. Bei dem Ansehen, welches der ausgezeichnete Menschenfreund genoß, war es nur natürlich, daß sofort sämmtliche Gensd’armen des Königreichs (welche bis zum Anfange der Revolution den Namen la maré-chaussée führten) unter Zusicherung reicher Prämien beauftragt wurden, Nachforschungen nach dem Ursprunge des Kindes anzustellen. Die Zeitungen, so viel es deren gab, und die Erzählungen der Gensd’armen trugen zur Verbreitung jener Thatsachen das Mögliche bei, aber Alles blieb ohne Erfolg.

Da erschien im März 1776, also nach Verlauf von etwa zwei Jahren, im Hôtel Dieu ein Unbekannter, welcher den noch immer hier verpflegten Taubstummen zu sehen wünschte. Man willfahrte seiner Bitte. Er sah den Knaben verächtlich an, so verächtlich, daß dieser in Thränen ausbrach, und sagte: „Der ist es nicht.“ Als ihm erwidert wurde, dies sei allerdings der taubstumme Findling, antwortete der Fremde: „Ich weiß wohl, was ich sage,“ und entfernte sich ohne Weiteres.

Zwei Stunden darauf ließ ein junges Mädchen, welches wegen einer Wunde seit mehreren Monaten im Hospital behandelt wurde, den Knaben sich zeigen und versicherte sogleich, sie kenne ihn und seine Familie ganz genau; er heiße Louis Le Duc und sei der Sohn von Louis Le Duc, welcher in Saint-Michel (Lothringen) eine Waschanstalt habe. Sie betheuerte unter hohen Schwüren die Richtigkeit des Gesagten und schlug vor, an den Pfarrer, den Vicar und den Polizeibeamten in Saint-Michel zu schreiben; sie würden gewiß ihre Angabe bestätigen. Eine hierauf bezügliche Anfrage des Abbé de l’Epée wurde übereinstimmend dahin beantwortet, man könne sich auf das Mädchen verlassen, sie müsse den Knaben und alle Verwandten desselben genau kennen, da sie Jahre lang dem Hause Le Duc’s gegenüber gewohnt habe und oft dort aus- und eingegangen sei.

Noch bevor die Rückäußerung aus Saint-Michel eingetroffen war, hatte de l’Epée den Knaben aus dem Hôtel-Dieu in seine Privatanstalt übernommen, weil er ein Attentat auf denselben befürchtete. Bei näherer Untersuchung stellte sich heraus, daß der wirkliche Louis Le Duc, geboren am 11. Februar 1764, im März 1774 in das Pariser Hôtel-Dieu gekommen, noch an demselben Tage nach dem Hospital la Pitié übergeführt, am 28. März desselben Jahres nach Bicêtre gebracht worden und hier am 19. Januar 1775 gestorben sei. Sonach konnte der jetzt noch Lebende mit jenem Lothringer Kinde nicht identisch sein. – Am 5. Juni 1776 erhielt der Abbé de l’Epée ein Schreiben von Madame de Hauteserre, welche berichtete, daß sie alljährlich acht Monate in Toulouse zubringe. Anfangs 1773 habe sie bei der Gräfin de Sollar (oder Solar) eine Wohnung gemiethet, unter deren Fenstern ein ausgedehnter Garten liege. Frau de Sollar habe damals eine Tochter von vierzehn Jahren und einen taubstummen Sohn von etwa zwölf bis dreizehn Jahren gehabt. „Dieser,“ so heißt es in dem Briefe weiter, „hatte blonde [134] Haare und Augenbrauen, blaue, ein wenig in’s Graue spielende Augen, längliches, mageres Gesicht, frische Farben, feingeformte Nase, großen Mund, die Zähne unregelmäßig, namentlich einen Doppelzahn, und war von überraschender geistiger Begabung. Er reiste Anfangs August 1773 in Begleitung eines jungen Mannes von Toulouse ab, angeblich um in dem Badeorte Bagnères Heilung für seine Taubheit zu suchen, war aber seitdem nicht wieder gesehen worden. Seine Mutter starb im November oder December 1773; seine Schwester befindet sich zur Zeit in einem Kloster zu Toulouse.“

Der Taubstummenlehrer wurde betroffen von der auffallenden Aehnlichkeit dieses Signalements mit dem seines Schützlings, besonders wenn man die während dreier Jahre nothwendig eingetretenen Aenderungen in Anrechnung brachte. Die Zähne allerdings standen jetzt regelmäßig, aber dies erklärte sich daraus, daß der Doppelzahn des Knaben entfernt worden; der Mund freilich erschien weder groß noch klein, doch dies konnte nicht Wunder nehmen: bei mageren Gesichtern zeigt der Mund sich größer, jetzt aber war der Knabe wohlgenährt und hatte nicht mehr ein längliches und mageres, sondern ein volles regelmäßiges Gesicht.

Trotz alledem verbleibt der Abbé in Unthätigkeit mit Bezug auf die Nachforschungen nach der Herkunft seines Schützlings und klagt sich selbst der Nachlässigkeit deshalb an, entschuldigt dieselbe jedoch einigermaßen dadurch, daß er eine neue Falle fürchtete, wie diejenige, durch welche der Knabe für Louis Le Duc erklärt werden sollte. Auch hatte er von dem Steuerbeamten Leroux Nachrichten erhalten, wonach das Kind aus Lüttich oder Namur stamme. Zwei Bauern nämlich aus Orvillé hatten Folgendes bekundet: am 17. oder 18. Juli 1773 war der eine von ihnen beim Einbruche der Nacht von zwei Bettlern um Herberge angegangen worden. Einer der Bettelnden war taubstumm. Man ließ sie in einem Stalle nächtigen. Dieser wurde am nächsten Morgen offen gefunden, der größere der Bettler war verschwunden, der kleinere – der taubstumme – allein zurückgeblieben. Ihn hatte der Bauer, bei welchem sie übernachtet, eine Woche lang im Hause behalten. Sodann nahm ihn der andere der Zeugen zu sich und verpflegte ihn, bis er, der Zeuge, in Cuvilly ein Geschäft hatte. Dorthin folgte ihm der Taubstumme, welcher zutraulich sich ihm angeschlossen hatte. Aber der Bauer ging, wohl absichtlich, schneller als dem Knaben möglich war, und so blieb dieser auf der Landstraße allein zurück, wo ihn der Steuerbeamte Leroux dort fand.

Auch nach dieser einfachen und bündigen Erklärung hielt der Abbé de l’Epée an dem ihm angenehmen Gedanken fest, einen so vornehmen Zögling, wie den jungen Grafen de Sollar bei sich zu haben, und beschloß, auf den Augenblick zu warten, wo es der Vorsehung gefallen würde, die Wolken zu zerstreuen und das Dunkel der Herkunft seines Schützlings zu lichten. Im Jahre 1780 ließ die Kaiserin Katharina die Zweite von Rußland durch ihren Gesandten den Abbé wegen seiner schönen erfolgreichen Thätigkeit beglückwünschen und ihm ein beträchtliches Geschenk anbieten. „Niemals,“ lautete die Antwort des Abbé, „niemals nehme ich Geld an. Sagen Sie Ihrer Majestät: wenn meine Arbeiten einigen Anspruch auf ihre Achtung haben, so ist Alles, was ich erbitte, daß die Kaiserin mir einen Taubstummen von vornehmer Abkunft sendet.“

Weshalb nicht wenigstens die Schwester des jungen Sollar in Toulouse, wenn auch nur brieflich, befragt wurde, ist nirgends gesagt. Im Jahre 1776 wurde, nach des Abbé de l’Epée Versicherung, ein Entführungsversuch gegen seinen Schützling unternommen. Ein Officier der Gensd’armerie aus Toulouse bat, ihm den Knaben auf kurze Zeit anzuvertrauen: wenn der Letztere wirklich der Sohn des Grafen von Sollar sei, so werde derselbe sofort von einer großen Anzahl von Personen wieder erkannt werden. Die Herausgabe des „durch die Vorsehung ihm anvertrauten Gutes“ wurde nicht nur von dem Abbé verweigert, sondern dieser wandte sich auch an den Minister mit der Bitte, einen hierauf bezüglichen Befehl nicht zu erlassen. Da nun der Minister erwiderte, er habe die diesfällige Ordre nicht gegeben, so schloß der Abbé, daß der Polizei-Officier durchaus nicht gewesen, was er durch Anlegung der Uniform habe scheinen wollen, sondern ein verkleideter Unbekannter, welcher die Absicht gehabt, das unglückliche Kind bei Seite zu schaffen. Es scheint vergessen worden zu sein, daß auf die Ermittelung der Herkunft des Taubstummen reichliche Belohnung verheißen worden und jener Beamte sehr wohl auf eigenen Antrieb konnte gehandelt haben.

Nach Verlauf längerer Zeit wohnte – im Juni oder Juli 1777 – eine junge Dame, was nicht selten geschah, dem Unterrichte der Taubstummen bei. Als sie des inzwischen „Joseph“ genannten Knaben ansichtig wurde, sagte sie, jedoch ohne irgend ein Zeichen der Ueberraschung oder des Erstaunens, vielmehr ganz einfach, wie etwas, das sich von selbst versteht: „Da ist der Sohn des Grafen von Sollar.“ Der Taubstumme selbst war nicht in der Nähe der Dame gewesen, sondern hatte im Nebenzimmer mit anderen Kindern gespielt und erfuhr erst später, was inzwischen vorgegangen. „Da“ – erzählt der Abbé de l’Epée – „erwachte Joseph wie aus tiefem Traume. Man ließ die Dame bitten, ihren Besuch zu wiederholen, und fragte sie, welchen Beweis sie für die Richtigkeit ihrer Behauptung geben könnte. Sie antwortete, daß sie den Knaben ganz genau kenne. Sie habe längere Zeit als Gesellschafterin bei Fräulein Desgodets, einer Großtante des Kindes, gewohnt und ihn – er war damals sieben bis acht Jahre alt – wöchentlich mindestens einmal gesehen, wenn er aus seiner Pension auf der Insel St. Louis zum Besuche gekommen.“

Joseph wurde von den beiden Inhaberinnen jener Pension, Mutter und Tochter, als der junge Sollar wieder erkannt, ebenso von der Magd eines Großoheims des Knaben. Aus derselben Quelle schöpfte der Abbé auch die Nachricht, daß der junge Sollar zu Clermont im Beauvais geboren sei, wo seine Verwandten mütterlicher Seite noch lebten. Der Taubstummenlehrer und sein Zögling begaben sich nach Clermont, und der Letztere wurde von neunundzwanzig Personen verschiedenen Alters und Standes als der Sohn des Grafen von Sollar bezeichnet. Nach der Rückkehr erfolgte seine Anerkennung auch in Paris durch den hier lebenden und bisher noch nicht befragten Vater der Gräfin von Sollar. Dies geschah im October 1777.

Der königliche Procurator am Châtelet hatte jetzt, durch die öffentlichen Blätter aufmerksam gemacht, die Sache in die Hand genommen. Er beantragte Untersuchung gegen die Urheber der Entführung und der Aussetzung des „taubstummen Grafen von Sollar“. In Folge dessen gab der Criminal-Lieutenant Befehl, den Sieur Cazeaux zu verhaften, nämlich denjenigen jungen Schreiber, welcher in dem Briefe der Madame de Hauteserre bezeichnet war als Begleiter des Knaben auf der Reise von Toulouse nach Bagnères.

Cazeaux wird in Toulouse am hellen Tage unter dem Zusammenlauf einer wüthenden Volksmenge verhaftet, nach dem Stadthause geschleppt, in das abscheuliche Gemach geworfen, welches, „la miséricorde“ genannt, eine Anzahl zum Tode verurtheilter Verbrecher enthielt. Wieder bei hellem Tage wird er, an Händen und Füßen mit Ketten belastet, auf einen offenen Wagen gehoben und abgeführt, auch jetzt wieder mit Verwünschungen und Flüchen verfolgt von der Menge, welche schon aus dieser Art den Gefangenen zu transportiren den Beweis für seine Schuld abnimmt. Während der ganzen Fahrt ist Cazeaux mit Ketten an den Wagen, beim Aufenthalte in den Herbergen ebenso an einen Tisch oder einen Pfahl geschlossen. Man begafft ihn überall wie Einen, welcher zum Rad oder Scheiterhaufen geführt wird.

Endlich kommt Cazeaux in Paris an und wird im Châtelet in Einzelhaft gebracht. Sechs Tage vergehen, ohne daß er nur verhört wird. In den nächsten drei Wochen aber hat er sechs Verhöre von je sechs bis acht Stunden zu bestehen. Seine Unbefangenheit, die Klarheit seiner Antworten erweckt in den Richtern den Gedanken, der Verhaftete sei wohl unschuldig. Der Bischof von Comminges, in dessen Diöcese Cazeaux gewohnt hat, nimmt sich des jungen Mannes an und setzt es durch, daß demselben ein erträgliches Gelaß im Gefängnisse angewiesen wird. Jetzt kann er sich vertheidigen. Er erklärt: 1) Das Kind, welches er angeblich auf der Heerstraße bei Péronne ausgesetzt habe, ist im Januar 1774 zu Charlas in der Diöcese von Comminges gestorben, und er belegt diese Angabe durch Berufung auf einen amtlichen Todtenschein aus den Kirchenbüchern der Gemeinde; 2) es sei jedoch überflüssig eine solche Urkunde herbeizuschaffen, da der Schützling des Abbé de l’Epée unmöglich mit dem jungen Grafen von Sollar identisch sein [135] könne; denn jener sei am 1. August 1773 auf der Landstraße bei Péronne in der Picardie, also zweihundert Lieues entfernt von Toulouse gefunden worden, während, wie hunderte von Zeugen beweisen können – der Sohn der Gräfin von Sollar erst am 4. September 1773 Toulouse verlassen habe, mithin zu einer Zeit, wo der unbekannte Taubstumme bereits in Bicêtre aufgenommen worden.

Es gelingt dem Gefangenen, auch einen Vertheidiger zu gewinnen in der Person des Advocaten Tronson du Coudray. Dieser führt noch an: 1) Der angebliche junge Sollar habe weder seine Schwester noch die Bilder seiner Eltern erkannt, nicht einmal seinen Entführer Cazeaux. 2) Seine Schwester und vier Personen, welche den Knaben im Alter von zwölf Jahren gekannt, haben ihn nicht recognoscirt, und dies beweise mehr als das Anerkenntniß aller anderen Personen, welche das Kind seit seinem siebenten Jahre aus dem Gesichte verloren gehabt. 3) Ueberdies habe Joseph nicht einmal Aehnlichkeit mit dem verstorbenen Sollar: der Schullehrer, welcher diesen in Toulouse unterrichtet, habe jenen nicht erkannt und sei von demselben nicht erkannt worden. 4) Was den Doppelzahn anbetrifft, so hatte der junge Sollar allerdings einen solchen, aber nicht wie der lebende in dem unteren, sondern in dem oberen Kiefer. 5) Zu alledem kommt, daß bisher auch nicht das geringste Motiv zur Verübung des Verbrechens angedeutet, geschweige denn wahrscheinlich gemacht worden.

Diese Sätze der Vertheidigung zu entkräften oder zu widerlegen unternimmt der Abbé de l’Epée selbst. Er war in seiner Jugend Jansenist gewesen, und da ihm, weil er das orthodoxe Formular nicht unterzeichnen gewollt, der Eintritt in den Priesterstand versagt worden, hatte er sich der Rechtswissenschaft gewidmet und war als Advocat bei dem Parlament in Paris eingetreten. Nun holt er die alten rostig gewordenen Waffen aus jener Zeit wieder hervor und ersetzt, was ihnen an Schärfe abgeht, durch Verbitterung und Verbissenheit. Er bestreitet Alles, was von Seiten des Angeklagten und des Vertheidigers vorgebracht ist. Der inzwischen eingegangene Todtenschein des jungen Grafen von Sollar beweise nichts, sondern bekunde nur, daß zu Charlas am gedachten Tage ein Kind gestorben, welches man, auf Anstiften des Angeklagten, als Graf von Sollar beerdigt habe. Den Termin der Abreise von Toulouse habe der Angeklagte nachträglich durch Rechnung ausgeklügelt, um das Alibi festzustellen. Im Königreiche seien etwa dreitausend Taubstumme, von denen die Hälfte ungefähr auf die ärmeren Familien falle. Vermuthlich habe der Angeklagte aus einer derselben ein solches unglückliches Kind durch Bestechung sich zu verschaffen gewußt, dies als Grafen von Sollar im Lande umhergeführt, um für den Fall der Entdeckung seines Verbrechens Entlastungszeugen sich zu sichern und so die Spur der begangenen Unthat auszutilgen. Als Motiv des Verbrechens ergebe sich der Wille der Gräfin von Sollar, welche mit ihrem Gatten in Unfrieden gelebt, den Knaben gehaßt und den ihr wohlbekannten Angeklagten durch Geld bewogen habe, das Kind bei Seite zu schaffen.

Die Proceßschriften gehen hin und her. Monat auf Monat verrinnt[WS 1]. Cazeaux bleibt verhaftet. Das Châtelet weigert sich, ihn in Freiheit zu setzen; er appellirt an das Parlament. Dieses ordnet Beweisaufnahme an über den Zeitpunkt der Abreise des jungen Sollar von Toulouse, die Reise nach Bagnères, nach Charlas, die Krankheit und den Tod des Kindes, weil der Todtenschein wegen einiger Unregelmäßigkeiten nicht vollen Beweis liefere.

Demgemäß reisen im August 1779 zwei Räthe vom Gerichtshofe des Châtelet, zwei Gerichtsschreiber, der Schützling des Abbé de l’Epée mit einem Dolmetscher und der Angeklagte nach Toulouse. Joseph erkennt weder das Stadthaus von Toulouse, ein herrliches, großartiges Gebäude, vor welchem der junge Sollar täglich gespielt hatte, noch das Wohnhaus seiner Mutter oder ein anderes von denjenigen, in welchen der Knabe damals oft verkehrte. Mehr als hundert Personen werden vernommen: nicht ein einziger Zeuge erkennt in dem Knaben das Grafenkind. Dagegen wird bezeugt und festgestellt 1) durch eine große Anzahl von Personen, daß Cazeaux in den ersten Tagen des September oder zur Zeit der Traubenreife oder beim Beginne der Parlamentsferien oder an Notre-Dame de Septembre 1773 Toulouse verlassen habe; 2) daß mehrere Personen Cazeaux nebst dem jungen Sollar auf dem Wege nach Bagnères getroffen und erkannt haben; 3) durch eidliche Aussage mehrerer hochgestellter Personen aus Toulouse, daß sie gleichzeitig mit dem jungen Sollar, welchen sie sehr genau kannten, im September 1773 zu Bagnères gewesen; 4) durch Bekundung mehrerer hundert Personen, daß sie sowohl Cazeaux als Sollar im October 1773 zu Charlas haben ankommen sehen, daß der Knabe bis zum Januar 1774 bei der Mutter seines Begleiters geblieben, schließlich ein Opfer der damals in Charlas herrschenden Blatternepidemie geworden und auf dem dortigen Kirchhofe begraben sei; 5) daß Joseph weder in Bagnères noch zu Charlas von Irgendwem wieder erkannt worden sei. Die Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt der richterlichen Beamten geht so weit, daß sie das Grab in Charlas öffnen lassen. Knochen und Schädel werden herausgenommen: der Doppelzahn ist noch vorhanden und zwar im Oberkiefer.

Trotz aller dieser Beweise will der Abbé de l’Epée seinen „vornehmen Taubstummen“ nicht verlieren; er bietet seinen ganzen Einfluß nach allen Richtungen auf, und in der That erklärt das Châtelet im Jahre 1781 den Knaben Joseph als den Grafen von Sollar und Cazeaux der Entführung etc. schuldig. Der Verurtheilte appellirt. Ihm leiht seine Feder der Vater der berühmten beiden Elie de Beaumont. Auch mit ihm nimmt der Abbé de l’Epée den Zweikampf auf dem Papiere an, und noch ist der Proceß in zweiter Instanz nicht entschieden, als am 23. December 1789 der ausgezeichnete Lehrer der Taubstummen, der Protector des jungen Grafen von Sollar, starb. Für ganz Frankreich ist eine neue Zeit angebrochen. Neue Gerichte werden in Paris eingesetzt. Auch für den armen Cazeaux ist endlich der Tag der Freiheit gekommen. Im Jahre 1792, also nach anderthalb Jahrzehnten seit der Verhaftung des jungen Mannes, wird das Urtheil des Châtelet aufgehoben und Joseph verboten, sich Graf von Sollar zu nennen.

Schon längst hatte die öffentliche Meinung aufgehört, mit den beiden Hauptpersonen des Processes sich zu beschäftigen. Joseph, von aller Welt verlassen, ließ sich – merkwürdig genug – in einem Kürassierregimente anwerben und starb bald nachher in einem Hospitale. Und keine Menschenseele dachte daran, den armen Cazeaux für die schweren Leiden langer Jahre zu entschädigen.

Wie seltsam das Benehmen und die Handlungsweise des Abbé de l’Epée in diesem Falle gewesen: es nimmt dem Manne nichts an seinem Ruhme, sich als ein Wohlthäter der Unglücklichen gezeigt zu haben, und mit Recht erklärte die Nationalversammlung, daß der Abbé de l’Epée um das Vaterland und die Menschheit sich wohl verdient gemacht habe. Noch eine hohe Ehre war ihm vorbehalten: er wird der Held eines historischen Lustspiels, welches am 23. Frimaire des Jahres VIII auf dem Théâtre français de la Republique dargestellt wird. Aus Joseph ist in dem Lustspiele Theodor geworden er ist nicht mehr der junge Graf von Sollar, sondern der Graf von Harancour. Nicht die Mutter läßt den Knaben bei Seite schaffen, sondern ein habgieriger Oheim vollführt mit Hülfe eines alten Dieners die That. Der alte Abbé de l’Epée durchwandert mit seinem Schützlinge zu Fuß ganz Frankreich, um des Taubstummen Heimath zu entdecken. Sie kommen nach Toulouse, und hier wird endlich durch die fromme Sanftmuth des hochverehrten Priesters, durch übereinstimmende Zeugnisse der starre Sinn des geizigen Oheims gebrochen: er erkennt den Grafen von Harancour an und giebt ihm sein Vermögen zurück. Am Schlusse bilden die Hauptpersonen des Stückes eine Gruppe um den Abbé, und dieser spricht: Endlich ist er wieder an seinen Herd zurückgekehrt; endlich trägt er den edeln Namen seiner Väter. O Vorsehung! Mir bleibt auf der Welt nichts mehr zu wünschen übrig, und wenn ich diese sterbliche Hülle verlassen werde, kann ich mir sagen: ich darf in Frieden ruhen, denn ich habe mein Leben wohl ausgefüllt.“

Und mit stürmischem Beifalle wird das Stück aufgenommen. Unter Thränen preist das begeisterte Publicum den Abbé de l’Epée nicht als Lehrer der Taubstummen, sondern als Beschützer des Grafen von Sollar. Hatte nicht der Franzose Recht, welcher fragte: wie viel Thoren gehören dazu, um ein Publicum auszumachen?




Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: verinnt