Ein canonisirter Heiliger, der nie gelebt hat

Textdaten
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Autor: Alfred Meißner
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Titel: Ein canonisirter Heiliger, der nie gelebt hat
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aus: Die Gartenlaube, Heft 24, S. 376–378
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Ein canonisirter Heiliger, der nie gelebt hat.
Von Alfred Meißner.

Von jeher mit Vorliebe der Lectüre von Büchern zugekehrt, welche den Glaubens- und Gedankenkreis vergangener Jahrhunderte abspiegeln, las ich unlängst mit großem Interesse eine voluminöse Chronik: Vita Papae Benedicti XIII., „das ruhm- und wunderwürdige Leben Papst Benedict’s des Dreizehnten aus dem Hause Orsini“.[1] Das lebendigste Bild Roms, wie es zu Anfang des vorigen Säculums gewesen, stand da vor mir. Im Grunde sind die Verhältnisse von den heute bestehenden nicht gar sehr verschieden. Da giebt es hundertfache Noth und Bedrängniß des päpstlichen Stuhls, zügelloses Treiben in den Kreisen des Adels und der Prälaten, eine geleerte Staatskasse, Raub, Mord und Todtschlag in den Gassen der heiligen Stadt; mitten darin aber, wie unbekümmert um alle Zeichen drohenden Zusammensturzes, steht ein Greis, unermüdlich beschäftigt durch Allocutionen und Heiligsprechungen, d. h. durch Vermehrung der himmlischen Schutzpatrone das Wohl der katholischen Menschheit zu fördern. Die Aehnlichkeit des Charakters Benedict des Dreizehnten mit dem Sr. jetzt regierenden Heiligkeit ist unverkennbar, und sieht man nun das in Kupfer gestochene Portrait Benedict’s in seinem Häublein an, so ist man neu überrascht, auch in den Zügen die größte Aehnlichkeit Beider wieder zu finden.

Vor vielem Andern interessirte mich in dieser Chronik die Beschreibung der Canonisation Johann’s von Nepomuk. Man müßte nicht in Böhmen geboren sein, um nicht eine besondere Devotion für diesen Heiligen im Blute zu haben. Er ist der Schutzpatron des Landes, er blickt von der uralten Steinbrücke Prags wie ein Schirmgott über Strom und Inseln, zu seinen Ehren entzünden sich allabendlich, sobald es dunkelt, die fünf Laternen über seinem Standbild, welche an die fünf Sterne mahnen, welche über seinem Leichnam schwammen. Sein Namensfest bringt Leben und Bewegung in die sonst so melancholisch und verdrießlich hinbrütende gefallene Königsstadt. Es fällt in die schönste Maienzeit. Mehrere Tage zuvor wogen alle Landstraßen von Wallfahrern, die sich langsam, Litaneien abbetend und fromme Lieder singend, in geschlossener Heeressäule gegen Prag bewegen. Bald wimmelt die Stadt von ländlichen Ankömmlingen in den verschiedensten Trachten: denn auch die Schwesterländer Mähren und Schlesien haben Repräsentanten geschickt. Die Brücke und die Domkirche besonders sind das Ziel aller Wanderungen. Am Vorabend des Festes gleichen die Gassen der Altstadt einem wimmelnden Ameisenhaufen. Alle Wirthshäuser sind überfüllt. Hunderte von Menschen, Männer und Frauen, welche kein Unterkommen finden oder den Schlafkreuzer sparen wollen, betten sich endlich, in landsmannschaftlichen Gruppen zusammengedrängt, einer uralten Sitte gemäß auf dem Trottoir der Steinbrücke, am liebsten in unmittelbarer Nähe des Heiligen. Tags darauf hallen alle Glocken, das Volk wandert von Kirche zu Kirche. Abends, sobald es dunkelt, füllen sich die Brücken und Quais mit Tausenden und Abertausenden. Wenn dann die Raketen in den dunkelblauen Himmel hinansteigen, auf der Spitze der Schützeninsel das „Heiliger Johannes, bitte für uns!“ in Flammenschrift erscheint und dieser sich Aller Augen zuwenden – da leugne noch Einer, daß dieser Heilige nicht lebendig im Volksbewußtsein stehe!

Die Canonisationsbulle bezeichnet Johann von Nepomuk als einen Mann, der nach göttlicher Veranstaltung zur Welt kommen mußte, „als in den von Christo gepflanzten und mit seinem Blute begossenen Weingarten ein brennender Wind ketzerischer Lehren eingebrochen.“ Da sollte er „gleichsam wie eine Schlange aufgerichtet werden.“

Er war Prager Canonicus und Beichtvater der Königin Johanna, Gemahlin Wenzel des Vierten, welche an der Seite ihres ausschweifenden Gatten ein kummervolles Leben führte. Die Acte erzählt die aller Welt bekannte Geschichte: Der König beargwohnt die Tugend seiner Gemahlin: er läßt den Beichtvater rufen und verlangt zu wissen, was ihm die Königin gebeichtet. Der Priester giebt zuerst eine ausweichende Antwort, er habe die Sünden der Königin nicht mehr im Gedächtniß; der entrüstete König, des Widerspruchs ungewohnt, läßt ihn in den Kerker werfen und foltern, und als er auch dann seinen frommen Widerstand nicht zu besiegen vermag, ihn in einen Sack binden und in die Moldau werfen. Da erglänzen sogleich fünf Sterne über den Wellen und verrathen den Ort, wo die Leiche liegt. Der König, erschreckt von diesen Zeichen, eilt in die Feste Zebrak. Alles dieses geschieht nach den Canonisationsacten im Jahre 1383.

Wo es sich um eine Heiligsprechung handelt, wird vor Allem die Frage nach den Wundern in’s Auge gefaßt, und die Rota Canonizationis, der römische Kirchenrath, wo die Heiligsprechungen verhandelt werden, hat vor Allem zu prüfen, welche Wunder dieser oder jener zu Canonisirende gewirkt hat. Die außerordentliche Gabe, als sterblicher Mensch auf Erden Wunder zu wirken, ist nämlich das sicherste Kriterium der das ganze Subject durchdringenden „heiligmachenden Gnade“. Neu stattfindende Canonisationen erwecken wohl bei Manchem einen Zweifel und er denkt so in seinem unvernünftigen Sinne: ist es nicht eine Vermessenheit des päpstlichen Stuhles, Jene zu bezeichnen, welche die Heiligen Gottes sind, und somit seinen allerhöchsten Hofstaat ausmachen? Sollte Gott auch wirklich alle als Heilige acceptiren, welche ihm die Kirche vorgeschlagen hat? Aber der Theolog hat die Antwort hierauf fertig, und zwar eine schlagende Antwort. Er sagt: Eben durch die Wunder, die aus der göttlichen Gnade fließen, und welche zu wirken dem oder jenem beschieden ist, hat Gott ja bereits angezeigt, daß ihm dieser als Heiliger convenirt, und daß er ihn in den Chor der Heiligen berufen hat. Dies ist unwiderleglich, und es wird sonach von der Rota Canonizationis nur zu erwägen sein, ob wirklich übernatürliche Thaten vorliegen. Man fordert deren vier, um desto sicherer zu gehen; jedoch kann der Heilige auch vom vierten Wunder dispensirt werden. Je mehr der Wunderwerke vorliegen, umsomehr wird die Heiligkeit eines Heiligen geschätzt, denn desto voller scheint er der Gnaden zu sein. Dessenungeachtet kann die Heiligkeit, wie auch die Theologen eingestehen, nicht allein in den Wunderwerken bestehen, sonst müßten die Mutter Gottes, sowie auch Johannes der Täufer gar nicht zu den Heiligen zu zählen sein. Von Maria ist weder in den Evangelien, noch anderswo zu lesen, daß sie ein Mirakel gewirkt, von dem heiligen Vorläufer Johannes aber steht (Ev. Joh. 10) klar geschrieben, daß er weder Zeichen noch Wunder gethan. Doch diese Beiden sind Ausnahmen von der Regel, im Allgemeinen gilt der alte Spruch: Keine Heiligkeit ohne Wunder!

Was nun das Leben des heiligen Johannes von Nepomuk betrifft, so steht es allerdings im Punkte der Wunder gegen das des heiligen Dominicus, des heiligen Franz von Assisi, des heiligen Anton von Padua weit zurück. Das Leben dieses letzteren, welcher „das Licht der Welt“ genannt wurde, ist von Wundern überfüllt. Die Anrufung seines Namens genügte Stürme zu beschwichtigen und die Menschen aus den drohendsten Lebensgefahren zu befreien; ja es schien, als ob dieser außerordentliche Heilige zürne und gewaltig unzufrieden werde, wenn man über seine eilfertige Hülfe nur den leisesten Zweifel hege! Bekannt und von allen Theologen beglaubigt ist seine Antwort an den Jesuiten Pater Coluago, die ich hier so beiläufig anführe. Ein Roß war aus dem Stall eines armen Bauersmann gestohlen worden. Die betrübte Bäuerin wußte keinen bessern Rath als zum Pater Coluago zu laufen. Dieser, als er ihre Klage vernommen, schlug die Augen gen Himmel und rief mit gewohnter Zuversicht zu seinem heiligen Vorsprecher: „Hilf, heiliger Antonius!“ Nun befahl er dem Weibe, nach Hause zu gehen, das verlorene Roß werde sich schon einfinden. Sie jedoch, die aus Furcht vor ihrem zornigen Gatten sich nicht nach Hause begeben wollte und auch der Meinung war, das Roß sei noch nicht gefunden, nahm noch einmal ihre Zuflucht zu Pater Coluago mit den Worten: „Der heilige Antonius habe noch nicht geholfen!“ Nun ergriff Coluago den ersten besten Stein, legte ihn in des Weibes Hand und sprach: „Gehe flugs in die Franziscanerkirche zum Altar des heiligen Antonius und richte ihm die Worte aus: ‚Pater Coluago lasse ihm sagen, er habe ein härteres Herz, als dieser Stein!‘“ Das Weib legte den Stein auf den Altar und ging davon, beim Rückweg [377] aber, und zwar noch in der Kirche erschien ihr der heilige Antonius mit eben diesem Stein, gab ihr diesen in die Hand und sprach: „Richte Du dem Pater Coluago wieder aus, daß sein Herz härter als Stein, indem er so oft die schnelle Fürbitte Sanct Antonii erfahren und dennoch nicht trauen will, das Roß habe sich schon eingefunden.“ Und so war es denn auch wirklich der Fall, und die Theologen, voran Sigismund Scholz von der Gesellschaft Jesu, führen diese Geschichte zum Beleg der besonderen Schnelligkeit der Hülfe an, welche der heilige Antonius bringt, und des Eifers, mit dem er jeden Zweifel in seine Hülfsbereitschaft widerlegt.

Solch auffallende Thaten hat nun allerdings Johann von Nepomuk nicht vollbracht, weder bei seinen Lebzeiten, noch später, nach seinem Tode, wo für manchen Heiligen erst die schönste Thatenlaufbahn beginnt. Seine Wunder bestehen in einigen Heilungen, in der Wiedererweckung eines Mädchens, welches in die Wattawa gefallen war, in dem Schutz seiner Vaterstadt Nepomuk vor der Pest etc. Als Heiligen bezeichnet ihn vornehmlich nach der Canonisationsbulle, daß nach seinem Morde die Moldau wie mit Flammen geleuchtet, insbesondere aber das Verhalten seiner Zunge, als der ertränkte Leichnam nach langen Jahren wieder ausgegraben wurde. Alles an ihm war Asche, die Hirnschale mit Erde angefüllt; nur die Zunge, „des sacramentalen Beichtsigills unüberwindliche Beschützerin“, war unversehrt wie die eines Lebenden, beweglich, gleichsam lebendig.[2]

Alle diese Wunder und Zeichen, wie sie theils in der Tradition lebendig vorlagen, theils noch sichtbar waren, findet man in dem Buche „Acta utriusque processus in causa canonisationis Beati Ioannis Nepomuceni. Romae 1729“ beleuchtet und einer genauen Durchforschung durch ein Zeugenverhör unterzogen. Der Proceß geht durch drei Instanzen und dauert an zehn Jahre. Wohl an fünfzig Zeugen werden vernommen und bestätigen die einzelnen Wunderthaten. Der Advocatus Diaboli mußte demnach den Kürzern ziehen und Benedict der Dreizehnte konnte die Canonisation vornehmen. Sie fand am 19. März des Jahres 1729 statt und ward noch durch ein besonderes Wunder verherrlicht, als ob der Himmel dieser Feierlichkeit noch eine ganz besondere Sanction geben wollte. Während der Papst im festlich gezierten Lateran mit seiner gebrechlichen Greisenstimme das te deum laudamus anstimmte, die Glocken läuteten und die Kanonen der Engelsburg darein donnerten, wurden die Massen des Volks, das sich draußen stieß und drängte, durch einen seltsamen Eindruck erschüttert. Ein Weib, das lange vom Teufel besessen gewesen und Italienerin von Geburt, welche ihr Lebtag kein Wort Deutsch gekannt, fing auf einmal in dieser Sprache zu reden an, wobei der böse Feind von ihr wich und sie, ohne daß ein Exorcismus bei ihr in Anwendung gebracht worden wäre, allerlei Glas, Nadeln, Haare durch den Mund von sich gab.

Dies Alles giebt einen festen Unterbau von Wundern und Zeichen, und doch – man muß wirklich sagen, daß es ist, als hätten alle Zweige der Forschung sich das Wort gegeben, nichts von alledem gelten zu lassen, was die Kirche statuirt! Vom Augenblicke an, wo die Geschichte Böhmens einer wissenschaftlichen Behandlung anheimfiel, mußten die Gelehrten es auffallend finden, daß die Geschichte wohl einen Johann von Pomuk kennt, dieser aber ein ganz Verschiedener von dem ist, den die Canonisationsacte bezeichnet! Eine kritische Opposition war zwar schon 1747 rege geworden, jedoch fast unbeachtet geblieben, später erst, da die böhmische Geschichte immer mehr Bearbeiter fand, konnten arge und weit um sich greifende Bedenken nicht mehr unterdrückt werden. Des Prager Canonicus, der 1383 ertränkt worden sein sollte, erwähnte kein gleichzeitiger Chronist, ja die Archive wiesen nach, daß es keinen Canonicus dieses Namens gegeben, hingegen war allerdings zehn Jahre später ein Priester Johann von Pomuk ertränkt worden, jedoch aus ganz anderen Ursachen. Er war in seiner Stellung als Generalvicar mit König Wenzel wegen der Abtei Kladrub in Streit gerathen, weil er den neuerwählten Abt Albert Olonus dem königlichen Willen entgegen bestätigt.

Es gab, als diese Thatsache aufgestellt wurde, einen argen Lärm. Broschüren folgten auf Broschüren. Der Ritter von Reinsberg, der zuerst den Muth zu „kritischen Bemerkungen“ gehabt, eilte nach München und fand im dortigen Staatsarchiv, daß die Königin Johanna bereits im Jahre 1386 gestorben, somit schon sieben Jahre todt gewesen sei, als der wahre Johann von Pomuk in die Moldau gestürzt wurde. Somit gab es keinen Märtyrer des Beichtsigills mehr, und der freche Reinsberg wagte 1783 den Ausruf, der in einer in Böhmen erschienenen Schrift kühn war, (freilich war damals die Presse freier als heutzutage): „so hat man einen Heiligen canonisirt, der nie gelebt hat!“

Jetzt versuchten Andere die beiden Gestalten in eine zusammenzuschweißen, dies aber wollte durchaus nicht gehen, da einerseits die Canonisationsacten, andererseits die Geschichte so klar sprechen. Und da nun die Existenz des canonisirten Johann von Nepomuk nicht geleugnet werden durfte, die des historischen nicht geleugnet werden konnte, suchte ein seltsamer Kauz, Pater Jos. Zimmermann in seinem Büchlein: „Vorbothe der Lebensgeschichte des heiligen Johann von Nepomuk. Prag 1829“ einen neuen Ausweg: er nahm zwei Johanne an, und nach seiner Auffassung gestaltet sich die Sache so:

In dem kleinen Städtchen Pomuk, welches dazumal höchstens dreißig Familien zählte, werden unter der Regierung Karl’s des Vierten zwei Kinder männlichen Geschlechts geboren, welche beide den priesterlichen Stand erwählen, beide im Lauf der Jahre zu hohen Würden gelangen, beide Johann von Nepomuk heißen und beide unter König Wenzel den Tod in der Moldau finden. Ihr Lebenslauf theilt sich folgendermaßen:

Johann, geboren zu Nepomuk, Prediger an der Theinkirche, Domherr an der Prager Hauptkirche, ist Beichtvater der Königin Johanna.
Die Canonisationsacte weiß von ihm viele Wunder zu erzählen.
Er erregt den Zorn des Königs, weil er die Beichte der Königin Johanna nicht verrathen will.
Er erleidet den Tod in der Moldau 1383.
Er findet sich im Kalender,
Johann, geboren zu Pomuk, öffentlicher Notar. Domherr auf dem Wischehrad, Doctor des kanonischen Rechts, ist Generalvicar.

Die Geschichte weiß von ihm keine Wunder zu erzählen.
Er erregt den Zorn des Königs, der in der Abtei Kladrub ein Bisthum errichten will, weil er bei Erwählung eines neuen Abtes diesen ohne weiteres bestätigt.
Er erleidet den Tod 1393.
Er findet sich in der Geschichte, aber nicht im Kalender.

Die Annahme zweier Johanne hatte den Stempel unwillkürlicher Komik an sich. So gut gemeint das Büchlein war, erregte es großen Anstoß und wurde unterdrückt. Nur wenig Exemplare haben sich erhalten.

Seitdem schläft die Frage nach dem problematischen Heiligen; selbst Palacky weicht in seiner Geschichte Böhmens jeder Erörterung vorsichtig aus, der Cultus der heiligen Persönlichkeit aber wächst und steigert sich mit den Jahren, deren jedes mehr Wallfahrer herbeiführt. Der Forscher, allein unter solchen Menschenwogen, sieht alle Anstalten zur Andacht, die Lichter und Lampen und geschmückten Altäre; in sich kann er es nicht verhindern, daß solche Feste ihn zu interessanten Schlüssen führen. Er sieht ja, wie die Entstehung legendrischer und mythischer Persönlichkeiten noch bis in die letzten Jahrhunderte reicht und somit vielleicht noch immer stattfinden kann. Thatsächlich verhält es sich mit dem wahren Johann von Nepomuk und seinem legendrischen Namensbruder wie mit gewissen Helden auf dem Gebiete der Poetik. Der Dichter kann zuweilen den Helden nicht so brauchen, wie die Geschichte ihn bietet, er versetzt Jahreszahlen, ändert Motive, legt ihm Ideen unter, welche ihm wirksamer scheinen, und so kommt es, daß wir manchmal, wenn das Werk geräth, zwei Persönlichkeiten, neben der historischen eine poetische erhalten, und daß die poetische Persönlichkeit endlich die historische ganz in den Schatten drängt. So existirt neben dem poetischen Egmont ein historischer, neben dem poetischen Don Carlos und Wallenstein ein anderer geschichtlicher Don Carlos und Wallenstein, der jenem gar nicht einmal recht ähnlich sieht. Das heilige Offiz, das den in die Moldau geworfenen Mann canonisirte, war auch ein solcher Dichter, der den Helden nicht so brauchen konnte, wie er vorlag. Einen Geistlichen zu canonisiren, weil er für die Superiorität der geistlichen Macht über die weltliche eintrat, das lag nicht im Ideenkreise des verflossenen Jahrhunderts, daher mußte das Motiv ein [378] anderes werden, und so wurde die Fabel vom Beichtgeheimniß hereingezogen. Und was ist nun die Folge? Der Johann von Pomuk, der geschichtlich gelebt, keine Wunder verrichtet und noch mit zwei Andern den Tod gefunden, ist nun ganz zurückgetreten, sein Andenken erloschen, sein Name lediglich in Büchern vorhanden. Der Andere dagegen, der legendrische, ist wahrhaftig und viel im Bewußtsein der Menge lebend. Er lebt in Inschriften, Gebeten, Hymnen, Gemälden, Statuen, Anniversarien. Und wenn er auch in der Geschichte nie vorhanden war, im Kalender findet er sich unbestreitbar, und somit wohl auch im Himmel!



  1. Frankfurt bei Christ. Riegel. 1831.
  2. Sie theilt diese Eigenschaft mit der Zunge des heiligen Anton von Padua, welche in dieser Stadt, in welcher er starb, ebenso bewahrt wird, wie die Zunge des heiligen Nepomuk in Prag.