Ein Zweig der Kriegsindustrie

Textdaten
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Autor: Rudolf Elcho
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Titel: Ein Zweig der Kriegsindustrie
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 24, S. 401–402
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[401] Ein Zweig der Kriegsindustrie. Die Kriegsfurie rastet auf der Balkanhalbinsel, aber wir, die wir als bloße Zuschauer die Blicke nach dem Kriegstheater im Süden richten, wir befürchten, daß sie nur Athem schöpfe, um das grauenvolle Zerstörungswerk von Neuem zu beginnen und ihr Ziel doch endlich zu erreichen. Rußland gleicht einem jungen Riesen, welcher verschmachtet, wenn er kein offenes Meer hat. Darum hämmert er seit Peter’s des Großen Zeiten gegen die morsch gewordene hohe Pforte, welche ihm den Zugang zum mittelländischen Meere verschließt. England, dessen Industrie und Handel in hohem Grade von den indischen Colonien abhängig sind, fürchtet das Wachsthum der nordischen Macht und will um jeden Preis verhüten, daß man den Suezcanal, seine wichtigste Handelsstraße, gefährde. So stehen sich jetzt wieder die beiden großen Nationen feindselig gegenüber. Auch der zweite Congreß kann wieder mit einem Kriege schließen, und der russische Koloß hat sich darauf vorbereitet.

Dieser Kriegsvorbereitung danken wir in Deutschland das Auftauchen einer ganz eigenartigen Industrie. Es ist eine Gelegenheitsindustrie; sie kommt gleich der regenschweren Wolke am heißen Tage, tränkt das durstige Land und verschwindet wieder. Ich spreche von der Anfertigung von Kriegszelten für die russische Armee. Wenn ich den freundlichen Leser bitte, dieser vorübergehenden Erscheinung eine nähere Betrachtung zu schenken, so geschieht es, weil erstens diese Industrie eine ganz eigenartige ist; zweitens, weil dieselbe für wenige Monate etwa dreitausend unbeschäftigten Arbeitern in Berlin Brod verschafft und zum Mindesten ebenso vielen Webern in Schlesien, Westfalen und am Rhein, und endlich, weil dieselbe ein rühmliches Zeugniß für die Leistungsfähigkeit unserer Textilindustrie ablegt.

[402] Die russische Regierung hatte vor einigen Monaten, als England zu rüsten begann, eine Bestellung aus vierhunderttausend Kriegszelte, oder besser Zeltteile zu vergeben, und da die einheimischen Industriellen diese Lieferung bis Mitte Juni nicht auszuführen vermochten, so schloß sie mit zwei Berliner Firmen ab. Von diesen fällt den Herren Frankenstein und Mannheim der Löwenantheil des Auftrags zu. Dieselben machten sich verbindlich, bis zum 16. Juni zweihundertfünfundfünfzigtausend Zelttheile für die Gemeinen und zehntausend Officierszelte zu liefern, wozu etwa eine Million Meter Leinwand verbraucht werden. Die Firma wandte sich sofort an die Weber Schlesiens und des Rheinlands, und ihre Aufträge wurden in der arbeitslosen Zeit überall mit Freuden begrüßt, namentlich aber von den Webern des Zillerthals. In Berlin schlug sie ihre Werkstätten in der Beuthstraße auf. Die Zelttheile zu nähen übernahm Singer’s Manufacturing Company, die Zufuhr der Leinwand sowie die Verschickung der fertigen Zelttheile das Speditionsgeschäft von E. Jacob und Valentin in Berlin.

Hier wollen wir vorausschicken, daß die russischen Lagerzelte, wie sie in der Beuthstraße gearbeitet werden, dem französischen System angehören. Die Franzosen kannten vor der Eroberung Algiers so wenig wie wir in Deutschland den Comfort eines Zeltes für den im Felde stehenden Soldaten. Als aber die Franzosen nach Algier kamen und in den baumlosen Ebenen die versengende Gluth der Sonne spürten, sah die Militärverwaltung ein, daß der Soldat so gut sein Lagerzelt haben müsse wie der Beduine. So wurde das Sommerzelt erfunden. Das französische Zelt besteht aus sechs Theilen in quadratischer Form. Jedes dieser Leinwandstücke mißt hundertfünfundsechszig Centimeter in der Länge und der Breite, hat einen starken Rand, und in diesem Rande in haarscharf abgemessenen Zwischenräumen starke Oesen. Jeder Soldat trägt ein solches Leinwandstück, das sechstel eines ganzen Zeltes, in seinem Tornister, ferner einen Zeltstock, der, um ihn bequem transportiren zu können, in zwei Theile getheilt ist und vermittelst einer Messinghülse wieder verbunden wird. Treten nun sechs Soldaten zu einem Consortium zusammen, so sind sie in der Lage, ein gemeinsames Zelt aufzuschlagen, denn die Oesen der verschiedenen Zelttheile passen genau auf einander und werden durch dünne Stricke wie durch eine grobe Naht mit einander verbunden. Man rammt nun zwei Zeltstöcke in die Erde und verbindet diese an den oberen Spitzen durch horizontalliegende Stäbe. Mit Hülfe dieser Stütze richtet man vier zusammengefügte Leinwandflächen zu einem Schutzdache auf, das an den unteren Enden durch Holzpflöcke an der Erde festgehalten wird. Die beiden noch übrig bleibenden Zelttheile verwendet man, um die zwei offenen Seiten des Zeltes zu bedecken.

Die Zelttheile haben ein geringes Gewicht und sind leicht unterzubringen. Legt man sie einfach zusammen, so geben sie die denkbar bequemste Tragbahre ab zum Fortschaffen der Verwundeten. Außerdem gewährt die wasserdichte Leinwand dem Soldaten eine trockene und weiche Unterlage, wenn er sich auf feuchtem Boden auszustrecken gedenkt. Die Officierszelte, welche mit dem Bagagewagen transportirt werden, sind einundeinfünftelmal größer, als jene der gemeinen Soldaten; im Uebrigen werden sie gleich einfach construirt.

Was nun die Anfertigung der Zelte betrifft, so werden hier durch die Arbeitsteilung überraschende Resultate erzielt. Treten wir in den großen Arbeitssaal, in welchem dreihundert Arbeiter und Arbeiterinnen beschäftigt sind, so erhalten wir ein erstaunlich lebendiges Bild hastiger Geschäftigkeit.

Bei Tagesanbruch senden die Spediteure schon ihre Geschirre an die verschiedenen Bahnhöfe, um die einlaufende Leinwand der Fabrik zuzuführen. Hier in den Arbeitssälen werden die Ballen ausgepackt und jedes Stück vermittelst einer Rolle aufgewickelt und über einen Meßtisch geführt. Auf dem Meßtisch wird das Stück Leinwand in zwanzig Zelttheile zerschnitten. Diese zwanzig Theile werden nach dem Ausgebetisch getragen, wo bereits die Näherinnen stehen, welche dieselben in Empfang nehmen, um die Bahnen an einander zu nähen und den Saum mit der Singermaschine aufzusetzen; jede von ihnen besitzt einen Maßstab, welcher genau die Länge und Breite angiebt. An einem anderen Tische werden die fertig genähten Stücke zurückempfangen. Diese wandern dann zuerst in die Hände flinker Arbeiterinnen, welche mit blauem Stift die Stelle markiren, welche durchlocht werden soll. Eine Anzahl kräftiger Männer schlägt mit der Stanze die Löcher ein, dann gehen die Zelttheile in die Hände der Arbeiterinnen über, welche jene Messing-Oesen aufzuschlagen haben, durch die der Rand des kreisförmigen Loches vor dem Aufschlitzen bewahrt wird. Ist das Zelttheil fertig, so macht es den Weg nach den Abnahmetischen. Drei russische Agenten sind mit dem Geschäft der Abnahme der Lieferung betraut. Jeder von diesen steht mit zwei Gehülfen vor einem Meßtisch, welcher genau dieselbe Quadratfläche hat, die das Zelt besitzen soll. Man breitet nun das letztere auf dem Tische aus, und decken sich seine Ränder genau mit jenen des Tisches, so wird es angenommen und zur Erde geschoben, wo es Arbeiter aufraffen und zur Packkammer tragen. Die Abnahme geschieht gleichfalls in großer Eile, denn es werden täglich etwa fünftausend Zelttheile angefertigt, und alle müssen über jene drei Meßtische wandern. In der Packkammer werden je hundert Zelte zu einem Ballen verpackt und durch die Firma Jacob und Valentin nach Petersburg befördert.

So werden in wenigen Wochen hier Zelte genug angefertigt, um ein ganzes deutsches Fürstenthum oder eine Provinz damit zu beschatten. Diese transitorische Erscheinung auf dem industriellen Gebiet hat unserer notleidenden Arbeiterbevölkerung großen Segen gebracht.

Was nun die Annehmlichkeiten des Zeltes für den Soldaten betrifft, so darf man sich keinen ausschweifenden Vorstellungen hingeben. So viel ich in den Feldzügen des letzten amerikanischen Bürgerkrieges erfahren habe, bietet das Zelt gegen Hitze und Kälte beinahe gar keinen Schutz. Es ist wahr, daß es in heißen Länderstrichen etwas die sengende Gluth der Sonnenstrahlen abschwächt, allein es raubt uns dafür auch manchen frischen, erquickenden Luftzug. Ist die Luft im Zelte einmal heiß geworden, so dauert es immer eine Zeit lang, bis die schwüle Atmosphäre durch den kühlen Abendwind wieder verdrängt wird. Dann hat das Zelt den Nachteil, daß sich Mosquitos und anderes Geschmeiß mit Vorliebe in seinem Bereich aufhält. Haben sich diese Blutsauger einmal in’s Zelt verirrt, so kann man die Quälgeister nur dadurch los werden, daß man sie ausräuchert. Der arme Soldat muß aber dann selber sein hartes Lager aufgeben und sich eine Zeit lang im Freien ergehen.

Den größten Dienst leistet uns das Zelt dadurch, daß es den kalten und höchst gesundheitsgefährlichen Nachtthau abhält. Und gerade aus dieser Rücksicht ist es für die russische Armee von hohem Werth, denn auf der Balkanhalbinsel erzeugt der stark fallende Nachtthau bekanntlich sehr bald Fieberkrankheiten der schlimmsten Art. Auch als Schutz gegen Regengüsse ist das Zelt wirksam, wenn seine Bewohner es mit guten Wassergräben umziehen. Bei heftigen Gewittern freilich hat man mit dem leinenen Schutzdach seine liebe Noth. Noch sind mir die Sommermonate vor Bicksburg lebhaft im Gedächtniß, in denen wir unterm Zeltdach Scenen der tragikomischsten Art erlebten.

Bei alledem kann der an das Lagerleben gewöhnte Soldat das Zelt lieb gewinnen, und es verwebt sich eng mit seinen Vorstellungen. Der geniale Feldherr der amerikanischen Südstaaten, Stonewall Jackson, liefert den besten Beweis dafür, denn er starb mit den Worten: „Laßt uns über den Strom setzen und unsere Zelte im Schatten aufschlagen!“

R. Elcho.