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Titel: Ein Volksfest in London
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aus: Die Gartenlaube, Heft 32, S. 464
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[464] Ein Volksfest in London. Gestern sprangen im Krystallpalast zum ersten Mal in diesem Jahr alle Fontainen bei einem Schilling Eintrittspreis. Es fand zu gleicher Zeit ein Gesangsfest von 6000 Kindern der Armenschulen statt. Ich nenne dies eben ein Fest, sollte es aber auch als Volksfest bezeichnen, da der Zweck nicht allein der war, der größeren Menge des Publicums einen Genuß zu bieten, der sonst z. B. in der St. Paulskirche nur einer sehr beschränkten Anzahl Personen verschafft werden kann, sondern auch die Kinder von dem dort nothwendigen Zwange zu befreien und ihnen wirklich eine Erholung zu bereiten.

Das Wetter war herrlich, obgleich es am Morgen mit Regen gedroht hatte. Der Krystallpalast ist so oft beschrieben worden, daß es hier nicht am Orte sein kann, von den Einzelnheiten der ganzen großartigen Anlage zu sprechen. Es soll nur versucht werden, annähernd eine Vorstellung von dem herrlichen Anblicke zu geben, der sich bei dem musikalischen Theile des Festes im großen Mittelschiffe darbot.

Stelle man sich im großartigsten Maßstabe die Hälfte eines Amphitheaters vor, auf zahllosen Stufen 6000 Kinder, in der Mitte derselben eine mächtige Orgel, der Hintergrund von einem wirklichen Künstler als der Himmel dargestellt; Knaben und Mädchen immer strahlenförmig getheilt, unten, näher dem Mittelpunkte, in Kreisen abwechselnd; dabei mit vielem Geschick die blauen, weißen, rothen, schwarzen Anzüge der einzelnen Schulen mit Berücksichtigung des Effectes benutzt, so daß das Ganze – schließlich wie übersäet mit den weißen Häubchen, Schürzen und langen Handschuhen der kleinen Mädchen, einen überaus pittoresken Anblick darbot. –

Gegenüber den Kindern befanden sich unter dem Krystalldache 21,793 Personen, jede in einem bequemen Sessel.

Als die 6000 Kinder zuerst in Masse den 100sten Psalm wie aus einem Gusse anstimmten, da ist sicher unter Allen kein Herz ungerührt geblieben. Tausende standen unwillkürlich auf, Tausende nahmen die Hüte ab, Vielen rannen Thränen herab. Schreiber dieses gehört zu denen, die auf’s Innigste gerührt wurden.

Eine mächtige Wirkung brachte das vierte Stück, das Mendelssohn’sche „Sleepers, wake! A voice is calling“ hervor, namentlich wenn die Kinder am Ende beim „to meet Your Lord“ das d über fünf Takte aushielten, und das unterhalb der Orgel aufgestellte Trompeterchor mit den Stimmen und den sanften Tönen der Orgel vereint zum pianissimo verschwammen.

Die sehr schwierige Aufgabe wurde mit großem Geschick gelöst und das Ganze mit einer bewunderswerthen Präcision von einem einzigen Herrn, Mr. Bates, dirigirt, der sich in der That großen Ruhm dabei erworben hat. Die Orgel wurde durch Mr. Cooper meisterhaft mit Berücksichtigung der Verhältnisse gespielt.

Als der letzte Ton des National-Anthem’s: „God save our gracious Queen“ kaum verhallt war, erhoben sich die Tausende von Knaben, Tücher wehend, der Königin viele Hochs auszubringen, in das 21,000 Zuschauer jubelnd, mit Hüten und Tüchern wehend, mit einstimmten.

Es war ein schönes, lebendiges Bild.

Schreiber dieses saß auf erhöhter Tribüne, gerade der Mitte der Orgel gegenüber. Der Zufall führte neben ihn einen Farmer der bessern Classe aus Kent, mit seiner eleganten Frau und Tochter. Das Gespräch kam auf den Gottesdienst und das Schulwesen in England. Dieser einfache Mann stimmte, wie man das überall hört, auch damit überein, daß hier in der Kirche zu viel, für die Schule zu wenig geschehe. Es müsse das anders werden. Thatsächlich gab er durch eine Frage für das Letztere einen schlagenden Beweis. Er hatte nämlich mit Vergnügen und Aufmerksamkeit zugehört, als ich ihm von unserem einfachen Kirchendienste erzählte, meinte dann, ja das wäre recht schön, aber ich möchte ihm die Frage verzeihen: „ob wir denn in Deutschland die griechische Religion hätten?!“ –

Nach dem Springen aller Fontainen, die durch ihre vielen Millionen Tropfen bei der im Westen rückwärts herabsinkenden Sonne über die weiten Rasen hin viele Regenbogen schufen, begannen die zahlreichen Schaaren sich mehr zu vertheilen und sich ihren verschiedenen Vergnügungen hinzugeben. Nichts war eigenthümlicher, als die einzelnen Schulen in Reihen zu zwei, ihren Lehrer oder die Lehrerin voran, die kleinen weißen oder schwarzen, blauen oder rothen Häufchen geordnet, in den verschiedensten Richtungen den Park nach ihren Spielplätzen durchkreuzen zu sehen.

Dergleichen Feste sind uns in Deutschland unbekannt, und wo einzelne Schulen verunglückte Versuche gemacht haben, da ist es nie ein wirkliches Volksfest geworden, nie ein Fest, das den Charakter einer großen harmlos heiter versammelten Familie trägt.

Hier bildeten sich Hunderte von Kreisen zum Spiel; auf Criquetspielplätzen wimmelte es; auf den Büchsenständen, oder beim Bogenschießen, oder auf den vielen Gondeln überall frohe, glückliche Menschen. Wo nur ein Schattenplätzchen zu finden war, hatten sich Familiengruppen im Grase liegend gebildet, unter ihnen stets mehr oder weniger von den kleinen uniformirten Kindern. Man konnte nichts Anziehenderes sehen, als wie ohne Unterschied die Kinder als gemeinschaftliche Gäste angesehen wurden, wie man sich freute, ihnen irgend etwas bieten, sie erquicken zu können. Als Curiosum will ich nur erzählen, daß 200 Dutzend große Schweinepasteten mit Eiswasser ad libitum von ihnen vertilgt wurden. Dabei habe ich mit der größten Aufmerksamkeit auch kein einziges Kind weinen oder mit einem anderen sich streiten sehen. –

Ein solches Fest, für einen geringen Preis allen Classen der Gesellschaft zugänglich, verliert zuvörderst den ausschließlichen Charakter einer Schaustellung, feuert die Kinder an und trägt entschieden zur sittlichen Hebung des Volkes bei. –