Textdaten
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Autor: Jodocus Donatus Hubertus Temme
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Titel: Ein Vertheidiger
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 7–10, S. 97–100, 113–116, 129–132, 145–148, 150
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Text auch als E-Book (EPUB, MobiPocket) erhältlich
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[97]
Ein Vertheidiger.
Von J. D. H. Temme.


In dem geräumigen Schwurgerichtssaale befand sich eine zahlreiche Zuschauermenge. Sie gehörte meist den höheren Ständen aus der Stadt und der Nachbarschaft an. Der Fall, der verhandelt werden sollte, hatte in der Gegend eine Berühmtheit erlangt und betraf Personen und Verhältnisse der höheren Stände. Ein adliger Gutsbesitzer der Gegend hatte bei seiner schönen Frau einen jungen Officier betroffen und ihn niedergeschossen. Er hatte dem Paare, gegen das ihm schon seit einiger Zeit Verdacht erweckt war, aufgelauert; er war daher der vorbedachten Tödtung, des Mordes, angeklagt, und seine Strafe war, wenn die Geschworenen ihn schuldig erklärten, die Strafe der Hinrichtung durch das Beil.

Ob die Geschworenen ihn schuldig erklären würden, das war die allgemeine Frage, die den Zuschauerraum des Gerichtssaales mit allen den erwartungsvollen Menschen gefüllt hatte. Auch ich hatte mich hinbegeben. Nicht der Schreiber dieser Zeilen. Dieser hat seit zehn Jahren sein deutsches Vaterland nicht wiedergesehen, und die Geschichte, die er hier niederschreibt, ist erst vor wenigen Jahren in Deutschland passirt. Aber ein Freund aus der Heimath besuchte ihn im vorigen Sommer und erzählte ihm, was hier niedergeschrieben werden soll, und der Schreiber führt den Freund erzählend ein.

Ich war fremd in der Stadt, auf der Durchreise nach der etwa sechs Meilen entfernten Hafenstadt. Einen Abend vorher hatte ich im Gasthofe nur von dem morgenden Criminalfalle sprechen hören; ich war kein großer Freund der Schwurgerichte und theilte um so mehr die allgemeine Spannung. Ich mußte der Verhandlung der Sache beiwohnen. In der Hafenstadt kam ich auch am zweiten Tage noch früh genug an.

„Ist die Sache so klar, wie ich von allen Seiten höre,“ hatte ich gefragt, „wie kann man dann zweifelhaft sein, ob die Geschworenen verurtheilen werden?“

„O, mein Herr,“ war mir geantwortet worden, „der Angeklagte wird von dem berühmtesten Advocaten der Residenz vertheidigt.“

„Können denn die berühmten Advocaten Ihrer Residenz den hellen Tag zur Nacht, oder schwarz zu weiß machen?“

„Hm, mein Herr, der Zufall hat eigenthümlich bei der Auswahl der Geschworenen gewirkt.“

„Entschuldigen Sie, an einen Zufall bei der Auswahl der Geschworenen glaube ich nicht recht.“

„Mein Herr, die Geschworenen sind ausgeloost!“

„Ah –! Aber wie ist die Stimmung der Beamtenwelt gegen den Angeklagten? der Regierungs- und Gerichtspräsidenten, die doch auch bei jener Ausloosung gewirkt haben?“

Man zögerte mit der Antwort.

„Der Ermordete,“ sagte endlich Einer, „war Officier und gehörte den ersten adligen Familien des Landes an.“

„Und der Angeklagte?“

„Er ist fremd hier. Er hat sich erst vor anderthalb oder zwei Jahren in der Gegend angekauft und niedergelassen.“

„Aber, mein Herr,“ nahm ein Anderer etwas eifrig das Wort, „Sie werden nicht glauben, daß diese Umstände auf die Verhandlung und Entscheidung der Sache irgend welchen Einfluß ausüben können!“

„Ich bin entfernt davon, meine Herren. Indeß die Geschworenen?“

„Sind meist Personen aus den mittleren Ständen: reiche Bauern, wohlhabende Handwerker, kleine Kaufleute.“

„Und,“ fiel der Eifrige ein, „kein einziger pensionirter Officier ist dabei, und nur drei Adelige auf sechsunddreißig Geschworene; Sie müssen zugeben –“

„Daß da der Zufall allerdings auffallend unparteiisch gewirkt hat!“

„So meine ich.“

Es war indeß in der Gasthofsgesellschaft Einer, der nicht eifrig war und der Meinung des Eifrigen nicht zu sein schien.

„Solche Leute aus den mittleren Ständen,“ meinte er, „pflegen zuweilen verzweifelt mittelmäßig an Kopf und Charakter zu sein und eines Führers zu bedürfen, dem sie dann um so unbedingter folgen, je fremder ihnen das Gebiet ist, das sie betreten sollen.“

„Um so mehr,“ warf der Eifrige ein, „würden sie dem berühmten Advocaten aus der Residenz folgen.“

„Ich meine, um so weniger. Von dem berühmten Advocaten aus der Residenz wissen sie eben nichts, als daß er ein berühmter Advocat ist, und die Berühmtheit eines Advocaten bringt die Menge nur zu leicht in Verbindung mit Pfiffen und Kniffen, mit Schlichen und Rechtsverdrehungen; da ist man auf der Hut und sieht sich um so angelegentlicher nach einem anderen, als bewährt bekannten Führer um, und das ist der Präsident des Schwurgerichts, den eben Jedermann kennt.“

„Und wer ist der Präsident des Schwurgerichts?“ fragte ich.

„Ein braver Mann und ein tüchtiger Jurist, der in allgemeiner Achtung steht.“

So meinte ich!“ sagte in einem etwas eigenthümlichen Ton der, der dem Eifrigen opponirt hatte. Und von einer Opposition konnte in dem öffentlichen Gasthofe der Provinzstadt nicht weiter die Rede sein.

[98] Der Zuschauerraum des Gerichtssaales war gefüllt. Herren und Damen waren da, vom Militär und Civil. Die Damen und die Officiere saßen in den vorderen Bänken, weniger vornehme Herren und Damen hinten. In einer deutschen Provinzstadt ordnet sich auch so etwas. Die Geschworenen waren ebenfalls schon da, alle sechsunddreißig. Es fehlte kein einziger. Sie saßen in drei geraden Reihen auf den drei langen Bänken. Man übersah so die kräftigen, braven, mitunter intelligenten Gesichter der reichen Bauern, der wohlhabenden Handwerker, der kleinen Kaufleute. Die drei adeligen Herren unter ihnen zeichneten sich fast nur durch ihre wohlgepflegten Vollbärte aus.

Die Richter waren noch nicht da. Aber der Staatsanwalt, der öffentliche Ankläger, saß schon auf seinem hohen Sessel vor seinem Pulte, in Acten blätternd. Er war ein Mann in mittleren Jahren, mit dem vollen Ausdrucke der Klugheit, der Ruhe und des Ehrgeizes in dem angenehmen Gesichte. So müssen Staatsanwälte sein; denn sie müssen Carriere machen – wenn sie schon in mittleren Jahren sind, Präsidenten werden.

Gensd’armen und Gerichtsdiener standen, Wache haltend, an den Seiten des Saales. Eine Uhr oben im Saale schlug neun Uhr, und um diese Zeit sollten die Gerichtsverhandlungen beginnen. Eine Thür öffnete sich, und ein Gerichtsdiener trat in den Saal. Das Gericht folgte ihm, voran der Präsident, hinter ihm die vier anderen Richter. Sie nahmen ihre Plätze an dem langen Tische ein. Der Präsident eines Schwurgerichts pflegt ein aristokratischer Mann, die Mitglieder pflegen gewiegte Männer der Bureaukratie zu sein.

Drei Minuten darauf wurde der Angeklagte in den Saal geführt. Sein Vertheidiger trat mit ihm ein. Die allgemeine Aufmerksamkeit wandte sich den beiden Männern zu, die heute eine bedeutende Rolle spielen sollten, von denen der Eine um sein Leben kämpfen, der Andere jenem beistehen sollte, sein Leben zu rette. Der Eine, der Angeklagte, war den Anwesenden nur wenig bekannt, den Anderen kannte vielleicht noch Niemand.

Der Angeklagte war ein schöner, junger Mann von einigen dreißig Jahren, mit einem blassen, etwas südlich geformten Gesichte, mit großen, dunklen, kühn blitzenden Augen, mit einem stolzen, raschen, entschlossenen Wesen.

Sein Vertheidiger, der erste Advocat der Residenz, war ein Mann von mittlerer Größe, etwas mager; das hellblonde Haar lag glatt an, das frische, nichts weniger als markirte Gesicht war unbeweglich; die hellblauen Augen blickten klar und ruhig; seine Bewegungen waren leicht und doch etwas gemessen.

„Das der erste Advocat des Landes?“ fragte man sich, nachdem man den Mann betrachtet hatte. „Man sieht ihm nicht einmal besondere Klugheit an. Nur gutmüthig scheint er zu sein. Ah, er will schon vor den Geschworenen ein Ruhespiel aufführen und sie dadurch gewinnen. Da kommt er hier schlecht an!“

Der Präsident des Gerichts verkündete den Anfang der Verhandlung. Die zwölf Geschworenen für die Sache wurden ausgeloost. Weder der Staatsanwalt noch der Vertheidiger verwarfen einen von ihnen. Das Loos hatte in bunter Mischung die kleinen Leute getroffen, reiche Bauern, wohlhabende Handwerker, kleine Kaufleute. Von den drei adligen Herren war nur einer aufgerufen.

Die Herren, mit denen ich am Abend vorher im Gasthofe gewesen war, warfen mir fragende Blicke zu, ob ich auch hier nicht an den Zufall des Looses glauben wolle. Ich verbeugte mich gläubig gegen sie.

Die ausgewählten Geschworenen nahmen ihre Plätze ein.

Der Präsident fragte den Angeklagten nach seinen persönlichen Verhältnissen.

„Ihr Name?“

„Joseph Maria Freiherr von Wallberg.“

„Ihr Alter?“

„Zweiunddreißig Jahre.“

„Wo sind Sie geboren?“

„Zu Valencia in Spanien.“

„Sie führen einen deutschen Namen!“

„Mein Geschlecht ist ein altes deutsches Adelsgeschlecht. Mein Vater war als junger Officier nach Spanien gegangen. Er heirathete in Valencia eine edle, reiche Spanierin. Ich verließ nach dem Tode meiner Eltern meine Heimath, reiste mehrere Jahre und ließ mich vor zwei Jahren in dem hiesigen Kreise nieder.“

„Sie sind verheirathet?“

„Ja.“

„Ihre Ehe ist ohne Kinder?“

„Ja.“

Der Prästdent ließ die Zeugen hereinrufen. Es waren zwei junge Officiere, Cameraden des Ermordeten, ferner Diener und Dienerinnen aus dem Schlosse des Angekagten und Landleute aus der Gegend. Sie wurden vereidigt und wieder entlassen.

Die Anklageschrift wurde durch den Gerichtsschreiber verlesen.

Der Freiherr Joseph Maria von Wallberg war seit drei Jahren verheirathet mit Therese Ida von Hauenstein, Tochter des –schen Consuls in New-York, die er während seines Aufenthaltes dort kennen gelernt, und mit der er bald nach der Trauung nach Europa gegangen war, um zunächst sein Vermögen in Spanien zu realisiren und sich dann in Deutschland, dem Beide durch ihre Familien angehörten, niederzulassen. Er hatte vor zwei Jahren das Gut Hard, vier Meilen von der Stadt entfernt, angekauft und dort seinen Wohnsitz genommen. Die beiden Gatten machten ein angenehmes Haus. Sie waren reich, gastfrei, jung, liebenswürdig; sie liebten die Wissenschaften, die Künste; die Frau war schön, geistvoll, musikalisch; der Mann war lebhaft, ein muthiger Reiter, ein rastloser Jäger. Das Schloß Hard sah beinahe täglich Gesellschaft, und die Gesellschaft war die ausgesuchteste der Gegend. Die Liebe der beiden Gatten zu einander war eine innige, zärtliche. Auf Seite der Frau schien es wenigstens so. Das angenehme Leben auf Schloß Hard, das Glück der Ehegatten war durch nichts gestört. Da trug sich vor einem Vierteljahr, am Dienstag, den 10. April, Folgendes zu.

Der Angeklagte hatte an diesem Tage des Morgens früh das Schloß verlassen, um nach H. zu verreisen, wo er Geschäfte hatte. Wie gewöhnlich, wenn er dahin reiste, was öfters der Fall war, ritt er allein und ohne Bedienten bis zu der nächsten, eine Meile von dem Schlosse entfernten Eisenbahnstation – Wiekel hieß sie – übergab hier den Leuten des Gasthofs sein Pferd und fuhr auf der Eisenbahn weiter. Er hatte erst am folgenden Tage, am Mittwoch, zurückkehren wollen. In der Nacht vom Dienstag zum Mittwoch aber wurden die Bewohner des Schlosses plötzlich durch einen ungewöhnlichen Lärm aus dem Schlafe geweckt. Fast Alle hatten unmittelbar an der Rückseite des Schlosses, nach dem Garten hin, einen Schuß fallen hören. Dem Schusse war ein schwerer Fall, dann der laute Hülferuf eines Mannes gefolgt; dem Rufe der Angstschrei einer Frauenstimme. Ehe die aus dem Schlafe aufgeschreckten Menschen sich besinnen konnten, war ein zweiter Schuß gefallen. Darauf war Alles still geworden und still geblieben. Die Bewohner des Schlosses – es waren nur Domestiken – waren aus ihren Betten aufgesprungen. Die Besorgteren und Entschlosseneren waren in den Garten geeilt, wo man die beiden Schüsse hatte fallen hören. Sie hatten die Thür des Schlosses, die in den Garten führte, offen gefunden; schon das war ihnen aufgefallen. Als sie in den Garten traten, fiel ihnen sofort weiter das Wiehern eines Pferdes auf, das hinten im oder am Garten unmittelbar an der Hecke sich befinden mußte. Einige wollten dahin eilen, während Andere sich anschickten, in der Nähe des Hauses zu suchen, wo die Schüsse gefallen waren, wo man den Hülferuf des Mannes und den Angstschrei der Frau gehört hatte. An Allen vorüber stürzte plötzlich vom Schlosse her in wilder Hast ein Mann. Er rannte nach der Gegend hin, in der man das Wiehern des Pferdes vernommen hatte.

Alle erkannten den Mann. Es war ihr Herr, der Freiherr von Wallberg, der Angeklagte. Sie erkannten ihn deutlich, bestimmt. Der Mond schien, der Himmel war klar, und der Mann war kaum drei bis fünf Schritte an ihnen vorüber gerannt, er hatte keinen andern Weg gehabt. Sie hatten sein Gesicht erkannt; es war leichenblaß gewesen. Die ihnen wohlbekannten großen, feurigen Augen hatten ihnen befehlende, drohende, wilde Blicke zugeworfen. Sie hatten seine Gestalt erkannt, die Kleidung, in der er am Morgen ausgeritten war; es war eine Jagdmütze und ein langer, grauer Reitermantel. An dem Mantel, an den Händen des Mannes glaubten sie Blut gesehen zu haben. Der Anblick hatte die Leute mit lähmendem Schreck erfüllt. Keiner hatte gewagt, ihm zu folgen, ihn zu verfolgen. Einen Augenblick nachher hörten sie hinter dem Garten im Galopp ein Pferd davonjagen. Sie zerstreuten sich in dem Garten umher, um zu suchen. Schon nach einer halben Minute fanden sie sich wieder zusammen.

Einer war auf einen Menschen gestoßen, der unbeweglich am Boden lag. Er rief die Anderen herbei. Man besichtigte, untersuchte [99] den Menschen. Er war todt. Zwei Kugeln hatten ihn getödtet; der Hirnschädel war ihm zerschmettert; aus einer Wunde mitten auf der Brust quoll das Blut. Das Blut floß noch, und die Leiche war noch warm. Man erkannte den Getödteten. Es war der Graf Hochhausen, Lieutenant des in der benachbarten Stadt garnisonirenden Kürassierregiments. Alle kannten ihn, obgleich das Gesicht durch den Schuß entstellt war. Der Graf kam oft, fast täglich zum Schlosse, denn er war Freund des Hauses, der intimste Freund des Freiherrn. Und wie er in der Nacht hierher gekommen war? Warum er als Leiche dalag? Warum der Freiherr, sein bester Freund, ihn erschossen hatte? Denn ihren Herrn hatten sie erkannt, Alle, und sie hatten sein leichenblasses Gesicht, seine drohenden, wilden Blicke, seinen blutigen Mantel, seine blutigen Hände gesehen. Wer anders, als er, konnte den Grafen getödtet haben? Es sollte ihnen auch das Warum unzweifelhaft werden. Die Leiche lag dicht am Hause, unmittelbar unter den Fenstern des Gemachs der Freifrau. Das Zimmer war im ersten Stock, und an der Mauer des Hauses führte bis zu jenen Fenstern hinauf ein Birnenspalier. Die Untersuchung des Spaliers ergab, daß mehrere Zweige zertreten waren; an anderen klebte frisches Blut; mit frischem Blute war die Mauer des Hauses bespritzt. Der Graf hatte sich auf dem Spaliere befunden, als ihn der erste Schuß getroffen hatte. Er war im Heruntersteigen begriffen gewesen, als ihn der Schuß traf, denn die Zweige des Baumes waren hoch über den Blutspuren zertreten. Der erste Schuß mußte die Brust getroffen haben, da der Getroffene noch hatte laut um Hülfe rufen können. Dem Niedergefallenen hatte der Mörder dann am Boden den Hirnschädel zerschmettert. Und das Weitere? Wie der Graf auf das Spalier gekommen? Warum der Freiherr ihn erschossen, dem tödtlich Getroffenen noch gar in wilder Rache oder Mordlust das Gehirn zerschmettert hatte? Das Spalier selbst, unmittelbar unter den Fenstern der Freifrau; der Angstschrei einer Frau, den man während des Mordes vernommen hatte; die früheren täglichen Besuche des Grafen im Schlosse, auch wenn der Freiherr nicht da war; die Schönheit und Lebhaftigkeit der jungen Frau; das kecke und feurige Wesen des schönen jungen Officiers: das Alles gab eine Antwort, der nicht zu widersprechen war.

Ein anderer Umstand sprach nicht minder klar: die Freifrau gab bei alle dem Lärm, der unmittelbar unter ihren Fenstern stattfand, bei allem Tumulte, der das ganze Schloß erfüllte, kein einziges Lebenszeichen von sich; man sah, man hörte nichts von ihr. Man begab sich zu ihrem Zimmer und fand es verschlossen. Man rief ihr durch die verschlossene Thür zu, daß unmittelbar beim Schlosse ein Mord verübt, daß der Ermordete der Graf Hochhausen sei. Sie kam nicht aus ihrem Zimmer hervor und sie öffnete die Thüre nicht; sie erklärte, daß sie unwohl sei, und befahl, man solle zu einem Arzte schicken, aber sie in der Nacht nicht mehr stören. So konnte nur eine Schuldbewußte handeln, die zugleich ein Zeugniß für die Schuld ihres Gatten ablegte. Daß sie am andern Morgen gefaßt war, konnte nicht als Widerlegung dienen. Den entstandenen Verdacht hatte die sofort eingeleitete Untersuchung zur Gewißheit erhoben. Der Angeklagte hatte zwar fortwährend hartnäckig geleugnet, er wollte zur Zeit der That gar nicht im Schlosse oder in dessen Garten oder Nähe gewesen, vielmehr erst mit dem Nachtzuge von H. zurückgereist und erst des Morgens um fünf Uhr auf der Eisenbahnstation Wiekel angelangt und, nachdem er gefrühstückt, gegen sechs Uhr von da fortgeritten und gegen sieben Uhr im Schlosse wieder eingetroffen sein. Von einer Untreue seiner Frau, von irgend einem Verhältnisse derselben zu dem Grafen Hochhausen, von einem Verrathe des Freundes, den er stets nur als erprobt erkannt, wollte er nichts wissen; jeden Verdacht, jede Anklage in dieser Beziehung hatte er entschieden und entrüstet zurückgewiesen.

Das Ergebniß der Voruntersuchung war indeß vollständig gegen ihn. Die Angaben des Angeklagten über seine Rückreise von H. hatten in keiner Weise bestätigt werden können. Nur daß er am Morgen um sieben Uhr zum Schlosse zurückgekehrt war, stand fest. Das widersprach aber nicht, daß er auch in der Nacht dagewesen war. Um ein Uhr in der Nacht waren die Schüsse gefallen. Dagegen war die gesammte Dienerschaft des Schlosses dabei verblieben, daß sie in der Nacht den Angeklagten auf das Bestimmteste erkannt hätten. Nur Zwei von den Leuten hatten es bei ihrer ersten gerichtlichen Vernehmung abstreiten wollen: der alte Kammerdiener des Freiherrn, mehr sein Vertrauter, als Bedienter, und der Nachtwächter des Schlosses. Allein auch sie waren zu der Wahrheit zurückgekehrt, als man ihnen einen Eid abforderte. Sie hatten Beide eingeräumt, den Freiherrn ebenfalls in der Nacht erkannt zu haben. Dabei hatten sie dann ferner die wichtigsten Umstände angeben müssen; der alte Kammerdiener, daß er seinem Herrn schon früher Verdacht der Untreue der Freifrau mitgetheilt habe; der Nachtwächter, daß der Freiherr in der Nacht des Mordes mit ihm gesprochen und ihm sogar einen Befehl an die Freifrau ertheilt habe.

Die Freifrau selbst hatte eben so entschieden, wie der Angeklagte, jeden Verdacht und jede Beschuldigung gegen sich und ihren Gatten in Abrede gestellt. Sie hatte indeß, nach den Gesetzen, nur als Auskunftszeugin vernommen und mit dem Zeugeneide nicht belegt werden können. Nach dem Gesetze war sie auch nicht als Zeugin zu der öffentlichen Verhandlung vorzuladen gewesen. Die sämmtlichen übrigen Zeugen waren vorgeladen, unter ihnen zwei Cameraden des Ermordeten, die bekunden würden, daß dieser allerdings in einem vertrauten Verhältnisse zu der Freifrau gestanden habe.

„Die vorgeladenen Zeugen,“ schloß die Anklageschrift, „werden die Thatsachen der Anklage in allen Punkten bewahrheiten. Es wird sich dadurch eine Tödtung mit Vorbedacht, selbst mit einem hinterlistigen, meuchlerischen Auflauern, herausstellen. Die Anklage auf Mord ist danach begründet.“

Sie war begründet, wenn die Anklageschrift nicht übertrieb.

Ich bemerkte das einem der Bekannten aus dem Gasthofe. „Die Anklageschriften unserer Staatsanwälte,“ setzte ich hinzu, „pflegen zuweilen ein Geschäft aus dem Uebertreiben zu machen, sie gleichen gehässigen, oft geradezu verleumderischen Schmähschriften.“

„Sehen Sie dieses ordinäre Metier unserem Staatsanwalte an?“ fragte mich der Bekannte.

Er hatte Recht. Das kluge, klare, ruhige Gesicht des Staatsanwalts sah nicht danach aus. Es war auch während der Vorlesung der Anklageacte ruhig und unbeweglich geblieben. Aber auch nur so hatte man den Angeklagten und seinen Vertheidiger gesehen. Kein Zug in ihren Gesichtern hatte sich verändert. Der Angeklagte zeigte die volle Ruhe eines guten Gewissens, der Vertheidiger die der Gewißheit des Sieges. War das eine Maske, so hatten Beide sie mit Geschick gewählt und festgehalten.

Der Präsident fragte, wie es das Gesetz vorschrieb, den Angeklagten, ob er sich schuldig bekenne.

„Nein,“ war die ruhige, feste Antwort.

Der Präsident wollte das gesetzliche Verhör mit dem Angeklagten beginnen. Da erhob sich der Vertheidiger. Man sollte die ersten Worte des berühmten Advocaten aus der Residenz hören. Man lauschte ihnen mit erwartungsvoller Spannung.

„Herr Präsident,“ sagte der Vertheidiger, „der Angeklagte protestirt gegen jedes Verhör mit ihm; er ist der Meinung, daß, nachdem er sich nichtschuldig erklärt hat, jede fernere Frage an ihn über seine Schuld eine Beleidigung seiner Ehre sei. Ich schließe mich seinem Proteste an.“

Er sprach nur die wenigen Worte. Sie hatten keinen bedeutenden Inhalt und wurden einfach, ohne besondere Accentuirung, fast tonlos gesprochen. Sie schienen dennoch im ganzen Saale eine ungewohnte Wirkung hervorzubringen. Weil der berühmte Advocat sie sprach? Oder weil sie etwas Neues sagten, was man hier noch nicht gehört hatte? Der Präsident hatte gestutzt, aber sich schnell wieder gefaßt.

„Das Gesetz schreibt das Verhör des Angeklagten vor,“ sagte er.

„Nicht, wenn der Angeklagte protestirt, Herr Präsident.“

„Das Gesetz kennt keinen solchen Protest. Er ist hier noch nie erhoben worden.“

„So geschieht dies heute hier zum ersten Male.“

„Das Gericht wird beschließen,“ erklärte der Präsident.

Er wollte sich mit den Richtern in das Berathungszimmer des Gerichts zurückziehen.

„Darf ich noch um wenige Worte bitten?“ kam der Vertheidiger zuvor.

„Es sei Ihnen gestattet.“

Der Präsident sagte es doch etwas gereizt. Der Vertheidiger war vollkommen ruhig und bescheiden geblieben. So fuhr er auch fort:

„Herr Präsident, das Gesetz gestattet Ihnen zwar das Verhör des Angeklagten, aber es stellt an die Spitze des ganzen Verfahrens [100] den durchgreifenden Grundsatz, daß der Angeklagte nur zu seiner Vertheidigung zu hören sei, daß er zu keiner Erklärung gezwungen werden könne, daß Zwangsmittel jeder Art, um ihn zu irgend einer Aussage zu nöthigen, verboten seien. Nur so weit, Herr Präsident, kann also auch Ihr Recht des Verhörs gehen, und nachdem der Angeklagte durch seinen Protest, dem ich mich anschließe, und für den ihm ein unangreifbarer Grund der Ehre besteht, erklärt hat, daß er auf keine einzige Frage antworten werde, möchte ich Sie, Herr Präsident und meine Herren Richter, dringend bitten, von einem Beschlusse abzustehen, zu dessen Ausführung Ihnen jede Macht und jedes Mittel fehlt.“

Die letzten Worte waren mit großer Bestimmtheit gesprochen. Der Präsident verfärbte sich leicht. Die Richter sahen sich etwas befremdet an. Der Vertheidiger hatte Recht. Aber noch kein Angeklagter und Vertheidiger hatte hier bisher auf diesem Rechte bestanden, nur daran zu erinnern gewagt. Was nun machen? Die Frage trieb dem Präsidenten das Blut in das Gesicht und wieder hinaus, machte die Richter verlegen. Dem fremden Vertheidiger nachgeben? Oder einen Beschluß fassen, den man in der That nicht ausführen konnte?

Der gewandte Staatsanwalt kam dem Präsidenten zu Hülfe.

„Herr Präsident,“ nahm er das Wort, „ich finde meinerseits keine Veranlassung, auf einem Verhöre des Angeklagten zu bestehen. Die Wahrheit wird durch die Zeugen herausgestellt werden. Will der Angeklagte durch sein Schweigen sie und seine Schuld bestätigen, das Recht kann nur dadurch gewinnen, und als oberster Wächter des Rechts und des Gesetzes darf ich daher den Antrag stellen, dem Protest des Angeklagten und seines Vertheidigers stattgeben zu wollen.“

„Die Lage der Sache wird durch diese Erklärung geändert,“ bemerkte der Präsident. „Das Zeugenverhör wird beginnen.“

Die Lage der Sache war auch in anderer Beziehung geändert.

Die Stimmung des Saales erklärte sich gegen den Angeklagten. Man las deutlich auch auf den Gesichtern der Geschworenen: Er fürchtet, sich durch seine Antworten zu verrathen; er ist lebhaft, stolz. Sein Vertheidiger fürchtet es wohl noch mehr. Das Gesicht des Vertheidigers blieb unbeweglich.

Die Zeugen wurden vernommen, Einer nach dem Andern, wie das Gesetz es vorschrieb.

Zuerst die beiden Officiere, Cameraden des getödteten Grafen Hochhausen. Sie waren mit diesem am Abende vor seinem Tode zusammen gewesen, in der Garnisonstadt, zwei Meilen von Schloß Hard entfernt. Der Graf hatte sie um neun Uhr Abends verlassen. Er habe ein dringendes Geschäft, hatte er gesagt. Was es sei, hatte er nicht sagen wollen. Sie hätten ihm dennoch irgend ein Geheimniß angemerkt. Von einem Verhältnisse zwischen ihm und der Freifrau wußten sie nichts. Sie hatten ihn einmal mit der schönen Frau necken wollen; er hatte es sich so ernst verbeten, daß sie nie wieder daran gedacht hatten. Der Graf Hochhausen war ein Ehrenmann im vollsten Sinne des Worts, erklärten sie. Daß das auch die Meinung des Saales sei, zeigten die Mienen der Richter, der Geschworenen, der Zuhörer. Die Sache des Angeklagten gewann dadurch nichts. Aber es schien ihn wenig zu kümmern. Er saß da, als wenn die ganze Versammlung ihn nichts angehe.

Der Vertheidiger war um so aufmerksamer; allein in seinem Gesichte suchte man vergebens nach irgend einem Eindrucke, nach irgend einer Bewegung. So blieb es ferner. Nur einmal sah ich den Vertheidiger plötzlich aufzucken. Ein Zug des Unwillens flog durch sein Gesicht, dann einer heftigen, stechenden Angst. Aber wie ich es sah, war es auch schon wieder vorüber.

[113] Die Thür, die in den Zuschauerraum des Saales führte, hatte sich leise geöffnet. Der Vertheidiger hatte nach ihr hingesehen. Da waren der Unwille, die Angst in seinem Gesichte. Ich folgte seinem Blicke nach der Thür hin und sah ein feines, blasses, fast noch kindliches Mädchengesicht an der Thür. Das Kind schien so eben eingetreten zu sein. Sie sah sich schüchtern in dem Saale um. Dann suchten ihre Augen etwas. Sie trafen den Vertheidiger; sein Anblick schien sie zu erschrecken. Sie suchte schnell weiter und sah den Angeklagten. Ihre Augen hefteten sich wie brennend auf ihn; aber es war tiefe bebende Angst, die darin brannte. Sie sah nur noch ihn.

Sie war einfach gekleidet und schien den mittleren Ständen anzugehören. In ihrer Nähe achtete Niemand auf sie. Außer dem Vertheidiger und mir hatte wohl Keiner sie gesehen. Der Angeklagte hatte die Augen nicht aufgeschlagen. Ob sie in irgend einer Beziehung zu dem Angeklagten oder dem Vertheidiger stand, konnte ich in keiner Weise enträthseln.

Es waren neue Zeugen eingetreten. Die Leute aus dem Kruge an der Eisenbahnstation Wiekel wurden vernommen. Der Angeklagte hatte, als er auf der Eisenbahn weiter nach H. fuhr, sein Pferd in dem Kruge stehen lassen und wollte erst am Morgen um fünf Uhr mit dem ersten Zuge von H. wieder angekommen und von da nach kurzer Rast zum Schlosse zurückgeritten sein. Nach der Behauptung der Anklage wäre er schon am Abend um zehn Uhr mit dem letzten Zuge von H. wieder in dem Kruge angelangt, sofort zum Schlosse geritten und nur zum Scheine nach Wiekel zurückgekehrt. Ueber die eine und über die andere Behauptung wurden die Leute des Kruges vernommen.

Der Präsident bemerkte dabei, daß die sorgfältig in der Voruntersuchung abgehörten Eisenbahnbeamten nicht die geringste Auskunft hätten geben können; keiner von ihnen wolle den Angeklagten gesehen haben; bei dem großen, stets wechselnden Verkehr auf der Bahn könne man aber auch unmöglich auf den Einzelnen achten. Die Beamten seien deshalb um so weniger heute wieder vorgeladen, da der Umstand, daß der Angeklagte wirklich in H. gewesen, unzweifelhaft festgestellt sei.

Die Leute aus dem Kruge wußten gleichfalls nichts, was die Angaben der einen oder der anderen Seite hätte bestätigen oder bestreiten können. Auch in dem Kruge war ein großer und verwirrender Verkehr gewesen, und da wußte man nichts, als daß der Angeklagte, als er nach H. gefahren, dem Hausknechte sein Pferd zur Besorgung bis zu seiner Rückkehr am andern Morgen mit dem Frühzuge übergeben, und daß er am andern Morgen gleich nach der Ankunft des Zuges wieder dagewesen und nach einiger Zeit nach Schloß Hard zurückgeritten sei. Ob er auch in der Nacht dagewesen und auf seinem oder einem anderen Pferde fortgeritten und wieder zurückgekehrt sei, davon wußte Niemand etwas. Es könne sein, es könne nicht sein; der Stall des Kruges habe offen gestanden und es seien viele Pferde darin gewesen.

Die Leute des Schlosses Hard wurden vernommen, und sie bestätigten die Anklage. Sie hatten fast Alle den Freiherrn gesehen und erkannt, auf das Bestimmteste, Unzweifelhafteste, an seinem Gesichte, seiner Gestalt, seiner Kleidung. Er war nur wenige Schritte weit an ihnen vorüber gerannt; sie hatten den zornigen, befehlenden, drohenden Blick in seinem Gesichte gesehen; der Blick hatte sie zurückgeschreckt. Sie hatten unmittelbar darauf gehört, wie er davongejagt war, und sie hatten dann den Todten in seinem Blute unter den Fenstern der Freifrau gesehen. Die Freifrau selbst hatte sich nicht blicken lassen. Die Anklage hatte nichts übertrieben; sie hatte nicht genug gesagt.

Nur ein einziger von den Zeugen sagte anders aus; er behauptete, der Mann, der auch an ihm, wie an den Uebrigen, in der Nacht vorüber gerannt, sei nicht der Freiherr, sei ein Anderer, ein Fremder gewesen, der allerdings mit dem Freiherrn große Aehnlichkeit gehabt habe. Er verblieb bei dieser Behauptung aller Vorhaltungen ungeachtet mit einer Beharrlichkeit und Zähigkeit, die nur in seiner festen inneren Ueberzeugung wurzeln konnte.

Aber die Erscheinung des Menschen, der in solcher Weise allen den Anderen widersprach, bot so sehr das Bild des Schwachsinnes, fast des Blödsinnes dar, daß auch jene Beharrlichkeit eben nur als die Zähigkeit des Blödsinnes aufzufassen war. Der Zeuge war der Hundewärter des Schlosses, ein Bursche von achtzehn Jahren, auch körperlich verkrüppelt, aus Mitleid schon von der früheren Schloßherrschaft aufgenommen, und wegen seiner Liebe zu den Hunden, zu allem Anderen aber untauglich, als deren Wärter und Pfleger bestimmt. Mit seinen Hunden lebte und verkehrte er seitdem, bei ihnen schlief er; er habe nicht mehr Verstand als sie, behaupteten die Leute des Schlosses. Er hatte auch in der Nacht des Mordes neben dem Hundestalle geschlafen, und ein Knurren der Thiere hatte ihn geweckt. Gleich darauf hatte er die beiden Schüsse gehört. Er war in den Garten gelaufen und hatte den fliehenden Mann gesehen, der auch unmittelbar an ihm vorübergerannt war. Aber es sei nicht der Herr, es sei ein ganz fremder Mensch gewesen, der nur dem Herrn ähnlich gesehen habe.

„Aber alle Anderen sagen, es sei der Herr gewesen!“ hielt ihm der Präsident vor.

„Aber ich sage, daß er es nicht war.“

[114] „Und warum sagt Ihr das?“

„Weil es nicht der Herr war.“

„Und warum war es nicht der Herr?“ fragte der Präsident, zu dem beschränkten geistigen Zustand des Burschen heruntergehend.

„Der Mensch war größer, als der Herr.“

„Das war Alles?“

„Und er hatte so glühende Augen, wie der Herr sie nicht hat.“

„Sonst aber sah er aus, wie der Herr?“

„Das that er wohl.“

„So könnte es doch der Herr gewesen sein!“

„Aber ich sage Ihnen, daß er es nicht war.“

„Ihr könntet Euch geirrt haben!“

„Aber meine Hunde irrten sich nicht.“

„Eure Hunde?“

„Sie kennen den Herrn, und sie knurrten, sie wollten aus dem Stalle, als wenn sie auf einen Fremden los wollten.“

„Es war ja auch ein Fremder da, der Erschossene!“

„Der war ihnen kein Fremder, sie kannten ihn, wie den Herrn, und der Mensch kann sich irren, Herr, aber ein Hund nicht.“

Dabei blieb er, mit jener Zähigkeit; er wurde zuletzt eifrig. Das Nämliche hatte er schon in der Nacht des Verbrechens zu den Leuten gesagt. Sie hatten den Narren ausgelacht. Ueber den Blödsinnigen lächelte man auch jetzt nur, die Geschworenen, die Zuschauer, selbst die ernsten Richter, nur nicht der Angeklagte und sein Vertheidiger.

Die Zeugnisse dreier anderer Leute des Schlosses warfen einen um so tieferen Ernst in den Saal zurück. Sie wurden mit der lautlosesten Spannung angehört, denn sie enthielten das Todesurtheil des Angeklagten; sie stellten den Mord fest und lieferten den Mörder auf das Schaffot.

Die Kammerjungfer der Freifrau wußte zwar keinen einzigen Thatumstand zu bekunden, der auf ein engeres oder gar unerlaubtes Verhältniß zwischen der Freifrau und dem Grafen Hochhausen hätte schließen lassen; sie hatte auch bis zu der Nacht des Mordes nicht einmal eine Ahnung eines solchen Verhältnisses gehabt. Dasselbe hatten auch alle anderen Zeugen ausgesagt. Wenn wirklich eine Liebschaft zwischen dem Grafen und der Freifrau bestanden habe, meinten sie, so müßten die Beiden ihre Sache sehr geheim zu halten gewußt haben, man habe nichts davon merken können.

Aber die Kammerjungfer war Zeugin folgender Thatsachen: Um sieben Uhr des Morgens nach dem Morde war der Freiherr zurückgekommen. Er hatte sich sofort in das Zimmer seiner Frau begeben und die Thür hinter sich abgeschlossen. Die neugierige Zofe war ihm gefolgt. Sie hatte bisher noch keinen Einlaß bei der Herrin erhalten können. Konnte sie nicht sehen, so wollte sie hören. Sie lauschte an der Thür des Zimmers. Die Gatten sprachen leise mit einander. Aber die Frau weinte laut, und zuletzt sprach auch der Mann laut, und die Kammerjungfer hörte deutlich, wie er zu der Frau sagte: „Mein Kopf liegt auf dem Block des Henkers. Ich muß ihn zu retten suchen. Du bleibst meine Frau; aber nur darum. Und nur bis dahin, daß ich gerettet bin. Sprichst Du bis dahin ein Wort, fügst Du zu dem einen Morde den zweiten hinzu, so ist auch Dein Leben verwirkt. Du weißt, es ist immer in meiner Hand; nach meinem Tode in der Hand des Todten, des Hingerichteten.“

Die Worte hatten der Horchenden zugleich wie Abschiedsworte geklungen. Sie hatte ihren Posten verlassen. In der That war der Freiherr gleich darauf aus dem Zimmer der Frau zurückgekehrt. Die Kammerjungfer hatte ihre Herrin erst am Abend gesehen.

„Angeklagter,“ sagte der Präsident, als die Zeugin ihre Aussage beendigt hatte, „wollen Sie über dieses Zeugniß sich auslassen? Es ist besonders gravirend für Sie.“

Der Angeklagte erhob sich mit ruhigem Stolze, indem er kurz erwiderte:

„Mein Herr, ich pflege mich mit meinen Dienstboten nicht zu streiten, und – wer horcht, lügt.“

Da weinte aber die Zeugin laut auf. Sie schien eine durchaus ordentliche, verständige Person zu sein.

„Herr Präsident!“ rief sie, „so wahr ich hoffe, zu Gott zu kommen, so wahr habe ich nicht gelogen, kein Wort, keine Sylbe. Gehorcht habe ich, ich war neugierig; aber eine Lügnerin bin ich darum nicht. O, hätte ich es nicht gethan! Ich gäbe mein halbes Leben darum!“

Man konnte den Ausdruck der Wahrheit nicht wahrer und nicht überzeugender hören, als in den Worten, den Mienen, den Bewegungen, dem Schluchzen des weinenden Mädchens. Aber ich mußte plötzlich wieder auf etwas Anderes achten. Als der Angeklagte nach seiner Antwort an den Präsidenten sich wieder niederlassen wollte, warf er vorher den ruhigen, stolzen Blick im Saale umher, und auf einmal starrten seine Augen nach einem Punkte und sein bleiches Gesicht wurde noch blässer; ein Ausdruck tiefer Wehmuth schien es zu durchziehen. Indeß er ließ sich nieder, und man sah nur wieder sein stolzes, kaltes, theilnahmloses Gesicht. Ich war seinem Blicke gefolgt, wie vorhin dem des Vertheidigers, und ich traf denselben Gegenstand, nach dem eine Stunde vorher dieser mit jenem Unwillen und dann mit der plötzlichen stechenden Angst geblickt hatte.

Das blasse, feine Mädchengesicht war noch neben der Thür, in der letzten Reihe der Zuschauer. Es war in dem Augenblicke, als ich zu ihr hinsah, von dunkler Röthe übergossen. Ihre Augen waren niedergeschlagen. Ihr Blick mußte dem des Angeklagten begegnet sein. Sie schlug ihn unmittelbar nachher wieder nach ihm auf. Er sah nicht mehr nach ihr; er sah vor sich hin. Die Röthe ihres Gesichts verschwand; ein tiefer Schmerz durchzog es. Sie setzte sich, und ich konnte sie nicht mehr sehen. Ich meinte, sie habe sich hinter den Leuten niedersetzen müssen, um unbemerkt weinen zu können.

Der Nachtwächter des Schlosses Hard wurde vernommen. Sein Nachtdienst auf dem Schlosse bestand darin, daß er während der Nachtstunden sich wachend in seiner Stube und unten im Hause aufhielt und von Stunde zu Stunde das Schloß mit den Nebengebäuden umging. So war es auch in der Nacht des Mordes gewesen. Er hatte seinen Umgang um zehn Uhr, um elf Uhr gemacht, und es war ihm nichts Verdächtiges vorgekommen, auch in dem Garten hinter dem Schlosse nicht, durch den sein gewöhnlicher Weg ihn führte. Um zwölf Uhr war ihm zwar hinten in den Feldern der Galopp eines Pferdes aufgefallen; aber es war noch weit entfernt vom Schlosse, es schien ihm nicht näher zu kommen; so hatte er nicht weiter darauf geachtet und seinen Weg fortgesetzt. Er war zu den Scheunen und Remisen gegangen, hatte sich überzeugt, daß da Alles in Ordnung sei, und hatte nun zu seiner Stube zurückkehren wollen. In der Nähe der letzteren war plötzlich der Freiherr auf ihn zugetreten und hatte ihm befohlen, zu dem Zimmer der Herrin zu gehen und ihr durch die Thür zuzurufen, daß so eben der Herr zurückgekommen sei; er solle nichts Anderes sagen und nicht so laut rufen. Der Freiherr war eilig gewesen und hatte sehr blaß ausgesehen; seine Augen hatten so sonderbar geleuchtet. Den Zeugen hatte ordentlich ein Schreck erfaßt. Er war sofort in das Schloß gegangen und war dem Befehle nachgekommen.

„Ich horchte zuerst eine Weile an der Thür,“ erzählte er. „Ich hörte nichts. Dann klopfte ich leise an. Sofort erhielt ich Antwort. Wer da klopfe? fragte es. Es war die Stimme der gnädigen Frau. Der Nachtwächter, antwortete ich.

„Was giebt’s?“ fragte sie eilig und erschrocken. „Es ist doch kein Unglück geschehen?“

„Der gnädige Herr kommt soeben zurück,“ sagte ich.

„Warum sagt Ihr mir das?“ fragte sie mich noch.

Aber der gnädige Herr hatte mir verboten, etwas Anderes zu sprechen; ich antwortete daher nicht und kehrte geschwind zurück. Ich ging wieder zu meiner Stube. Den Herrn hatte ich nicht mehr gesehen. Als ich gerade die Thür zu meiner Stube aufschließen wollte und über die Sache noch nachdachte, hörte ich auf der anderen Seite des Schlosses, im Garten, einen Schuß fallen. Während ich hineilte, fiel schon der zweite. Nachher fanden wir den Grafen todt in seinem Blute.“

„Warum,“ fragte der Präsident den Zeugen noch, „hattet Ihr anfangs bei Eurer Vernehmung in der Voruntersuchung alle diese Umstände abgeleugnet?“

„Der alte Bartholomäus hatte es mir so befohlen,“ antwortete der Zeuge.

„Wer ist der alte Bartholomäus?“

„Der Kammerdiener des Herrn, der auch heute als Zeuge hier ist.“

Der Präsident wollte den Zeugen entlassen. Der Vertheidiger bat, ihm noch vorher einige Fragen vorlegen zu dürfen. Es wurde ihm gestattet.

„Habt Ihr Euren Herrn bestimmt erkannt?“ fragte der Vertheidiger den Zeugen.

[115] „Ich werde doch meinen Herrn kennen!“ war die Antwort.

„Aber es war Mitternacht!“

„Ich kenne ihn auch bei Nacht, und der Mond schien, und der Herr stand keinen Schritt weit von mir, und er trug den langen grauen Mantel, in dem er am Tage vorher ausgeritten war.“

„Sagtet Ihr aber nicht, der Blick seiner Augen sei Euch so sonderbar vorgekommen?“

„Das war auch so; aber es waren doch seine Augen.“

„Und seine Stimme – erkanntet Ihr auch sie?“

„Ich erkannte auch die.“

„Und sie kam Euch nicht anders vor, als sonst?“

„Sie war wohl etwas sonderbar.“

„In welcher Weise?“

„Sie schien mir zu zittern; sonst kann ich nichts sagen. Aber es fiel mir auf.“

„Noch Eins, nannte er Euch bei Eurem Namen?“

Der Zeuge stutzte; er sann nach. „Ich erinnere mich nicht.“

„Besinnt Euch.“

Der Zeuge besann sich – es dauerte lange. Der Präsident wurde ungeduldig. Er wandte sich an den Vertheidiger, etwas scharf; gereizt war er früher gewesen, und er mochte wohl nicht haben vergessen können, daß er es hatte sein müssen. „Wozu überhaupt die Frage an den Zeugen?“

„Ich lege Gewicht darauf.“

„Und welches?“

Der Zeuge hatte sich besonnen. „Nein, nein,“ sagte er. „Der Herr hat mich nicht bei meinem Namen genannt, und es fällt mir jetzt auf.“

„Wie nannte er Euch denn?“ fragte der Vertheidiger.

„Er nannte mich gar nicht.“

„Und wie nennt er Euch sonst, wenn er mit Euch spricht?“

„Christian, oder auch Nachtwächter.“

„Gab er überhaupt zu erkennen, daß er wußte, wer Ihr wart?“

Der Zeuge mußte sich wieder besinnen. „Nein,“ sagte er dann. „Ich kann es nicht sagen. Er sprach mit mir, wie er auch mit einem fremden Menschen hätte sprechen können.“

„Gut,“ sagte der Vertheidiger. „Und nun noch Eins. Nannte Euch der Herr die Lage des Zimmers seiner Gemahlin?“

„Er wußte ja, daß ich es kannte,“ antwortete der Zeuge.

„Aber gab er durch seine Worte zu erkennen, daß auch er es kannte?“

„Das kann ich nicht sagen.“

Der Vertheidiger hatte an den Zeugen keine Frage mehr, aber er hatte eine Bemerkung an die Geschworenen.

„Meine Herren Geschworenen,“ sagte er ihnen, „ich bitte Sie, die Aussage dieses Zeugen wohl im Gedächtnisse zu bewahren. Sie werden dann zwei bemerkenswerthe Thatsachen festhalten. Zuerst, daß diesem Zeugen, dem einzigen, der in jener Nacht die Stimme des Mörders gehört hat, diese Stimme sonderbar vorgekommen und daß ihm dies schon gleich damals aufgefallen war. Zum andern, daß der Mörder durch kein Wort zu erkennen gegeben hat, daß ihm der Name des Nachtwächters oder nur dieser selbst, und ferner die Lage des Zimmers der Freifrau bekannt gewesen sei. Sie werden dabei bemerkt haben, daß dieser Zeuge seinen vollen klaren Verstand hat, und ganz den Eindruck eines besonnenen und wahrheitsliebenden Menschen macht. Sollte in Beziehung auf ihn und seine Aussage noch irgend ein Zweifel obwalten – er steht noch da, für mich würde es die größte Genugthuung sein, wenn er noch weiter befragt würde.“

Die Geschworenen sahen wohl einander an; auch die Richter; es schien ihnen nicht klar werden zu wollen, welches Gewicht auf jene unbedeutenden Nebenumstände gelegt werden könne, allen den bestimmten Zeugnissen gegenüber, daß der Angeklagte da gewesen sei. Am nachdenklichsten war der Staatsanwalt; indeß auch er hatte keine Frage weiter an den Zeugen. Aber einen besonderen Grund mußte der Vertheidiger zu seinen Fragen an den Zeugen und zu der Hervorhebung der Antworten desselben haben, trotz seines unbeweglichen und undurchdringlich ruhigen verschlossenen Gesichts. Ja, ich glaubte es gerade in der Undurchdringlichkeit dieses Gesichts zu lesen.

Der letzte Zeuge wurde in den Saal geführt, der alte Kammerdiener Bartholomäus, der mehr der Vertraute, als der Diener seines Herrn war, der in der Voruntersuchung anfangs gar nichts hatte wissen wollen und dann die wichtige Mittheilung gemacht, daß er es gewesen, der dem Angeklagten die Untreue seiner Frau entdeckt hatte und so zu dem Morde die wenn gleich unvorsätzliche Veranlassung geworden war. Ja, er war der einzige Zeuge, der überhaupt etwas über diese Untreue bekunden konnte, und ohne diese war kein Grund zu der That des Angeklagten zu denken, schwebte also die ganze Anklage wie in der Luft. Sein Zeugniß war daher das erheblichste von allen. Es war deshalb auch wohl bis zum Schlusse der Vernehmung der Zeugen verschoben. Seine Abhörung wurde von dem Präsidenten mit besonderer Sorgfalt bewirkt. Er war ein noch sehr kräftiger alter Mann. Sein finsteres Wesen zeigte zugleich Entschlossenheit und Verschlossenheit, dabei eine Ehrlichkeit, die trotz jenes finsteren Wesens Vertrauen zu ihm einflößte.

„Sie stehen schon lange in den Diensten des Angeklagten?“ fragte ihn der Präsident.

„Ich stand schon bei seinem seligen Vater in Diensten,“ war die Antwort. „Ich war mit ihm aus Deutschland nach Spanien gegangen. Er war ein braver Mann, so blieb ich bei ihm. Auch sein Sohn war brav, mein jetziger Herr, und ich blieb auch bei ihm und ich bin mit ihm durch die Welt gereist, bis wir hierher kamen.“

„Sie haben mithin große Anhänglichkeit an Ihren Herrn und sind ihm zu Danke verpflichtet?“

„Gewiß.“

„Ich muß Sie um so mehr ermahnen, hier nur die Wahrheit auszusagen.“

„Ich werde.“

„Sie haben in der Voruntersuchung lange mit der Wahrheit zurückgehalten.“

„Es war ein Fehler von mir.“

„Und was hatte Sie dazu veranlaßt?“

„Die Liebe zu meinem Herrn, den ich als ein kleines Kind auf meinen Armen getragen hatte, aber –“

„Aber?“

„Ich bin katholisch, Herr, und da ich zur Beichte ging und dem Geistlichen Alles offenbarte, da hielt mir der vor, welch eine große Sünde ich begangen hätte, und befahl mir, sofort zum Gerichte zu gehen und die volle Wahrheit zu sagen. Das that ich.“

Der Mann sprach Alles kurz, klar, in einem eben so ruhigen, wie festen und überzeugenden Tone.

„Was der Zeuge da erklärt hat,“ bemerkte der Präsident den Geschworenen, „wird durch die Acten der Voruntersuchung vollkommen bestätigt.“ Er fuhr dann in der Befragung des Zeugen fort.

„Sie hatten schon einige Zeit vor dem Tode des Grafen Hochhausen ein Gespräch mit Ihrem Herrn über den Grafen. Von welchem Inhalte war es?“

Der Präsident hatte durch die Frage sofort den Kern der Antwort getroffen, die der Zeuge zu geben hatte. Die Antwort wurde dem Zeugen schwer. Er kämpfte sichtlich mit sich, bevor er sprach, und wurde blaß und roth; er wollte seinen Herrn ansehen, aber er konnte die Augen nicht zu ihm erheben; man sah die Brust des alten Mannes arbeiten. Aber er mußte antworten.

„Es muß heraus, Herr Präsident,“ sagte er. „Gott weiß, wie schwer es mir wird.“

Er hatte sich das Herz genommen, nach seinem Herrn hinzublicken. Der Angeklagte saß nicht mehr in seiner bisherigen Theilnahmlosigkeit da. Er hatte sein Gesicht aufgerichtet. Seine großen, dunklen Augen warfen sich, wie drohend, auf den Zeugen. Es mochte unwillkürlich geschehen, aber der alte Mann war erschrocken. Er stockte und konnte nicht sogleich weiter sprechen. Dann ermannte er sich wieder.

„Ja, lieber, gnädiger Herr,“ sagte er zu seinem Herrn, „ich muß die Wahrheit sagen. Es geht um die Seligkeit, und was der Herr im Himmel über Sie beschlossen hat –“

Er mußte doch wieder abbrechen und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Dann wandte er sich wieder an den Präsidenten und er fuhr klar und ruhig in seiner Aussage fort, und was er sagte, wurde mit verdoppelter Aufmerksamkeit angehört. Die kleine Zwischenscene, der Kampf des treuen Dieners mit dem gewissenhaften Zeugen hatte wohl nur wenige Menschen im Saale ohne Rührung gelassen.

„Unter den Herren,“ sagte er jetzt, „die oft nach Schloß Hard kamen, war auch der Graf Hochhausen. Er war freundlich aufgenommen und wurde der Freund meines Herrn. Um se schrecklicher war es mir, als ich entdeckte, daß er darauf ausging, an [116] meinem braven Herrn zum Verräther zu werden, daß er nur darum in dessen Freundschaft und Vertrauen sich hineingelogen hatte, um ihm sein Glück, seine Ehre, um ihm Alles zu stehlen. Schon im verflossenen Winter hatte ich einmal zufällig ein Gespräch mit ihm und der Herrin belauscht, worin er dieser von seiner Liebe vorsprach ihr sagte, daß er ohne sie nicht leben könne, und dergleichen Worte. Die Freifrau wies ihn entschieden und mit Entrüstung zurück, und verbot ihm das Schloß, wenn er nicht sein Ehrenwort gebe, nie wieder so etwas zu ihr zu sprechen. Er gab das Versprechen. Ich sah die Herrin unbefangen, wie vorher, und hatte die Beiden nie wieder allein beisammen gesehen. Ich dachte, er habe sein Wort gehalten, und machte daher dem Herrn keine Mittheilung von dem, was ich gehört hatte. Ich glaubte, es nicht thun zu dürfen, um seiner und der Herrin Ruhe willen. Hätte ich es dennoch gethan! Der Graf war ein ehrloser, wortbrüchiger Mann gewesen –“

Vorn in den Bänken des Zuschauerraums entstand eine Unruhe. Die vornehmen Herren und Damen saßen da, Herren und Damen von Adel, Officiere und ihre Frauen. Zischeln des Unwillens wurde laut, drohende Blicke trafen den Zeugen. Der alte Mann hörte das Eine, sah das Andere. Der Präsident war der vornehmen Welt gegenüber verlegen geworden. Der greise Diener sah furchtlos nach den unruhigen Bänken hinüber und mit erhöhter Stimme fuhr er fort:

„Der Graf Hochhausen war ein Nichtswürdiger, ein Elender. Meine Herrin war eine brave, treue Gattin gewesen. Er hat sie verdorben, durch Künste der Hölle, durch ehrlose Büberei –“

Der Zeuge wurde noch einmal unterbrochen. Nicht von jenen vornehmen Zuschauerbänken aus. Der Angeklagte erhob sich plötzlich von der Anklagebank. Sein Gesicht glühte, seine Augen flammten, seine Lippen zuckten.

„Bartholomäus!“ rief er mit lauter, zorniger Stimme dem Zeugen zu. „Du verleumdest Deine Herrin! Du entehrst Deinen Herrn!“

Der Zeuge brach zusammen.

„Herr, Herr –“ rief er.

Der alte Mann mußte sich auf einem Stuhle niederlassen, der neben ihm stand. Er war den Officieren, als sie vorhin vernommen wurden, hingestellt worden. Der Präsident nahm strenge das Wort.

„Angeklagter, Sie haben nicht das Recht, den Zeugen zu unterbrechen. Sollte es noch einmal geschehen, so werde ich Sie sofort aus dem Saale hinausführen lassen und den Zeugen ohne Ihre Gegenwart vernehmen.“

Der Angeklagte hatte nur mit Ungeduld die Worte des Präsidenten anhören können.

„Lassen Sie mich hinausführen,“ rief er heftig, leidenschaftlich. „Glauben Sie, mein Herr, ich könne es ruhig anhören, daß meine und meiner Gattin Ehre geschmäht wird? Meine Frau ist das reinste, das treueste Weib auf der Erde, und dieser alte Mann ist ein Verleumder, ein elender, gemeiner, undankbarer Lügner. Mag er aufstehen und das Gegentheil sagen. He, Mensch, stehe auf. Wiederhole Deine erlogene Anklage gegen Deine Herrin, gegen die Ehre Deines Herrn. Stehe auf, befehle ich Dir.“

Es war dem Präsidenten nicht möglich gewesen, den Strom, den Sturm seiner Worte aufzuhalten. Der alte Diener saß wie vernichtet da. Er wollte sich erheben, dem Befehle seines Herrn zu gehorchen. Er sank zurück. Der Präsident nahm wieder das Wort.

„Angeklagter,“ sagte er, „ich bedauere, daß Sie mich dazu zwingen, von meinem Rechte und von meiner Pflicht Gebrauch machen zu müssen. Die Ruhe der Verhandlung darf hier nicht ferner gestört werden. Welchen Eindruck Ihr leidenschaftliches Benehmen, das Ihnen selbst an dieser Gerichtsstelle keine Mäßigung gestattet, auf die Herren Geschworenen machen muß, das mögen Sie sich selbst sagen. – Gerichtsdiener, führen Sie den Angeklagten aus dem Saale.“

Der Angeklagte hatte sich schon erhoben.

„Hinter dem Rücken des Gefesselten,“ sagte er stolz, „können Feigheit und Verrath Alles, eine edle Frau schmähen, einen Ehrenmann zum Schaffot verdammen.“

[129] Der Angeklagte wollte dem Gerichtsdiener folgen, aber er wurde noch einen Augenblick aufgehalten. Hinten im Zuhörerraume, unmittelbar neben der Thür war ein Geräusch entstanden. Der Angeklagte warf schnell den Blick dahin. Sein vor Zorn und Stolz glühendes Gesicht erbleichte plötzlich wieder. Ein Ausruf wollte über seine Lippen gleiten. Er hielt ihn zurück, aber seine unruhigen Augen suchten die Menge zu durchbohren, die sich an der Thür angesammelt hatte. Er mußte dem Gerichtsdiener aus dem Saale folgen. Ein Gensd’arm folgte ihm. Er warf noch im Gehen einen schnellen Blick nach der Thür des Zuschauerraums hin; eine peinliche Unruhe spiegelte sich in seinen Augen. So verließ er den Saal. An der Thür mußte das blasse Mädchen noch stehen. Ich weiß nicht, ob Viele im Saale seinen Blicken und Bewegungen gefolgt waren, verstanden waren sie wohl nur von Zweien, dem Vertheidiger und mir.

In den Zügen des Vertheidigers zeigte sich wieder Angst. Er suchte sie zu verbergen und die Aufmerksamkeit des Saales auf etwas Anderes zu lenken.

„Herr Präsident,“ sprach er mit erhöhter Stimme, die von Allen gehört sein wollte, „ich muß feierlich gegen die Hinausführung des Angeklagten aus dem Saale protestiren. Sie hatten sie ihm allerdings mit Recht für den ausgesprochenen Fall angedroht. Aber der Fall ist nicht eingetreten; Sie mußten ihn abwarten; Sie durften vorher Ihre Drohung nicht ausführen.“

Aber ich mußte wissen, was an der Thür geschehen war. Daß der Präsident, von dem fremden Advocaten schon einmal compromittirt und, wie es mir mehr und mehr schien, absichtlich gereizt, nicht nachgeben werde, auch wenn er sich im Unrechte befand, war mir klar; da war der Streit mir gleichgültig. Ich hatte meinen Platz im Zuschauerraume zwar ziemlich nahe vorn, aber auf der Seite. Die Eingangsthür des Saales war hinten in der Mitte der Wand. In dem Augenblicke, als jenes Geräusch entstanden war, hatte ich nur ein Zusammeneilen der Menschen an der Thür sehen können. Die Leute standen noch so beisammen; ich drängte mich hin. Um irgend einen Gegenstand hatte sich ein dichter Kreis gebildet. Nach dem Kerne hin waren es nur Frauen, welche still mit etwas beschäftigt waren.

„Was giebt es da?“ fragte ich.

„Ein junges Mädchen ist ohnmächtig geworden,“ war die Antwort.

Ich konnte nur an das blasse Kind denken. „Wer ist sie?“ fragte ich.

„Man kennt sie nicht,“ antwortete mir eine Frau.

Ein Mädchen aus den unteren Ständen trat herzu. Sie hatte meine Frage gehört.

„Die Tochter des Gefangenwärters,“ sagte sie.

Die Tochter des Gefangenwärters! Ich rief es nicht, aber in meinem Innern hatte ich keinen andern Gedanken mehr, als an die Tochter des Gefangenwärters und an den angeklagten Freiherrn, der drei Monate Gefangener gewesen war, und wie das Kind so schüchtern vorhin in den Saal hereingeschlichen war, und wie sie so ängstlich nach dem Angeklagten hingesehen und wie bei ihrem Erscheinen den Vertheidiger eine so stechende Angst gefaßt, und wie aus dem Gesichte des stolzen Freiherrn bei ihrem Anblicke auf einmal aller Stolz entflohen und er mit so inniger Wehmuth nach ihr geblickt, wie zuletzt auf einmal die peinliche Unruhe ihn ergriffen hatte.

„Was war die Veranlassung ihrer Ohnmacht?“ fragte ich die Frauen.

„Es kam auf einmal. Gerade, als der Angeklagte sprach. Die große Hitze im Saale mußte es thun. Und die Stärkste ist sie auch nicht; man sieht es ihr an.“

Der Kreis der Frauen öffnete sich. Man hatte der Ohnmächtigen, damit der Athem ihr zurückkehre, das Mieder geöffnet. So hatte man sie nicht den Blicken der Männer zeigen können. Darum war sie nicht sogleich aus dem heißen Saale gebracht worden. Jetzt war ihre Brust mit einem Shawl zugedeckt. Zwei Frauen trugen sie hinaus; sie war noch ohnmächtig. Aber das feine, schneeweiße Gesicht war auch in dem Schlafe, der dem Tode glich, schön wie ein Engelsgesicht, und der Schmerz, den man um die geschlossenen Lippen zucken zu sehen glaubte, verlieh ihm einen wunderbar wehmüthigen Reiz. Und sie war ohnmächtig geworden, gerade da der Angeklagte von seiner Ehre und von der Treue und Liebe seiner edlen Frau gesprochen hatte; gerade da war die Hitze des Saales an sie herangetreten! Und der Vertheidiger hatte nicht gewagt, sein erschrockenes Auge zu ihr zu wenden!

Ich mußte dem Zeugnisse des alten Kammerdieners Bartholomäus folgen und kehrte auf meinen Platz zurück. Der alte Mann hatte sich wieder erhoben. Er stand neben dem Stuhle, auf dem er sich hatte niederlassen müssen. Aber er stand gebeugt. Sein Blick war noch scheu; so sah er nach dem leeren Platze, den sein Herr auf der Anklagebank eingenommen hatte. Die Entfernung des Angeklagten schien ihn noch mehr zu drücken, als vorhin dessen Anwesenheit.

„Sie wollten erzählen,“ sagte der Präsident zu ihm, „wie der Graf Hochhausen seinen Freund betrogen habe!“

[130] „Ja, Herr Präsident,“ erwiderte der Zeuge, „ich muß hier die Wahrheit sagen, und sollte ich auch auf Erden keine ruhige Stunde mehr haben. Ich habe einen Eid geschworen. – Es war gleich nach Ostern in diesem Jahre, und Ostern war noch im Monat März. Da merkte ich es wieder. Ich hatte seit dem Winter die Beiden nicht aus den Augen gelassen. Es war eine große Jagd in der Gutsforst. Die Herrschaften zogen am Morgen vom Schlosse aus. Auch der Graf Hochhausen war dabei. Sie hatten vorher gefrühstückt. Gegen den Schluß des Frühstücks hatte ich auf einmal den Grafen vermißt. Er mußte sich unbemerkt fortgeschlichen haben. Es fiel mir auf, und ich ging in den Corridor, an welchem die Gemächer der Herrin lagen, und versteckte mich dort. Nach einer Minute öffnete sich leise die Thür des Zimmers der gnädigen Frau. Der Graf kam heraus. „„Zum Abend!““ flüsterte er im Heraustreten zurück. Dann schlich er schnell fort und ein paar Minuten darauf ging es zur Jagd. Ich blieb im Schlosse zurück und beobachtete die Herrin. Sie war in einer sonderbaren Unruhe und Ungeduld. Sie konnte den Abend nicht erwarten. Oder fürchtete sie ihn auch? Ich hoffte das Letztere. Die Jäger sollten um sieben Uhr Abends von der Jagd zurückkehren, und ein großes Souper sollte den Tag beschließen. Um sechs Uhr sah ich die Herrin das Schloß verlassen. Sie war allein und ging in den Garten hinter dem Schlosse, einfach, in Hut und Shawl, wie um einen Spaziergang zu machen. Ich folgte ihr nach, ohne daß sie mich gewahrte. Hinten im Garten, in einem Bosket, war ein Pavillon, der verschlossen werden konnte. Zu ihm ging sie, schloß ihn auf und war darin verschwunden. Ich hatte mich in dem Bosket verborgen. Nach kaum einer Minute kam von einer anderen Seite der Graf. Er ging gerades Weges auf den Pavillon zu, klopfte an die Thür, welche ihm von innen geöffnet wurde, und verschwand ebenfalls darin. Ich wußte genug. Drei Tage lang ging ich mit mir herum, ob ich es dem Herrn sagen solle oder nicht. Ich konnte mich nicht entscheiden, denn ich wußte, was folgen werde, wenn ich es ihm sagte. Am dritten Tage sah ich wieder jene Unruhe und Ungeduld an der Herrin und paßte ihr wieder auf. Am Abend schlich sie wieder in den Pavillon. Der Graf wartete schon auf sie. Der Herr war nicht zu Hause; er war zur Stadt verreist. Mein Entschluß stand jetzt fest, er mußte wissen, was ich wußte. Als er am späten Abend zurückkam, theilte ich ihm Alles mit, was ich gehört und gesehen hatte. Er hörte mir ganz ruhig zu. Als ich fertig war, fragte er mich:

„Hast Du mit irgend Jemandem über die Sache gesprochen?“

„Nein,“ mußte ich ihm antworten.

„Hat irgend ein Anderer von dem etwas gesehen, was Du mir sagtest?“

„Kein Mensch.“

„Weiß Niemand im Schlosse sonst etwas von den Beiden?“

„Keiner. Ich allein weiß nur etwas, weil ich den strengsten Aufpasser machte. Keiner von den Anderen hat nur eine Ahnung. Ich habe sie genau beobachtet, von Tag zu Tag, und hätte es gewahr werden müssen, wenn sie nur das Geringste gewußt oder gemerkt hätten.“

Dann sagte er zu mir, und er war ganz so ruhig, wie er mir zugehört hatte:

„Du hattest Dich geirrt, Freund Bartholomäus. Meine Frau kann keine Untreue gegen mich begehen, und mein Freund keinen Verrath. Ich feiere in drei Wochen meinen Geburtstag; da wollen die Beiden mich mit irgend etwas überraschen. Das ist Alles. Darin hat Deine Liebe zu mir etwas Anderes gesehen. Beruhige Dich nun. Sprich zu keinem Menschen ein Wort von dem, was Du zu mir gesagt hast, damit nicht der falsche Verdacht weiter greift, und verfolge auch nicht ferner mit Deinen argwöhnischen Augen meine Frau und meinen braven Freund.“

Damit verließ er mich. Ich schüttelte den Kopf; aber ich that, wie er mir befohlen hatte. Da geschah das Unglück.“

„Wie faßten Sie die Worte des Freiherrn auf?“ fragte der Präsident. „Glaubten Sie, daß er seine Ueberzeugung gegen Sie aussprach, oder daß er sich gegen Sie verstellte?“

„Ich wußte es nicht. Ich dachte an das Eine und an das Andere und mußte nur den Kopf schütteln.“

„Und welcher Meinung sind Sie jetzt?“

„Jetzt kann ich wohl nicht mehr zweifeln, daß er sich gegen mich verstellte.“

„Und warum glauben Sie das?“

„Weil doch das Unglück darauf folgte.“

„Wie viele Zeit vor dem Tode des Grafen geschah jene Mittheilung?“

„Es war am zweiten Sonnabend vorher.“

„Also am 31. März, gerade elf Tage vor der That?“

„So wird es sein.“

„Haben Sie in dieser Zwischenzeit irgend etwas Ungewöhnliches an dem Freiheren bemerkt?“

„Gar nichts. Ich mußte ihn oft genug ansehen. Aber ich sah nichts an ihm. Es war mir wie ein plötzlicher Donnerschlag, als ich in der Nacht die beiden Schüsse hörte. Ich mußte sogleich an ihn denken, und da ich ihn sah, wußte ich Alles.“

„Auch Sie erkannten in jener Nacht den Freiherrn?“

„Unzweifelhaft. Er war nur wenige Schritte von mir.“

Der Präsident schloß das Verhör des Zeugen.

„Hat der Herr Staatsanwalt noch Fragen an den Zeugen zu richten?“ fragte er.

„Nein,“ antwortete der Staatsanwalt.

„Auch der Herr Vertheidiger nicht?“

„Nein,“ antwortete der Vertheidiger, eben so kalt und ruhig, wie der Staatsanwalt. Vom ihm schien man eine andere Antwort erwartet zu haben.

„Wie?“ las ich auf manchem Gesichte im Saale. „Er hat keinen Vorhalt, keine Erinnerung zu der Aussage, die den Angeklagten vernichtet? Ah, er kann nur seine Sache verloren geben.“

Aber der fremde Advocat sah so gelassen, so gleichgültig drein – ich mußte den Kopf schütteln, wie der alte Kammerdiener gethan hatte. Der Präsident ließ den Angeklagten wieder herein führen und theilte ihm, wie das Gesetz es vorschrieb, ausführlich die Aussage des vernommenen Zeugen mit. Der Angeklagte hatte seine volle frühere Ruhe und Theilnahmlosigkeit wieder gewonnen. Er hörte die Mittheilung an, als wenn ihm wildfremde Dinge erzählt würden.

Die Zeugenvernehmungen waren beendigt. Die gerichtsärztlichen Protokolle über Verletzungen und Tod des Grafen Hochhausen wurden noch verlesen. Die beiden Wunden waren, jede für sich, unbedingt tödtlich gewesen. Die in der Brust war zuerst zugefügt; die zweite, die den Hirnschädel zerschmettert hatte, war aber nach so kurzem Zwischenraume gefolgt, daß die Aerzte nicht mit Bestimmtheit erklären konnten, ob bei ihrer Zufügung in Folge der ersten Wunde der Tod schon eingetreten gewesen sei oder nicht. Es kam nicht darauf an. Gericht, Staatsanwaltschaft und Vertheidigung hatten keine Erinnerung gegen die Protokolle. Einer weiteren Befragung der Gerichtsärzte bedurfte es daher nicht.

Der Präsident erklärte die Beweisführung für geschlossen und forderte den Staatsanwalt auf, die Anklage zu begründen. Ich sah den Vertheidiger unruhig. Ich hatte ihn eine Zeitlang aus den Augen gelassen. Er blickte mit einer gewissen Ungeduld bald in den Zuschauerraum, bald nach den verschiedenen Thüren, die in den Saal führten.

Der Staatsanwalt begann seine Rede. Er habe leichte Mühe, sagte er, und er hatte sie. Er konnte aus den Zeugenaussagen vollständig jede Behauptung der Anklage nachweisen. Von besonderer Wichtigkeit waren die Bekundungen des Nachtwächters und des Kammerdieners. Es wurden durch sie namentlich zwei Punkte festgestellt, die entscheidend waren. Nach der Aussage des Kammerdieners, dieses treuesten aller Diener, dessen Zeugniß fast mehr durch seine Thränen, als durch seinen Eid befestigt wurde, war der Angeklagte von der Untreue seiner Gattin unzweifelhaft überzeugt gewesen; er hatte es, zumal bei seinem leidenschaftlichen, aufbrausenden Charakter, nothwendig sein müssen. Hatten sein Benehmen und seine Worte gegen den Diener etwas Anderes zu erkennen geben wollen, so war dies eine Verstellung, die nur um so mehr auf die Intensität seiner Rachegedanken schließen ließ. Der Mord des Grafen, des Räubers seiner Ehre, war von dem Augenblicke an in seinem Innern beschlossen. Er suchte nur noch nach einem günstigen Momente zur Ausführung. Er unternahm die Reise nach H. Es war eine Geschäftsreise, die gemacht werden mußte, und es war schon tagelang vorher von ihr gesprochen. Da konnte er seiner Sache sicher sein. Der Graf fiel in seine Hände. Er erschoß ihn. Es war ein Mord, ein zehn bis elf volle Tage lang bedachter, planmäßig angelegter und planmäßig ausgeführter Mord. Die bevorstehende Reise nach H. hatte er acht Tage vorher bekannt gemacht, um den Grafen ganz sicher heranzulocken. [131] Zu der Reise, oder vielmehr für die Rückkehr, hatte er sich mit zwei geladenen Pistolen versehen; die beiden schnell hinter einander gefallenen Schüsse ließen keinen Zweifel darüber. Seine frühere Rückkehr von H., seine Ankunft auf der Eisenbahnstation, die Wegnahme des Pferdes aus dem Stalle, sein Abreiten, alles das hatte er auf eine Weise zu verbergen und zu verheimlichen gewußt, die das unwiderlegliche Zeugniß von der Festigkeit und von der wohldurchdachten Ausführung seines Mordgedankens und Mordplans ablegte. Daß der Entschluß zum Tödten erst nach seiner Rückkehr zum Schlosse, als er im Garten des Grafen ansichtig wurde, entstanden und gefaßt sei, daran konnte, gegenüber jenen Thatsachen, ein vernünftiger Mensch gar nicht mehr denken. Und dazu nun die Aussage des Nachtwächters! Der Angeklagte hatte diesen in das Schloß zu dem Zimmer seiner Gattin geschickt, um sie von seiner Rückkehr zu benachrichtigen. Durch die Thür des Zimmers, durch den Corridor, in dem der Wächter stand, konnte der Graf nicht mehr entkommen. Es blieb ihm nur das Fenster, das Spalier, der Garten. Und im Garten, unter dem Fenster, an dem Spalier, stand, mit seiner doppelten Mordwaffe, ruhig, lauernd der Angeklagte, ließ gemächlich den nichts ahnenden jungen Officier bis auf vier Schritte an sich herankommen und schoß ihn meuchlerisch nieder. Er hatte damit noch nicht genug. Dem tödtlich in die Brust Getroffenen, dem Sterbenden, zerschmetterte er noch mit einer zweiten Kugel das Gehirn. Und das muß in unmittelbarer Nähe geschehen sein; die Zeugen sahen Hände und Mantel blutig. Zu dem meuchlerischen Morde fügte er die rohe Mißhandlung hinzu. „Oder,“ schloß der Staatsanwalt, „will etwa auch der Herr Vertheidiger wagen, zu leugnen, daß der Mörder und der Angeklagte eine und dieselbe Person gewesen sei? Will auch er alle diese Zeugen, die treuen, aber auch eidestreuen Diener ihres Herrn, als Lügner hinstellen und allein jenem blöden Kretin Glauben beimessen? Mag er es, aber verlange er es von den Herren Geschworenen nicht.“

Die kurze, ruhige, aber desto klarere Rede hatte einen überwältigenden Eindruck im Saale hervorgebracht. An der Schuld des Angeklagten und an dem Morde zweifelte Niemand mehr, konnte Keiner mehr zweifeln. Es war nur noch die Spannung der Neugierde, was der berühmte Advocat aus der Residenz gegen solche schlagende Argumente werde vorzubringen vermögen, die Aller Augen auf den Vertheidiger richtete, als der Präsident diesem das Wort zur Erwiderung ertheilte.

Der Vertheidiger hatte seine volle Ruhe wieder gewonnen. Ich hatte ihn fortwährend beobachtet. Er war für mich vielleicht mehr, als für alle Andere, ein Gegenstand der Neugierde geworden, freilich wohl aus einem ganz verschiedenen Grunde. Da hatte ich denn gesehen, wie sein unruhig im Saale herumsuchender Blick auf einmal ein anderer geworden war. Er mußte plötzlich etwas gesehen haben, das ihm alle Unruhe, allen Zweifel, alle Sorge nahm. Es war während der Rede des Staatsanwalts. Was es war, konnte ich nicht ermitteln, nicht errathen. Seine Augen waren bis dahin nach allen Seiten hin und her geschweift. Es schien mir, als wenn er wieder hinten in dem Zuschauerraum irgend eine Entdeckung gemacht habe. Aber welche? Die Thüre dort war mehrere Male auf- und zugemacht worden, aber leise, ohne Geräusch, damit der Redner nicht gestört werde. Daher hatte ich auch um so weniger meinen Platz verlassen dürfen, um nach dem zu suchen, was den Vertheidiger so ruhig, so sicher, so sorglos gemacht haben könne. So war er und so begann er seine Vertheidigungsrede.

„Ich habe keine so leichte Mühe, wie der Herr Staatsanwalt.“ sagte er. „Ich glaube im Gegentheile, daß ein Vertheidiger, der Gewissen und Einsicht hat, selten in einer schwierigeren Lage sich befand. Ich muß den klarsten, den übereinstimmendsten und überzeugendsten Beweisen gegenüber dennoch die Unschuld des Angeklagten behaupten. Aber ich muß es, meine Herren Geschworenen; ich muß es, nach meiner, nach meiner innersten, heiligsten Ueberzeugung von der Unschuld des Angeklagten; ich muß es auf die Gefahr hin, daß Sie mich, den Fremden, den Ihnen völlig Unbekannten, für einen jener gewöhnlichen Advocaten halten, die durch Wort-, Satz- und Rechtsverdrehungen, durch Verkehren von Schwarz in Weiß und von Weiß in Schwarz, den klarsten Thatsachen gegenüber die Unschuld ihres Clienten nachzuweisen suchen und ihn dadurch erst recht als schuldig hinstellen. Ja, meine Herren Geschworenen, der Angeklagte ist unschuldig; er ist kein Mörder und hat den Mord nicht begangen, dessen Thatbestand hier vor Ihnen entrollt ist. Denn das gebe ich der Anklage vollkommen zu, wenn wirklich der Angeklagte der Thäter war, dann liegt hier ein Mord vor, wie er kaum vorbedachter und planmäßiger ersonnen und meuchlerischer, selbst mit jenen Mißhandlungen, die der Herr Staatsanwalt hervorgehoben hat, ausgeführt werden konnte. Aber der Angeklagte war nicht der Thäter; ein Anderer war es, ein Anderer muß es gewesen sein. Die Zeugen haben sich geirrt. Nur Einer ist frei von dem entsetzlichen Irrthume geblieben, jener arme schwachsinnige Bursche, den der Herr Staatsanwalt Ihnen als einen Kretin bezeichnet hat. Der Herr Staatsanwalt hatte Recht hierin. Der Mensch ist ein Kretin, und gerade weil er es ist, sah er richtig; gerade weil er allein unter allen den anderen Dienstboten des Schlosses des klaren Lichtes der Vernunft beraubt war, war er unter ihnen allen der einzige, der nur mit seinen leiblichen Augen und nicht mit seiner Phantasie sah, und der daher die Wirklichkeit erkannte und das Falsche von dem Wahren schied, wo die Anderen das, was sie sahen, mit dem, was sie zu sehen sich einbildeten, vermengten und vermischten. Der Graf Hochhausen war oft zum Schlosse gekommen; man hatte ihn viel in der Gesellschaft der Freifrau gesehen, auch mit ihr allein; da waren die Leute schnell fertig mit einem Urtheile gewesen, das der Mensch um so schneller und fertiger bei der Hand hat, je mehr es ihm selbst an geistiger und sittlicher Bildung fehlt. Sie hatten wohl unter sich davon gesprochen; um desto fester war das Urtheil, die Ueberzeugung in ihnen geworden. An diese Ueberzeugung knüpfte ihre Phantasie weiter an: sie sahen geheime Zusammenkünfte zwischen dem Grafen und der Freifrau, den Grafen betrogen; sie sahen den betrogenen Gatten seine Schande entdecken, seine beleidigte Ehre rächen. Das mußte nach ihrer Meinung einmal kommen.

Da hörten sie in jener Nacht zwei Schüsse; die Schüsse sind unter den Fenstern der Freifrau gefallen. Der Freiherr unvermuthet zurückgekehrt! Der Graf von ihm überrascht! Das waren ihre ersten, ihre einzigen Gedanken. Mit diesen Gedanken eilen sie in den Garten, sehen sie einen Mann fliehen, der Aehnlichkeit mit dem Freiherrn hat, vielleicht sie nicht einmal hat. Das kann ihnen nur der Freiherr sein; die Nacht, das zweifelhafte Mondlicht kommt ihrer Phantasie zu Hülfe; sie sehen den Grafen in seinem Blute unter den Fenstern der Freifrau liegen. Sie haben gar keinen Zweifel mehr und sterben darauf, daß sie nur den Freiherrn gesehen, daß sie ihn auf das Allerbestimmteste erkannt haben. Nur Einer unter ihnen sah anders. Der Blödsinnige hatte von allen jenen Thatsachen, Gerüchten und Gereden nichts erfahren, er war ihnen unzugänglich gewesen, und so hatte er sich auch jenes Urtheil nicht bilden können; sein schwacher Verstand hätte es ohnehin wohl nicht vermocht. So sah er auch nicht mit seiner Phantasie, sondern nur mit seinen leiblichen Augen, und sie sahen klar und scharf, und sie erkannten wohl einen Mann, der dem Freiherrn ähnlich sah, sie erkannten aber auch wohl, daß es der Freiherr nicht war. Der Mensch war größer, als der Herr, und er hatte andere Augen, hat er Ihnen gesagt, und dabei ist er verblieben, und darin hat er sich durch nichts beirren lassen, und wollen Sie noch zweifeln, daß er Ihnen auch die thatsächliche, objective Wahrheit gesagt hat? Nur zwei der anderen Zeugenaussagen könnten Sie irre machen, die des Nachtwächters und des alten Kammerdieners. Und sodann hätten Sie die wichtigste Frage an mich zu stellen, wer denn der Mörder gewesen sei. Allein wenn ich Ihnen in Beziehung auf die letztere Frage schon jetzt erkläre, daß alle Nachforschungen über die eigentliche Person des Thäters ohne jegliches Ergebniß geblieben sind, und daß ich Ihnen nachher kaum einige entfernte Vermuthungen darüber werde aufstellen können, so vertraue ich doch zu Ihrer Gewissenhaftigkeit, meine Herren Geschworenen, daß dieser Umstand Sie nicht hindern wird, den übrigen, wirklich ermittelten Umständen ferner Ihre volle Aufmerksamkeit und gerechte Würdigung zu Theil werden zu lassen. Ich wende mich zuerst zu der Aussage des Nachtwächters des Schlosses. Er war der Einzige, der in der Nacht des Verbrechens mit dem Mörder gesprochen hatte. Er hatte sich wohl auch schon vorher sein Urtheil gebildet, wie die Anderen. Dennoch –“

Der Redner wurde unterbrochen. Ein Gerichtsbeamter war während seines Vortrags in den Saal getreten. Der Mann schien eilig zu sein, war aufgeregt und nahete sich dem Stuhle des Präsidenten. Im Gehen warf er einen verwunderten, forschenden Blick auf den Angeklagten. Dann sprach er einige rasche, leise Worte [132] zu dem Präsidenten. Der Präsident fuhr plötzlich überrascht auf, warf ebenfalls einen forschenden, aber zugleich zweifelnden Blick auf den Angeklagten, wandte sich zu dem Beamten zurück, der hinter seinem Stuhle stehen geblieben war, und sprach leise mit ihm. Er schien ihm die Zweifel mitzutheilen, die man in seinen Augen las. Der Beamte schien bei dem zu bleiben, was er gesagt hatte. Der Präsident gab ihm einen Befehl. Der Beamte entfernte sich.

Die beisitzenden Richter hatten neugierig zugehorcht. Sie hatten wohl nur einzelne Worte verstanden. Sie waren desto neugieriger geworden. Der Präsident schien ihre Neugierde zu befriedigen. Auch sie fuhren auf, sahen verwundert den Angeklagten an, schüttelten ungläubig die Köpfe. Erwartungsvoll blieben sie Alle. Auch das Publicum, dem der Zwischenfall nicht hatte entgehen können, war neugierig geworden. Nur der Vertheidiger hatte ruhig in seinem Vortrage fortgefahren. Er durfte sich ja auch nicht unterbrechen, bis der Präsident ihn unterbrach. Dies geschah bald.

Der Beamte des Gerichts, der dem Präsidenten die geheimnißvolle und überraschende Mittheilung gemacht hatte, trat durch die Thür, die in den Zeugenraum führte, wieder in den Saal. Zwei Personen folgten ihm, ein Mann und eine Frau. Die beiden Leute waren in einer Kleidung, die zeigte, daß sie unmittelbar von der Reise kamen. Sie sahen verstört aus. Es schienen wohlhabende Landleute zu sein. Der Beamte führte sie in den Raum, gerade der Bank des Angeklagten gegenüber und sprach dann zwei leise Worte zu ihnen und zeigte auf den Angeklagten. Sie blickten nach diesem. Das lebhafteste Erstaunen malte sich in ihren Gesichtern. Sie sahen den Angeklagten mit Scheu an.

„Ja?“ fragte der Beamte sie leise.

„Ja!“ antworteten sie bestimmt.

Der Beamte nickte mit dem Kopfe nach dem Präsidenten hin. Der Präsident erhob seine Stimme:

„Ich bitte den Herrn Vertheidiger, seinen Vortrag zu unterbrechen. Es ist ein Umstand eingetreten, der eine sofortige Berathung des Gerichts erfordert.“

Der Vertheidiger schwieg. Das Gericht verließ den Saal. Der Beamte hatte die beiden fremden Personen unterdeß schon hinausgeführt. Was für ein Umstand war eingetreten, der eine so dringende Berathung des Gerichts erforderte? Der ganze Saal fragte es sich. Auch der Vertheidiger fragte es. Niemand hatte eine Antwort. Aber die beiden Personen, die der Beamte in den Saal geführt hatte, waren nicht allen Anwesenden fremd gewesen. Die vernommenen Zeugen waren im Saale geblieben; auch sie hatten die beiden Leute gesehen, und einige von ihnen hatten sich über ihre Erscheinung nicht minder verwundert, als die Zwei bei dem Anblick des Angeklagten erstaunt gewesen waren. Die sich so verwunderten, waren der Aufwärter und der Stallknecht von der Eisenbahnstation Wiekel, die über die Anwesenheit des Angeklagten auf der Station in der Nacht des Verbrechens vernommen waren. Sie haben ihre Herrschaft erkannt, hieß es bald durch den Saal. Der Mann und die Frau waren die Wirthsleute von der Station. Aber was mit ihnen geschehen war, zu welchem Zweck sie hier waren, was der Grund ihrer Verwunderung, ihrer Scheu gewesen war, das wußte dennoch Niemand, wenn man auch wußte, wer sie waren.

Der Angekagte allein war ruhig geblieben, unzweifelhaft er der Einzige im Saale. Er hatte aufgeblickt, als die beiden Personen ihm gerade gegenüber aufgestellt wurden. Er schien sie ebenfalls erkannt zu haben, aber er hatte in demselben Moment keine Notiz weiter von ihnen genommen; sie schienen ihm völlig gleichgültige Menschen zu sein, die er wohl früher gesehen hatte, die ihn aber sonst in der Welt nichts angingen, auch hier nicht. So war er in seine kalte, vornehme Theilnahmlosigkeit zurückgefallen.

Das Gericht kehrte in den Saal zurück.

„Die Sitzung wird für eine Stunde aufgehoben,“ verkündete der Präsident. „Ein Umstand, der für die Verhandlung von großer Wichtigkeit zu sein scheint, bedarf, um in sie hineingezogen werden zu können, einiger Vorbereitungen.“

Wie ein vom Sturm getriebener Strom ergoß es sich aus allen Thüren des Saales. Was ist geschehen? Welcher Umstand kann noch für die Verhandlung von großer Wichtigkeit sein? Draußen mußte man es erfahren.

[145] In der vergangenen Nacht war in dem Wirthshause an der Eisenbahnstation Wiekel ein Mordanfall verübt, und der entkommene Mörder war der Freiherr Wallberg vom Schlosse Hard, der Angeklagte, der Mörder des Grafen Hochhausen.

„In vergangener Nacht? Der Angeklagte aber ist ja Gefangener! Auch in der vergangenen Nacht. Um neun Uhr heute Morgen stand er schon vor den Geschworenen.“

Aber die Wirthsleute hatten ihn erkannt. Sie sahen ihn hier wieder. Auch der Verwundete hatte ihn erkannt.

Es war ein Räthsel, ein Wunder! Aber mir gingen sonderbare Gedanken durch den Kopf: das bleiche Kind, die die Tochter des Gefangenwärters war; der Vertheidiger, den bei ihrem Anblicke im Saale eine so stechende Angst ergriffen hatte; der Angeklagte, dessen blasses Gesicht, als er sie sah, noch blässer geworden war und sich mit Wehmuth und Schmerz erfüllt hatte; die Ohnmacht, in die sie gefallen war, als der Angeklagte von der Bravheit und Treue seiner Frau sprach. Und sie war die Tochter des Gefangenwärters, und der Vertheidiger war der gewandteste Anwalt des Landes! War das Räthsel zu lösen?

Ich hatte keine Ruhe. Ich mußte Licht haben, und das Gefängniß, wo die Tochter des Gefangenwärters wohnte, mußte mir dieses Licht bringen. Das Publicum des Saales war nach Hause geeilt. Die Leute wollten erzählen und – essen. Die Verhandlungen hatten sich weit über die Mittagszeit hinausgezogen. Ich ging zu dem Gefangenhause. Es lag neben dem Gerichtsgebäude und war mit diesem durch einen verdeckten und verschlossenen Gang verbunden. Aber der Gang war nur für die Beamten und für die Gefangenen bestimmt. Der gewöhnliche Eingang war in einer Seitenstraße. In diese ging ich. Das dunkle Gebäude lag hinter einer hohen Mauer, man sah über dieser nur die obere Fensterreihe und das Dach. In der Mitte der Mauer war ein weites Einfahrtsthor, daneben ein kleines Pförtchen mit einem Klopfer und einer Schiebeklappe. Ich ging zu dem Pförtchen, denn ich wollte in das Gebäude.

Von der andern Seite der Straße kam ebenfalls Jemand auf das Pförtchen zu. Ich erkannte ihn, es war der Vertheidiger des Angeklagten. Ich trat einige Schritte zurück. Er klopfte an das Pförtchen. Die Klappe wurde zurückgeschoben.

„Zu wem wollen Sie?“ fragte ihn eine Stimme.

„Zu dem Gefangenen, Freiherrn von Wallberg.“

„Es darf Niemand zu ihm.“

„Ich bin sein Vertheidiger.“

„Ich weiß es. Aber der Befehl lautet allgemein.“

„Von wem ist er ergangen?“

„Vom Herrn Präsidenten, und so lange Sie nicht eine besondere Erlaubniß von ihm haben –“

„Der Herr Präsident ist in den Gefängnissen?“ fragte der Vertheidiger.

„Ja.“

„So führen Sie mich zu ihm.“

„Es thut mir leid, ich darf auch das nicht. Er will völlig ungestört bleiben.“

Der Vertheidiger stand von ferneren vergeblichen Versuchen ab und ging weiter, er mußte an mir vorüber. Ich trat hervor.

„Das nennt man das Recht der freien Vertheidigung,“ sagte ich zu ihm. Er kannte mich nicht und sah mich etwas befremdet an, aber er schritt weiter. Ich ging zu dem Pförtchen, das er verlassen hatte, und klopfte an. Die Schiebeklappe war schon wieder zu. Sie öffnete sich wieder. Ein bärtiges Gesicht erschien darin.

„Zu wem wollen Sie?“

Es war dieselbe Stimme, die den Vertheidiger gefragt hatte.

„Zu Niemandem,“ antwortete ich. „Ich wünsche nur das Gefängniß zu besehen; ich bin Baumeister.“

„Das Innere?“ sagte er. „Das würde heute nicht angehen.“

„Das Aeußere denn. Ich gebe ein gutes Trinkgeld.“

Das Pförtchen war schon geöffnet. Ich trat in den Gefängnißhof. Vorher sah ich mich nach dem Vertheidiger um. Er war noch hinten in der Straße und machte ein verdutztes Gesicht, als er mich in das geöffnete Pförtchen treten sah. Ein Gefangenwärter hatte mir geöffnet. Ich gab dem Mann sogleich einen Thaler.

„Führen Sie mich, wohin Sie dürfen,“ sagte ich ihm.

Merkwürdig, nun durfte er mich führen, wohin ich wollte, und im Gehen gab er mir Auskunft, worüber ich sie wünschte.

„In die Gefängnißzellen dürfen Sie mich wohl nicht führen?“

„In die jenes linken Flügels schon.“

„Warum nicht in die des rechten?“

„Dort werden gerade Verhöre abgehalten.“

„Vom Criminalgericht?“

„Von dem Herrn Präsidenten selbst.“

„Ah, wohl in der Sache, die heute vor den Geschworenen verhandelt wird?“

„Ja, ja.“

„Ich war im Saale. Das ist eine sonderbare Geschichte.“

„Ja, ja,“ sagte er noch einmal. „Man will heraus haben, ob der Angeklagte, der Freiherr von Wallberg, in der vergangenen Nacht fortgewesen sei.“

[146] „Wer sollte ihn denn fortgelassen haben?“ fragte ich.

„Das ist es ja eben,“ meinte er. „Und dann, wenn ein Gefangener, dem es an den Hals geht, einmal fort ist, wie wird es dem einfallen, wieder zu kommen?“

„Das ist richtig. Wo liegt das Gefängniß des Freiherrn?“

„Dort.“ Er zeigte nach einem Eckfenster zwei Treppen hoch, in dem rechten Flügel des Gebäudes.

„Hm,“ sagte ich. „An dem Innern des Gebäudes ist mir weniger gelegen. Ich schließe schon darauf von dem Aeußern. Ich möchte gern einen Ueberblick des Ganzen haben, namentlich der Umgebungsmauer und der Lage der Wohnungen der Gefängnißbeamten.“

„Die Gefängnißbeamten wohnen unten im Hause,“ sagte er.

„Alle?“

„Nein. Nur der Inspector, der Hausvater und drei Gefagenwärter.“

„Mit ihren Familien?“

„Nur der erste Gefangenwärter, auch Hausvater genannt, hat Familie. Er wohnt dort im rechten Seitenflügel.“

„Führen Sie mich um das Haus herum.“

Er that es, nachdem er einem andern Aufseher aufgetragen hatte, auf das Eingangspförtchen zu achten.

Die Wohuung des Hausvaters, wie der Gefangenwärter sie mir gezeigt, lag jenseits einer Mauer, an der wir standen. Es schien dort ein Garten zu sein; Obstbäume ragten über die Mauer. Der Garten war das Ziel meiner Wünsche. Der Gefangenwärter führte mich um das Gebäude herum, und wir kamen zuletzt, auf der anderen Seite, in der That an einen Garten. Er hatte eine Hecke auf jener Seite.

„Dürfen wir hineingehen?“ fragte ich meinen Führer.

„Warum nicht?“

Er führte mich hinein. Drei Fenster, mit Blumentöpfen besetzt, gingen in den Garten.

„Das ist wohl die Wohnung des Hausvaters?“ fragte ich gleichgültig meinen Führer.

„Ja.“

Ich suchte das blasse Kind hinter den Blumen. Sie war nicht da. Aber hinten in dem Garten, in einer Laube, glaubte ich Frauenkleider zu sehen. Ich machte, daß wir auf Umwegen dahin kamen. Das blasse Kind war in der Laube. sie lag auf einer Bank, auf Kissen und sah sehr angegriffen aus, und sie war so schön dabei. Eine ältere Frau war bei ihr. Es war ihre Mutter, wie sich zeigte. Mein Führer wandte sich an die Frau.

„Ist die Mamsell Anna nicht wohl, Frau Niemann?“

Die Frau trat vor die Laube.

„Ich weiß nicht, was dem Mädchen fehlt. Blaß war sie immer, aber sie war doch sonst gesund. Seit vier Wochen kränkelt sie immer, und seit drei Tagen ist es gar schlimm mit ihr. Heute Nacht, meinte ich, hätte sie ruhig geschlafen; ich hatte sie bis zum Morgen nicht gehört. Aber wie ich heute Morgen aufwache, liegt sie in heftigem Fieber, und nachher war sie mir aus den Augen gekommen und drüben in den Gerichtssaal gegangen, und von da haben die Leute sie mir ohnmächtig nach Hause zurückgebracht.“

„Was sagt denn der Doctor, Frau Niemann?“ fragte der Gefangenwärter.

Die Frau antwortete. Sie sprachen weiter darüber. Ich war in die Laube getreten, zu dem kranken Kinde. Sie lag so schon da, mit dem feinen, weißen Gesichte, wie ein Engel, aber – wie ein sterbender Engel. Und sie konnte kaum sechzehn Jahre alt sein und sollte schon sterben! Mit ihrem liebenden, wehen, wunden Herzen! Die Mutter wußte nicht, wie das Kind plötzlich so krank geworden sei, gekränkelt habe es freilich schon lange. Auch der Arzt hatte es nicht gewußt, wie sie dem Gefangenwärter erzählte. Das Kind wußte es wohl, und auch ich wußte es jetzt, und ich wußte noch mehr, ich wußte auf einmal Alles, Alles, worauf ich bisher nur gerathen hatte.

Das brave, treue, junge Leben sollte geopfert werden!

Fiat justitia et pereat mundus!

Es wurde hier einmal in anderer Weise angewendet. Mir wollte tief im Innern ein Zorn aufsteigen gegen den Mann, der sich so von der Hand des Henkers befreien ließ, der zu dem einen Morde den zweiten hinzufügte; gegen den Vertheidiger, dessen eigentliches Werk dieser zweite Mord war. Ich hatte keinen Zweifel darüber. Jenes unbewegliche, unergründliche, kalte Gesicht, die glatt angestrichenen blonden Haare des Mannes – ich kann nun einmal die glatten blonden Haare nicht leiden – der ganze gewandte, eiskalte, berühmte Advocat der Residenz ließ keinen Zweifel mehr in mir zurück. Sollte ich ihm sein Spiel verderben? Ich konnte es. Nur ein Fingerzeig gegen irgend einen Menschen auf das blasse, sterbende Kind in der Laube! Sie konnte dem inquirirenden Präsidenten keine fünf Minuten lang widerstehen.

Aber die Wehmuth, das Mitleid unterdrückte den Zorn in mir. Mußte das arme Kind sterben – und sie mußte es, sie hatten das junge, zarte Leben bis in den innersten Keim vernichtet – wie konnte ich ihr dann noch in ihren letzten Stunden das Glück ihres Lebens rauben, das Glück, den Mann ihres Herzens, ihrer Liebe, ihrer Träume gerettet zu haben? Wie konnte ich sie nur den Qualen eines Verhörs aussetzen? Und dann, war der Mann, den sie rettete, wirklich der kalte, nur um Leben gegen Leben rechnende Mörder gegen sie? Hatte nicht jener tiefe Schmerz ihn durchzuckt, da er sie auf einmal in dem Gerichtssaale sah?

Ich war in die Laube zu dem kranken Kinde getreten. Ich hatte ein Gespräch mit ihr anknüpfen wollen, über ihre Anwesenheit im Saale, über Weiteres, was damit in Verbindung stand; ich hatte so klar wie möglich sehen wollen. Aber ich konnte es nicht, als ich sie näher, als ich sie so elend sah.

Und ein Anderes kam hinzu, das mir tief in die Seele schneiden wollte. Der Gefangenwärter trat auf einmal rasch zu mir in die Laube.

„Gehen wir, mein Herr!“

Er war ängstlich. Ich verließ die Laube. Vorn im Garten war der Präsident erschienen. Gerichts- und Gefängnißbeamte waren in seiner Begleitung. Es überlief mich heiß und kalt. Wohin wollten sie? Wohin konnten sie anders wollen, als zu dem kranken Kinde? War schon Alles entdeckt?

Ich mußte fort. Der Präsident und seine Begleiter durften mich, den der Gefangenwärter ohne Erlaubniß hierher gebracht hatte, nicht sehen. Mein Begleiter führte mich seitab, hinter Hecken, aus dem Garten. Als ich hinaus treten wollte, sah ich die Beamten auf die Laube zuschreiten.

„Das arme Kind hat schon lange die Auszehrung,“ sagte er im Gehen. „Die Leute wollen’s nur selber nicht wissen. Was mögen die da wollen?“ fragte er sich dann.

Ich wußte es, und das Herz bebte mir. Ich verließ das Gefängniß.

Die Stunde, nach deren Ablauf die Schwurgerichtssitzung wieder beginnen sollte, war vorüber. Ich kehrte in den Sitzungssaal zurück. Der Zuschauerraum war überfüllt. Die Geschworenen waren auf ihren Plätzen. Die Beamten waren noch nicht da, und der Angeklagte war daher noch nicht hereingeführt. Der Präsident mußte mit seinen Ermittelungen noch nicht zu Ende sein.

Nach einer halben Stunde erst trat der Gerichtshof wieder ein; hinter ihm der Staatsanwalt, von einer anderen Seite der Vertheidiger. Der Angeklagte wurde wieder hereingeführt. Der Präsident sah sehr feierlich aus. Der Staatsanwalt suchte ein feierliches Gesicht zu machen, und es glückte ihm. Der Vertheidiger versuchte dasselbe, aber mit weniger Erfolg.

Der Angeklagte saß kalt und theilnahmlos da, wie vorher. Der Präsident eröffnete die Sitznug wieder. In dem ganzen Saale herrschte die erwartungsvollste Stille. Der Präsident wandte sich an die Geschworenen.

„Meine Herren Geschworenen, ich habe Ihnen zunächst Mittheilung von dem Vorfalle zu machen, der vor einigen Stunden Veranlassung werden mußte, die Sitzung auf kurze Zeit aufzuschieben. Der Wirth und die Wirthin von der fünf Meilen von hier gelegenen Eisenbahnstation Wiekel hatten sich hier eingefunden, um dem Criminalgerichte Anzeige von einem eigenthümlichen verbrecherischen Ereignisse zu machen. In der verflossenen Nacht war ein Reiter in das Wirthshaus gekommen, den sie zu ihrem Erstaunen als den Angeklagten erkannt hatten. Eine gewisse Scheu hatte sie abgehalten, ihm das zu sagen. Nach einer Weile hatte aber der Reiter mit einem der noch anwesenden Gäste Streit bekommen, gegen den Mann jäh ein Messer gezogen und ihm einen gefährlichen Stich in die Brust beigebracht. Man hatte ihn darauf verhaften wollen. Er hatte ein Doppelterzerol hervorgezogen, und man hatte nicht gewagt ihn anzugreifen. Er hatte das Haus verlassen, sich auf sein Pferd geworfen und war im Galopp davon gesprengt. – Meine Herren Geschworenen, Sie werden die Wichtigkeit dieses Ereignisses für die gegenwärtige Untersuchung einsehen. [147] War der Verbrecher der verflossenen Nacht ein Anderer, als der Angeklagte, so wären dadurch allerdings zugleich Zweifel in Beziehung auf die Thäterschaft des Mordes an dem Grafen Hochhausen erhoben. War es der Angeklagte, so hätte er zu dem früheren Verbrechen ein neues hinzugefügt, welches zeigte, wie wenig ihm an einem Menschenleben gelegen ist. Das Gericht mußte daher eine sofortige vorbereitende Untersuchung des neuen Verbrechens veranlassen. Die sämmtlichen Zeugen sind hier. Sie werden sofort vernommen werden und Ihnen die näheren Umstände des Verbrechens erzählen. Die Gefängnißbeamten werden Ihnen ihrerseits die erforderliche Auskunft geben. Ihr Urtheil wird dann ferner das Richtige treffen.“

Der Präsident hatte nichts Neues verkündet. Ueber das einzige Neue, das man erwartet hatte, hatte er nicht einmal eine Andeutung gemacht.

Der Angeklagte selbst hatte mit einem ruhigen, spöttischen Lächeln zugehört.

„Hat die Staatsanwaltschaft vor der weiteren Verhandlung Anträge zu stellen?“ fragte der Präsident.

„Nein,“ antwortete der Staatsanwalt.

„Der Vertheidiger?“

„Nein,“ antwortete auch der Vertheidiger.

Der Präsident begann die weitere Verhandlung.

„Angeklagter, Sie haben meine Mittheilung an die Geschworenen gehört. Was haben Sie darauf zu erwidern?“

„Nichts, Herr Präsident,“ war die ruhige Antwort.

„Sie waren also nicht heute Nacht an der Eisenbahnstation Wiekel?“

„Ich war in Ihren Gefängnissen, mein Herr. Wofür haben Sie diese und Ihre Beamten?“

„Haben Sie einen Verwandten, der Ihnen ähnlich sieht?“ fragte der Präsident noch.

„Nein!“

„Oder ist Ihnen sonst Jemand bekannt, der Aehnlichkeit mit Ihnen hätte?“

„Nein!“

Der Präsident schritt zur Abhörung der Zeugen. Zuerst wurde der Wirth von der Eisenbahnstation vernommen. Er erzählte Folgendes:

„In der vergangenen Nacht waren noch spät mehrere Gäste bei mir. Es waren Landleute aus der Nachbarschaft. Sie saßen in der gewöhnlichen Wirthsstube und tranken ihren Wein. Meine Frau und ich bedienten sie, weil meine Leute schon gestern gegen Abend hierher zum Schwurgerichte verreist waren. Kurz vor Mitternacht hörten wir auf einmal Alle den Galopp eines Pferdes, das seitab vom Felde her kam. Es kam näher zu der Station, und nach einer Weile trat ein Mann in die Wirthsstube und forderte einen Schoppen Wein. Wir mußten uns Alle verwundert, erschrocken ansehen. Wir Alle kannten den Mann. Es war der Freiherr Wallberg vom Schlosse Hard. Aber wie kam der hierher? Er saß ja in der Stadt im Gefängnisse und heute sollte er vor die Geschworenen gestellt werden! Wir hatten noch gerade von der Sache gesprochen. Und doch war er es. Wir hatten ihn Alle oft gesehen. Er war an zwanzig Mal bei mir im Hause gewesen. Ich brachte ihm den Wein. Er setzte sich damit an einen besonderen Tisch. Er schien sehr durstig oder sehr eilig zu sein, denn er trank schnell. Schon nach wenigen Minuten war er fertig mit seinem Schoppen. Er stand auf. Ich fragte ihn, ob er zu Pferde gekommen sei.

„Ja.“ antwortete er kurz.

„Wollen denn der Herr Baron,“ fragte ich ihn weiter, „dem Pferde nichts geben lassen?“

„Nein!“ war nur wieder die eben so kurze Antwort.

„Was habe ich zu bezahlen?“ fragte er dann.

Ich nannte ihm den Betrag. Er zog eine Börse und zahlte. Darauf wollte er sich wieder entfernen. Indem er aber vorschritt, strauchelte er plötzlich. Einer von den Gästen hatte, gerade vor dem Tische, lang seine Beine ausgestreckt. Der Freiherr hatte das nicht gesehen. Der Andere wollte die Beine zurückziehen, war aber ungeschickt dabei. Seine Beine verwickelten sich mit denen des Freiherrn, und der Freiherr fiel, so lang er war, zur Erde. Aber im Moment war er wieder aufgesprungen. Er war in heftigem Zorn, sein Gesicht war dunkelroth geworden.

„Flegel! Unverschämter!“ schrie er dem Andern zu.

Dieser war der Oekonom Braunsberger, ein Mann, der sich nichts bieten läßt.

„Herr,“ erwiderte ihm dieser grob, „sehen Sie künftig nach Ihren Beinen, dann fallen Sie nicht.“

Darüber wurde der Freiherr wüthend. Sein Gesicht war leichenblaß geworden. Er fuhr mit der Hand in die Brusttasche seines Rockes, und ehe sich Einer von uns besinnen konnte, hatte er ein Messer oder einen Dolch hervorgezogen und damit dem Braunsberger einen Stich in die Brust versetzt, daß das Blut hoch herausspritzte.

„Grobian, Hund!“ rief er dabei in höchster Wuth.

Braunsberger war vom Stuhl gesunken. Wir Andern wollten den Mörder festhalten. Da hatte er schon ein Doppelterzerol hervorgezogen.

„Wer mich anrührt, ist des Todes!“ rief er.

Wir wichen vor ihm zurück. Er verließ ruhig die Stube und das Haus, und im Augenblicke nachher hörten wir ihn wieder im Galopp davon jagen, querfeldein, woher er gekommen war. Zu dem Verwundeten holten wir aus der Nachbarschaft einen Arzt, der ihn verband und erklärte, daß die Wunde nicht gefährlich sei, weil das Messer durch Zufall auf einen Knochen gestoßen sei; sei es eine Linie breit mehr zur Seite eingedrungen, so sei der Tod unvermeidlich gewesen. Meine Frau und ich fuhren mit dem ersten Eisenbahnzuge hierher, um von dem Vorfall Anzeige zu machen. Ich hatte unterdeß einen Nachbar nach Schloß Hard geschickt, um sich zu erkundigen, ob der Freiherr dagewesen sei. Kein Mensch hatte etwas von ihm gewußt. Auch sonst hatte ihn Niemand gesehen.“

Der Präsident hatte nur noch wenige Fragen an den Zeugen.

Wie der Reiter gekleidet gewesen sei?

„Er trug einen leichten grauen Sommerrock und eine graue Mütze; weiter habe ich auf seine Kleidung nicht geachtet.“

„Haben Sie den Freiherrn wohl früher in solcher Kleidung gesehen?“

„Ich kann mich nicht besinnen.“

„Sie sind fest überzeugt, daß der Reiter der hier anwesende Freiherr von Wallberg war?“

„Heute Nacht hätte ich darauf geschworen, und auch jetzt möchte ich es wieder, wenn ich mir den Herrn Baron ansehe. Alle die Andern meinten es ebenso. Es war das Gesicht, die Figur, die Stimme. Nur meine Frau meinte, es sei doch Etwas anders an ihm gewesen. Der Reiter sei ihr größer, die Stimme rauher vorgekommen.“

Die Frau des Wirths wurde vernommen. Sie bestätigte von Wort zu Wort die Aussage ihres Mannes; auch in Betreff der Aehnlichkeit. Sie besah sich den Angeklagten genau.

„Es war ganz das Gesicht,“ sagte sie, „die Nase, der Mund, die Augen, Alles so, wie ich es jetzt hier vor mir sehe. Nur größer schien mir der Fremde zu sein, als ich den Herrn Baron früher gesehen hatte, und die Stimme kam mir verändert vor.“

„Möchten Sie sich dazu verstehen, sich zu erheben?“ wandte sich der Präsident an den Angeklagten.

„Warum nicht?“ war die finstere Antwort, und der Angeklagte erhob sich stolz und richtete sich hoch auf mit seiner ganzen hohen Gestalt.

Die Frau schüttelte den Kopf.

„Jener war doch größer,“ sagte sie. „Und auch die Stimme klang anders.“

Die anderen Zeugen wurden abgehört. Sie stimmten, Einer nach dem Anderen, gleichfalls mit dem Wirth überein. Den Angeklagten sahen sie sich wiederholt an; sie wollten ihn bestimmt wieder erkennen. Sie wurden mit den Zweifeln der Frau bekannt gemacht; Einige wurden irre, Andere nicht.

Der Präsident wiederholte bei dem Ersten die Aufforderung an den Angeklagten, sich zu erheben.

„Wozu die Komödie?“ war die stolze, unwillige Antwort, und er erhob sich nicht wieder.

In das unbewegliche Gesicht des Vertheidigers war Leben gekommen.

Die Gefängnißbeamten wurden vernommen, darüber, ob der Angeklagte in der vergangenen Nacht in seinem Gefängnisse gewesen sei.

„Ich habe die strengsten Nachsuchungen vorgenommen,“ leitete der Präsident die Vernehmung ein. „Sie haben, ich muß es hier [148] vorab erklären, zu keinem Resultate geführt. Um so mehr müssen die Beamten ihre Aussagen unmittelbar den Herren Geschworenen machen.“

Der Vertheidiger konnte die Erklärung mit einer klaren, ruhigen Befriedigung aufnehmen.

Es wurden zuerst diejenigen Beamten abgehört, denen in der Nacht die Bewachung im Innern des Gefängnißgebäudes anvertraut gewesen war. Keiner von ihnen hatte das geringste Verdächtige oder nur Ungewöhnliche wahrgenommen. Der Wächter des Corridors, an dem die Zelle des Angeklagten lag, hatte in dieser noch nach elf Uhr den Angeklagten umhergehen hören. Wer anders sonst, als der Angeklagte, hätte es denn sein können?

Der Präsident konnte nicht umhin, hierbei die Geschworenen darauf aufmerksam zu machen, daß die Eisenbahnstation Wiekel fünf Meilen von der Stadt entfernt sei;, daß der Angeklagte kurz vor Mitternacht da gewesen sein solle; daß der Angeklagte noch nach elf Uhr in seiner Zelle gehört sei; daß es zu den Unmöglichkeiten gehören dürfte, auch in einer vollen Stunde, auf dem schnellsten Pferde, von hier aus die Station Wiekel zu erreichen.

Der Angeklagte war gerettet. So meinte der ganze Saal. Auch den Geschworenen sah man es an. Es waren nur noch zwei Gefängnißbeamte zu vernehmen, welche das Gefangenhaus in der Nacht nach außen hin bewacht hatten. Was konnten sie noch von Erheblichkeit aussagen, nach den anderen Zeugnissen, nach dem Resultate der Nachforschungen des Präsidenten, das dieser schon im Voraus verkündet hatte?

Die beiden Beamten wurden vernommen. Der Eine hatte die gewöhnliche Wache am Thore gehabt. Er wußte gar nichts. Der Zweite hatte sich in einer Wachtbude auf der entgegengesetzten Seite des Hauses befunden. Auch ihm war nichts Verdächtiges vorgekommen. Er habe zwar, setzte er hinzu, gegen halb zehn Uhr in dem Garten des Hausvaters sprechen hören, aber es sei ihm nicht weiter aufgefallen, und darum habe er auch vorhin nicht daran gedacht, es dem Herrn Präsidenten zu sagen.

Den Vertheidiger sah ich plötzlich aufzucken. Ich glaubte ihn zittern zu sehen.

Der Angeklagte saß eisern kalt da.

„Wen hörten Sie in dem Garten sprechen?“ fragte der Präsident den Gefängnißbeamten.

„Es schienen mir zwei Stimmen zu sein. Die eine erkannte ich deutlich, es war die Tochter des Hausvaters.“

„Und die andere?“

„Ich glaubte, es sei ihre Mutter gewesen.“

„Was sprachen sie?“

„Sie sprachen leise mit einander. Ich verstand nichts.“

„Frau und Tochter des Hausvaters werden herbei geführt!“ befahl der Präsident einem Gerichtsdiener.

Der Diener entfernte sich. In dem Saale war doch wieder eine Spannung eingetreten. Aber der Vertheidiger hatte sich wieder erholt. Sein Gesicht war wieder unbeweglich und unergründlich. Um so unruhiger mochte, mußte es in seinem Innern sein.

Die Frau des Hausvaters wurde in den Saal geführt. Der Präsident befragte sie.

„Waren Sie gestern Abend um halb zehn im Garten?“

„Nein, Herr Präsident.“

„Sie sollen mit Ihrer Tochter da gewesen sein.“

„Ich war nicht da.“

Die Frau sprach bestimmt; man sah ihr die Aufrichtigkeit an.

„Ich kann mich geirrt haben,“ sagte der Gefängnißbeamte. „Ich glaubte auch nur, ihre Stimme zu hören.“

„Die Tochter werde hereingeführt!“ befahl der Präsident.

Der Angeklagte blieb eisern, der Vertheidiger unbeweglich. Aber die Frau des Hausvaters, die Mutter, brach in Thränen aus.

„Meine Tochter? Das arme Kind liegt im Sterben! Sie ist so sehr schlimm geworden, seitdem der Herr Präsident sie sah.“

Durch das Gesicht des Vertheidigers flog ein Triumph des Sieges.

Der Angeklagte fuhr in die Höhe, plötzlich, heftig, aber nicht stolz, nicht zornig; er fiel wieder zurück, wie ein Mann, dem auf einmal das Herz brechen will.

Der Vertheidiger sah ihn mit bebender Angst an. Sollte sein eigener Client, der Angeklagte selbst, das Spiel, das Spiel um Leben und Tod, das endlich vollständig gewonnen zu sein schien, auf einmal wieder verloren machen?

Der Präsident hatte den Angeklagten verwundert angesehen.

Der Staatsanwalt hatte einen mißtrauischen, nachdenklichen Blick auf ihn geworfen; der Blick heftete sich noch mißtrauischer, noch nachdenklicher auf den Vertheidiger.

Der Gerichtsdiener, der die Frau des Hausvaters hereingeführt hatte, war vorgetreten.

„Ich fand die Tochter wirklich krank im Bette,“ meldete er dem Präsidenten.

„Ich glaube, von ihrer Vernehmung Abstand nehmen zu dürfen,“ bemerkte der Präsident.

Der Staatsanwalt[1] bat um das Wort.

„Ich muß die Vernehmung beantragen,“ erklärte er. „Ueber dem neu eingetretenen Ereigniß schwebt ein bis jetzt unaufgeklärtes Dunkel. Da muß auch die letzte Zeugin vernommen werden, die möglicher Weise Aufklärung darüber geben kann.“

Der Vertheidiger konnte, durfte nicht widersprechen.

„Das Gericht wird die Zeugin in ihrer Wohnung vernehmen,“ erklärte der Präsident.

Das Gericht verließ den Saal. Der Staatsanwalt folgte. Der Angeklagte und der Vertheidiger durften bei der Vernehmung der Zeugin außerhalb der öffentlichen Sitzung nicht zugegen sein; wohl der Ankläger. Man nennt das Gleichheit vor dem Gesetze.

Den Vertheidiger wollte eine entsetzliche Angst verzehren. Sogar das Publicum, dem alle die kleinen, von mir wahrgenommenen Vorgänge nicht bemerkbar geworden waren, gewahrte sie. Dem Vertheidiger gönnte ich sie für seinen Siegestriumph bei der Nachricht von dem Erkranken des Kindes. Der Freiherr – ah, ich glaubte doch in seinen Augen mehr als Liebe zum Leben, mehr als Besorgniß für ein gleichgültiges Wesen, dem er etwa nur Dank schuldig sei, zu lesen; ich sah ein tieferes, ein innigeres, ein tief und fest mit dem Herzen verwachsenes Gefühl darin. Ich verzieh ihm so Manches.

Eine bange Viertelstunde war vorübergegangen. Das Gericht und der Staatsanwalt kehrten in den Saal zurück.

„Die Zeugin war zu krank, als daß sie vernommen werden durfte,“ verkündete der Präsident. „Ihre Mutter hat zudem bekundet, daß ihre Tochter gestern Abend zwar wohl auf wenige Augenblicke im Garten gewesen sei, aber sicher nichts Verdächtiges bemerkt haben könne, da sie sonst unter allen Umständen ihr, der Mutter, eine Mittheilung davon gemacht haben würde.“

Der Vertheidiger war wieder unbeweglich. Der Angeklagte sah mit starren Augen vor sich nieder; es kam mir vor, als wenn jede äußere Bewegung die entsetzliche Bewegung seines Innern verrathen müsse, und als wenn er das fühle. Nach ein paar Secunden mußte er doch das blasse Gesicht mit beiden Händen bedecken.

„Verlangt der Herr Staatsanwalt noch vorab das Wort?“ fragte der Präsident.

„Ich verzichte,“ erklärte der Staatsanwalt.

„So fordere ich den Herrn Vertheidiger auf, in seinem unterbrochenen Vortrage fortzufahren.“

Und der Vertheidiger fuhr mit jener vollen Ruhe zu sprechen fort, mit der er gesprochen hatte, als das neu eingetretene Ereigniß seine Rede unterbrach. Aber er hatte nur noch wenige Worte zu sagen.

„Der Vorfall der heutigen Nacht,“ sagte er, „entbindet mich von allem Weiteren, was ich Ihnen, meine Herren Geschworenen, noch vorzutragen hatte. Sieben bis acht vollkommen glaubwürdige Menschen, zum größten Theile Ihnen selbst als Ihre ehrenwerthesten Mitbürger bekannt, zum Theil sogar, wie ich hier erfahren habe, mit Mehreren von Ihnen durch Bande der Freundschaft oder Verwandtschaft enger verbunden, haben vor Ihnen bekundet, daß ein Mensch, der die auffallendste Aehnlichkeit mit dem Angeklagten hat, den sie gar für diesen gehalten haben, in der vergangenen Nacht fünf Meilen weit von hier ein schweres Verbrechen begangen hat, das an dasjenige Verbrechen erinnert, dessen der Angeklagte angeschuldigt ist. Eben so viele, nicht minder glaubwürdige Zeugnisse haben Ihnen dagegen, in Verbindung mit den sorgfältigsten Nachforschungen des Herrn Präsidenten, die Ueberzeugung verschaffen müssen, daß der Angeklagte während der ganzen vergangenen Nacht in dem hiesigen Gefängnisse sich befand, mithin nicht der Verbrecher dieser Nacht sein konnte. Ein Anderer, der mit dem Angeklagten die größte Aehnlichkeit hat, muß also notwendig in der Gegend weilen. Wer er ist, wer er sein mag, der Angeklagte weiß es nicht, Keiner hier im Saale weiß es, er [150] würde sich sonst melden. Jener Andere muß auch vor drei Monaten bei der Ermordung des Grafen Hochhausen mit dem Angeklagten verwechselt worden sein. Die Zeugen konnten sich damals einer solchen Verwechselung schuldig machen. Sie, meine Herren Geschworenen, können es heute nicht mehr. Ich wenigstens, wenn ich unter Ihnen säße, könnte es nicht auf mein Gewissen nehmen, zu erklären: der Angeklagte ist der Mörder des Grafen Hochhausen. – Und weiter kein Wort an Sie, meine Herren Geschworenen. Doch noch Eins: Sie wollen nicht vergessen, daß wir hier in der Nähe der See wohnen, daß uns zur Rechten und zur Linken bedeutende Seehäfen liegen, und daß von da aus mancher fremde Abenteurer in das Land kommen kann, von dem Polizei, Gerichte und wir nichts wissen.“

Damit schloß der Vertheidiger.

Der Präsident resumirte kurz und unparteiisch die Verhandlungen und sandte die Geschworenen in ihr Berathungszimmer, um ihr Verdict zu geben über die Frage, ob der Angeklagte, Freiherr Wallberg, schuldig sei des Mordes des Grafen Hochhausen.

Die Geschworenen kehrten schon nach einer Viertelstunde zurück.

„Nichtschuldig!“ lautete ihr Wahrspruch.

Der Gerichtshof sprach den Angeklagten von der Anklage des Mordes frei. Der Präsident setzte den Angeklagten sofort in Freiheit.

Der Angeklagte eilte auf seinen Vertheidiger zu, drückte ihm flüchtig die Hand und stürzte aus dem Saale. Der Vertheidiger war unbeweglich und unergründlich.

„Wohin mag der Freiherr so schnell geeilt sein?“ wurde im Saale gefragt.

„Zum Gefängniß!“ wurde verwundert die Nachricht gebracht.

„Aber er ist ja in Freiheit gesetzt!“

Ich wußte wohl, warum er dennoch dahin geeilt war. Noch Einer wußte es außer mir. Ich wartete, als ich den Saal verließ, auf den Vertheidiger. Er kam allein.

„Sie haben ein gewagtes Spiel gespielt,“ sagte ich zu ihm. „Aber Sie haben es gewonnen.“

Er sah mich einen Augenblick betroffen an. Er erkannte mich wieder, freilich ohne zu wissen, wer ich war.

„Mein Herr,“ erwiderte er mir, „jeder Proceß ist ein gewagtes Spiel, das der Eine gewinnt und der Andere verliert.“

„Es kommt aber auf den Einsatz an,“ sagte ich.

„Ja.“

„Und hier haben Sie Leben um Leben gespielt.“

„Ich verstehe Sie nicht.“

„Hat nicht das arme, blasse Kind aus jenem Gefängnisse das Leben des Angeklagten gerettet?“

Er verfärbte sich doch.

„Mein Herr –“

„Und war nicht ihr Leben der Einsatz, der Preis für jenes gerettete Leben?“

„Mein Herr, wer sind Sie?“

„Es wird nichts zur Sache thun. Jedenfalls bin ich ein Mann, der es nicht unternimmt, geschehene Dinge ändern zu wollen. Der Freiherr ist einmal freigesprochen.“

„Und, mein Herr, den freisprechenden Wahrspruch der Grschworenen kann nichts mehr aufheben oder ändern, gar nichts in der Welt.“

„Ich weiß es. Auch nicht der vollständige Nachweis, daß der Freiherr auch der Verbrecher der heutigen Nacht war –“

„Auch der Nachweis nicht.“

„Daß das arme Kind ihn aus seiner Haft hinausgelassen und, um die Beamten zu täuschen, bis zu seiner Rückkehr seine Zelle eingenommen hatte –“

„Auch das nicht.“

„Daß sein Vertheidiger den Plan angegeben und mit ausführen geholfen hatte –“

„Mein Herr, wenn das Alles bewiesen werden könnte, so wäre die einzige Folge, daß ich meine Stelle als Rechtsanwalt, mithin auch als Vertheidiger verlöre. Ich kann aber leben, und was das Vertheidigen anbetrifft, glauben Sie mir, mein Herr, ich habe es herzlich satt. Tage, wie der heutige, gehören zu den schwersten meines Lebens.“

Die Worte kamen ihm aus dem Herzen, und aus einem schwer gedrückten Herzen.

„Mein Herr,“ erwiderte ich ihm, „ich konnte Ihnen vorhin kein Glück zu dem Gewinnen Ihres Spieles wünschen. Ich hatte das Rechte getroffen. Aber darf ich mir die Frage erlauben, warum Sie denn solche Spiele spielen?“

„Warum haben wir solche Geschworenengerichte?“ sagte er.

„Vor anderen ständigen Gerichten hätten Sie es nicht gewagt?“

„Nein. Vor ihnen kann man keine Schauspiele aufführen.“

„Und warum haben wir diese Geschworenengerichte?“

„Weil man aus zweien Uebeln das kleinere auswählen muß, weil die Geschworenen unabhängige Männer sind, und unsere von der Regierung angestellten und unter Disciplinargesetze und andere Maßregelungen gestellten ständigen Richter –“

Er brach ab.

„– das nicht sind?“ fragte ich.

Er antwortete nicht.

„Eine andere Frage dann noch.“ sagte ich. „Verdient dieser Freiherr das Opfer des jungen Lebens, das für ihn im Sterben liegt?“

Er wurde wieder herzlich.

„Ja, mein Herr,“ sagte er. „Wie das Kind ihn mit aller Kraft seines zarten Lebens liebt, so liebt er sie mit seinem ganzen starken, muthigen Herzen. Er war es, der die große That des Kindes nicht annehmen wollte. Aber sie wäre mit ihm gestorben. Er fühlte es; da gab er nach, und sein festester Vorsatz ist es, sofort nach seiner Freisprechung von seinem untreuen Weibe sich scheiden zu lassen und dem edlen Kinde seine Hand zu reichen.“

„Ich fürchte, es war sein Vorsatz,“ mußte ich sagen.

„Nur der Tod des Kindes würde ihn lösen können.“

„Das befürchte ich.“ –

Und ich hatte Recht darin. Am folgenden Morgen früh kam der Vertheidiger zu mir. Er war voll Schmerz.

„Die Arme ist todt,“ sagte er. „Sie ist um Mitternacht in seinen Armen gestorben.“

„Und er?“

„Er nennt sich ihren Mörder. Er will sich den Gerichten überliefern. Er will sterben. Aber er ist einmal für nicht schuldig erklärt; nichts in der Welt kann das Verdict der Geschworenen wieder aufheben.“

„Und Sie?“ fragte ich noch.

„O, mein Herr, ich habe gestern zum letzten Male vertheidigt.“



  1. WS: Im Original Staasanwalt