Ein Reisemärchen/Fünftes Kapitel

Textdaten
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Autor: Alfred de Musset / P.-J. Stahl
Illustrator: Tony Johannot
Titel: Ein Reisemärchen
Untertitel: Fünftes Capitel
aus: Illustrirte Zeitung, Nr. 4 vom 22. Juli 1843, S. 59–60
Herausgeber: Johann Jacob Weber
Auflage:
Entstehungsdatum: 1843
Erscheinungsdatum: 1843
Verlag: J. J. Weber
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Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: Oskar Ludwig Bernhard Wolff
Originaltitel: Le Voyage où il vous plaira
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: MDZ München, Commons
Kurzbeschreibung:
Fortsetzung: Ein Reisemärchen/Sechstes Kapitel
Eintrag in der GND: [1]
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Ein Reisemärchen.
(Fortsetzung.)
Fünftes Capitel.
Aus Franzens in Prosa geschriebenem Tagebuch. – Album eines Mannes, der sich verheirathen will.

„Ach, ach!“ sagte ich zu mir, als ich wieder in meinen Pantoffeln stecke, „was hat sich denn zugetragen?“

Ich erinnerte mich, daß der Major während unseres Gespräches heftig und mit einer ungewohnten sehr ungeduldigen Bewegung den Lehnstuhl zurückgeschoben und dabei: „Immer noch!“ ausgerufen hatte.

Eine Thräne war langsam aus Maria’s sanftem Auge auf ihre rosige Wange und von da auf die zierliche Geldbörse hinabgerollt, die sie für den alten Horn als Weihnachtsgeschenk häkelte.

Wir hatten zusammen mit Scherz und Lachen die Farben ausgesucht und waren so heiter dabei gewesen, denn es galt allerlei kleine Listen anzuwenden, um von dem alten Herrn herauszubringen, was seine Lieblingsfarben seien. Endlich war es uns geglückt, und Maria begann alsbald die Arbeit, um zur rechten Zeit damit fertig zu werden.

Und nun war schon eine Thräne darauf gefallen!!

Gleich einem Edelstein hing diese Thräne
Noch blinkend in dem zierlichen Gewebe,
Dann fiel sie langsam, langsam – auf mein Herz.
Ein heißer Tropfen, ätzend, und ich wähne,
Daß Nichts sie löschen kann, daß dort sie lebe
Genährt von meiner Sorge, meinem Schmerz.

Ich sah sie aus Maria’s Auge dringen
Und hätte sie so gern mit einem Kusse
Von ihrem Antlitz leise weggehaucht;
Die eigne Trauer konnt’ ich nicht bezwingen,
Sie trieb mich fort – dem nagenden Verdrusse
Zu wehren, hab’ ich selber Trost gebraucht. –

Rabbinen lehren: Wenn Jehovah schauet,
Wie sich zum Bösen selbst der Mensch verführet,
Und immer abwärts von der Gottheit strebt, –
Daß eine Zähre ihm im Auge thauet:
Wenn diese bei dem Fall das Meer berühret,
So braust es wild auf, und die Erde bebt.

So fiel auch deine helle Thräne nieder
Ins Meer von meinen schlummernden Gedanken,
Und plötzlich tobt und stürmt es wild in mir;
Die alten Qualen kehren furchtbar wieder;
Die alten Zweifel auf- und abwärts schwanken –
Maria! Ruhe find’ ich nur bei Dir!

Und doch – Maria’s Thräne hat mich nicht so schmerzlich berührt, wie das stumme Mitgefühl ihrer sanften, liebevollen Mutter. Langsam richtete sie die Augen auf ihre engelgleiche Tochter, ohne ein Wort zu äußern, aber deutlich las man in ihren Blicken die Worte: „Mein armes Kind! Du mußt Dich darein fügen. Es ist Gottes Wille!“

Aber warum war denn der alte Major so zornig? – Warum vergoß Maria die Thräne? Das blieb mir unerklärlich.

Um mich zu zerstreuen, zündete ich eine Pfeife an, blies, wie das in solchen Fällen immer geschieht, den Rauch nachdenklich in die Luft und griff zu dem ersten besten Buche, das nebst vielen anderen verwandten Werken auf meinem Tische aufgestapelt lag. Es war ein Band der

     Reisen um die Welt, von Capitain Cook.

Da ging mir ein Licht auf – mein Gedächtniß versagte mir nicht länger den Dienst.

„Verflucht sei die unselige Reisewuth!“ rief ich; „von Neuem hat sie mich hingerissen, tausend unsinnige Dinge zu schwatzen, die Maria betrübt, ihre Mutter gequält und den alten Herrn recht böse gemacht haben.“

Ich beschloß, mich augenblicklich zu bestrafen. Es fiel mir ein, daß Goethe einmal bemerkt, seine meisten poetischen Werke seien eigentlich eine Art Selbstbeichte, um mit sich über einen ihn beherrschenden Zustand der Seele in das Klare zu kommen. „Das Mittel muß probat sein,“ dachte ich, „da ein so großer Geist es so oft angewendet hat. Wo eine ordentliche Beichte ist,“ meinte ich ferner, „da bleibt auch die Reue und die Buße nicht aus. Reue und Buße bin ich aber der lieben Maria, der guten Frau Forster, dem wackeren Major schuldig, und will ihnen meine Schuld aus Herzens Grunde abtragen.“

Ich ergriff nun eine Feder und schrieb wie folgt:

Wider das Reisen.
Zerstreute Gedanken eines Reisenden, der endlich zu Hause bleibt.

Das Reisen ist eine Erfindung des Teufels, der es so leicht macht, um die Menschen desto sicherer zu verführen. Fing er nicht schon mit Adam und Eva an? Hätten sie den Apfel nicht gegessen, so wären sie hübsch im Paradiese geblieben, das ihnen der liebe Gott in Erbpacht gegeben. Nun aber vertrieb sie der Engel mit dem flammenden Schwerte, und sie begaben sich auf die Reise. Von dieser Reise aber datirt sich alles Elend der Menschheit.

Wann waren die Israeliten am undankbarsten gegen Gott und Moses, die es doch beide so gut mit ihnen meinten? Auf der Reise in das gelobte Land, wo sie sich beständig gegen die Anordnungen ihres Führers auflehnten und das goldene Kalb anbeteten; eine Schwäche, die ihnen seitdem geblieben ist und mit der sie allmälig fast alle anderen civilisirten Völker angesteckt haben.

Noch größeren Schaden aber hat die Reisewuth gestiftet. Man denke nur an die Völkerwanderung. – Ganze Nationen machten sich da auf die Reise und schoben und drängten sich vorwärts. Es war wie eine hinten angespannte Locomotive, die entweder fortschiebt oder zermalmt. Wer heute an der Donau zu Bette ging, konnte erleben mit dem nächsten Morgen an der Elbe oder gar im Himmel, wenn nicht in der Hölle aufzuwachen. Von der Verwirrung, die dadurch angestiftet wurde, haben wir uns jetzt noch nicht erholt; es ist daraus eine Confusion in der Weltgeschichte wie in der Weltgeschichtsschreibung entstanden, die noch immer auf Lösung harrt.

Ich könnte noch viele solche Belege anführen, aber mein Styl wird dadurch zu altmodisch und man möchte mir nicht ansehn, daß ich ihn auf Reisen gebildet habe. Das wünsche ich aber, denn eben dadurch beurkunde ich meinen Beruf, wider das Reisen zu schreiben.

Was gedeiht durch das Reisen? Nur die Wirthshäuser, die wie Pilze aus der Erde schießen, und sich gegenseitig überbieten an Luxus, Eleganz und Bequemlichkeit. – Was gedeiht durch die Wirthshäuser? Das Schlemmen und Zechen, das Einem dort so leicht gemacht wird, und daß das leichte Schlemmen und Zechen die Sittlichkeit zerstören, das bestreitet gewiß Niemand. Ergo: das Reisen zerstört die Sittlichkeit.

Das Reisen befördert die unglücklichen Ehen. – Der Gatte auf Reisen meint, er müsse seine Zeit weise benutzen und interessante Bekanntschaften machen; darüber vergißt er gar leicht, daß er verheirathet ist; die Gattin daheim freut sich dagegen, daß sie während seiner Abwesenheit nicht blos der Sache nach, sondern auch dem Namen nach Herr im Hause ist, und das behagt ihr gar sehr. – Kehrt Jener nun zurück, und das alte Verhältniß tritt wieder ein, so gefällt es beiden Theilen nicht mehr, und ist das erst der Fall, so ist auch die Untreue nicht mehr weit.

Ein gereister Mann zu sein, ist jetzt keine Kunst mehr; hoffentlich wird es aber bald eine Ehre werden, ein nicht gereister Mann zu sein. Reisen ist Mode geworden; sich nicht von der Mode beherrschen lassen, beweist, daß man Charakter habe.

Das sogenannte junge Deutschland überschwemmte die Welt mit Reisebildern, Reiseblättern, Reisebriefen, Reisenovellen, Wanderbüchern, Reiseabenteuern und so weiter. Dafür wurden seine Schriften auch verboten. Das jüngste Deutschland handelt also am klügsten, wenn es hübsch zu Hause bleibt; dann beschreibt es seine Reisen nicht und seine Werke werden ihm nicht verboten. Es hat dadurch den Gewinn, daß seiner Gründlichkeit, seinem Geldbeutel und seinem Verleger kein Schaden zugefügt wird.

Die Hauptsache aber ist, daß das Reisen Geld kostet und zwar viel Geld, und daß dieses Geld immer aus dem Lande geschleppt wird. Die kleinen deutschen Fürsten sollten vor Allem daher das Reisen verbieten, und zwar je kleiner ihr Land ist, desto strenger, denn je kleiner ihr Land ist, desto mehr Geld wird hinausgeschleppt und desto weniger hineingetragen; das geht Alles in die großen Länder und bleibt dort.

Geld aus dem Lande tragen ist aber überall ein Hauptverbrechen; man frage nur die Finanzminister. Mich wundert, daß die neuen Criminalgesetzbücher so wenig Rücksicht darauf genommen haben. Ich mache die gesetzgebenden Behörden darauf aufmerksam und bitte mir gelegentlich einen Orden dafür aus; es hat aber keine Eile.


Verdrießlich warf ich die Feder weg und gab mir nicht einmal die Mühe, das Geschriebene zu überlesen. Der Wurm nagte noch immer fort an meinem Herzen, das in der Einsamkeit klopfte wie eine Todtenuhr. – Maria hatte [60] ja um mich geweint. – Ach, wir Männer sind so täppisch, wir ahnen oft nicht einmal, wie tief wir durch eine ungeschickte Bemerkung, einen unzeitigen Scherz ein armes weibliches Herz verletzen können und ihm eine Wunde schlagen, die das ganze Leben hindurch bei der leisesten Berührung wieder blutet und schmerzt.

Maria hat um mich geweint! – Ich kann das nicht vergessen. Alle Herrlichkeiten der Welt können mich nicht darüber trösten, ihr Thränen in die Augen getrieben zu haben.

Nein, nein, ich will nie wieder daran denken, zu reisen!

Morgen früh soll es mein Erstes sein, zu dem Major zu gehen und ihn zu bitten, meine Thorheit zu vergessen und mir zu helfen, Maria’s Verzeihung zu erlangen.

Ich werde mich der Geliebten zu Füßen werfen und ihr feierlich geloben, sie nie zu verlassen. Sie wird mir glauben und meine ernste Reue ihr Herz rühren.

Ich sehe sie schon mir im Geiste ihre kleine weiße Hand reichen und ihre sanften blauen Augen mit dem Ausdrucke der zärtlichsten Liebe auf mich richten.

Ach, wie lieb strahlten diese süßen Sterne an dem Tage, wo sie mir mein Lieblingslied sang, das alte Volkslied: „So viel Stern’ am Himmel stehen“, das sie mit einem Ausdrucke vortrug, als ob sie es selbst gedichtet habe, und es in jenem Augenblicke erst ihrem innigsten Gefühle entquelle:

Da schrieb ich folgendes Gedicht an sie, als ich Abends zu Hause kam und mir ihre Töne noch immer in tiefster Seele nachklangen.

Maria.

Wenn der Frühling milde Lüfte
Kosend einer Knospe spendet,
Oeffnet sie den Kelch und sendet
Still nach oben süße Düfte,
Und es ist, als ob die Seele,
Die der Pflanze zugetheilt,
Dankerfüllt gen Himmel eilt.

So Maria, wenn sie singend
Vor dem offnen Fenster steht,
Und die Töne, sanft verklingend,
Mit des Abends Hauch verweht, –
Von den Lippen aufwärts schweben
Und zum Vater Aller streben. –
Ihr Gesang ist ein Gebet.

Sie wird das nicht vergessen haben.

Dann wird sie sich auch schmücken und das hellblaue Kleid anziehen, das ich so liebe und das ihr so gut steht. Wir werden zusammen in die Kirche gehen,

denn morgen ist ein Sonntag und die Predigt andächtig anhören; aber wenn die Gemeinde still das Vaterunser betet, dann werden wir unser eigenes inniges Dankgebet zu Gott emporsenden, für das große Glück, das er uns jetzt schon gewährt und das uns noch erwartet. Ich werde dem Allmächtigen ganz besonders auf meinen Knieen danken, daß er mich noch einmal vor mir selbst gerettet hat. – Dann werden wir, wenn wir nach Hause gehen, den längsten Weg einschlagen und die Wiesen durchstreifen, die eine weiße Schneedecke hüllt und welche in den Sonnenstrahlen flimmert, als sei es ein Gewebe von Diamanten und Rubinen. Ich höre schon Maria’s herzliches Lachen, wenn ihre zarten Füßchen im Schnee versinken und ich ausgleite, da ich ihr zu Hülfe kommen will.

So kehren wir heiter nach Hause zurück, indem sie sich voll Vertrauen auf meinen Arm stützt.

Die gute Mutter wird uns wohlwollend empfangen, und die erstarrten Hände ihrer geliebten Tochter in den ihrigen erwärmen.

Wir nehmen dann unser einfaches Mahl ein; alle Erinnerung an den gestrigen unangenehmen Abend ist verbannt. Nach dem Essen plaudern wir und setzen uns behaglich an den Theetisch. Der alte Major, der meine Unart auch vergessen hat, wird Maria bitten, ihm die Pfeife zu stopfen, weil sie ihm dann am besten schmeckt, und mein Liebchen es mit großer Zierlichkeit und Grazie zu thun versteht.

Dann wird er uns eine von seinen langen Kriegsgeschichten zum hundertsten Male erzählen, und wir ihm aufmerksam zuhören, oder wenigstens so thun.

Wie groß wird mein Glück sein, wenn ich sie glücklich sehe und zwar glücklich durch mich! Ach! wie ist die Nacht so lang! Will sie denn gar kein Ende nehmen?!

(Fortsetzung folgt.)