Ein Musterreiter der guten alten Zeit

Textdaten
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Titel: Ein Musterreiter der guten alten Zeit
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 20, S. 329, 331–332
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Der Musterreiter in der „guten alten“ Zeit. Nach einer Originalzeichnung von O. Fikentscher. (Vergl. S. 331.)

[331] Ein Musterreiter der guten alten Zeit. (Mit Abbildung Seite 329.) Das Bedürfniß, „reisen“ zu lassen, um nach Vorlage von Proben oder Mustern Bestellungen zu empfangen, kurzum, die alten Kunden fest zu halten und neue zu gewinnen, war in früherer Zeit weniger vorhanden. Die Handelsartikel waren stabiler und die Messen und Märkte von größerer Wichtigkeit, als dies heute der Fall ist. Hier fand man Gelegenheit, seinen Bedarf einige Male während des Jahres zu decken. Trotzdem war es aber für das Handelshaus gerathen, auch wenn es mit seinen Waaren möglichst viele solcher Messen und Märkte bezog, einen Vertreter zu halten, welcher möglichst ununterbrochen und in Person die Beziehungen des Hauses zu der Kundschaft regelte und herstellte und dadurch die Größe und Festigkeit der Firma wesentlich unterstützte.

Ein solcher Mann ging in der Regel aus einem erprobten Gehülfen des Geschäfts hervor, und man mußte ihm als zukünftigem Reisenden ein großes Maß von Vertrauen schenken. Seine Vollmachten waren bedeutend, und war er einmal zum Thore hinaus, so war auch eine Controle nicht mehr möglich, und ein Urtheil über ihn seitens der Kundschaft ließ auch lange auf sich warten. So mußte sich denn der Reisende auf Handschlag verpflichten, bei seinen Musterreisen mit besonderer Umsicht, Sorgfalt, Thätigkeit und Sparsamkeit zu Werke zu gehen.

Das Reisen geschah entweder zu Pferd oder durch ein Fuhrwerk. Die erstere Manier, „die Muster zu reiten“, war bis vor fünfzig Jahren viel gebräuchlich und zwar aus zweierlei Gründen. Erstens suchte man eine Ersparniß darin, und zweitens waren viele Wege, namentlich zu einzelnen Jahreszeiten, so schlecht, daß man zu Wagen nur schwer darauf fortkommen konnte. Mit dem Pferde allein kam man leichter durch Dick und Dünn, und man konnte auch öfter einen schmalen Feld- oder Fußweg benutzen, um wohlfeiler und schneller an das Ziel zu gelangen.

Das Reisepferd mußte groß und stark sein; denn es hatte auf seinem Rücken außer seinem Herrn genug zu tragen. Hinter dem Sattel lag der Mustersack und der Mantelsack, welch letzterer außer der Wäsche und einem Paar Stiefel die nöthigsten Reservekleidungsstücke des Reisenden enthielt. In diese Ballen müßte öfter noch eine ziemliche Last Courant-Geld eingeschnallt und mit fort transportirt werden. Vorn über die Schultern des Pferdes lagen Taschen, welche eine Pistole zur Sicherheit und einige Sachen zur Bequemlichkeit und Erfrischung enthielten, während an der rechten Seite manchmal ein starkes Etui zur Aufnahme eines festen Schirmes, eines Stockes und eines Stoßdegens an dem Sattel befestigt wurde.

Die Montur des Reisenden bestand vor Allem aus einem blauen tuchenen Mantel, welches Kleidungsstück so weit war, daß es, auf dem Boden ausgebreitet, einen vollständigen Kreis bildete. Eine lederne Unterhose und ein mit Leder besetztes Beinkleid durfte nicht fehlen. Ein kurzer russisch-grüner Tuchrock unter dem Mantel, eine Mütze mit Sturmriemen und Ohrenlappen, Sporen, Handschuhe und Reitpeitsche vervollständigten das Reitcostüm. Als Eigenthümlichkeit hatten manche, so z. B. die Magdeburger Reisenden, einen Säbel umgeschnallt. So ging es nun wohlgemuth hinaus auf die Landstraße, um einige Meilen bis zum nächsten Städtchen im Schritt und im Trabe zurückzulegen. Bei letzterer Gangart mußte das Pferd der eigenthümlichen Belastung halber bald in einen „Paß“-Trab übergehen, der für beide Theile anstrengend war. Ein solcher früherer Musterreiter würde ausrufen: ja, haben es jetzt die Reisenden gut: sie setzen sich in ein Eisenbahncoupé zweiter Classe, strecken alle Viere von sich und werden fortgezogen, sie mögen wollen oder nicht.

Auf der Landstraße war der Frachtfuhrmann sein Freund und Leidensgefährte. Der Reisende nahm es ihm nicht übel, mit „Du“ und „Reiseknecht“ angeredet zu werden, und man tauschte gegenseitig seine Erfahrungen und Meinungen über die Beschaffenheit der Wege, die Entfernungen und über anderes Nützliche aus. Beiden schlug zur Abenddämmerung das Läuten der Glocken mit oft derselben Bestimmung entgegen: „Komm und bleibe auf dem richtigen Wege; bald sollen Dir gastliche Räume winken!“

Dies war nun oft in Wirklichkeit der Fall. Das Städtchen war erreicht und vor dem Gasthause Halt gemacht. Der Hausknecht fiel dem Pferde des Reisenden in die Zügel, und der Wirth zog ehrsam sein Käppchen. Das beste Zimmer wurde ihm gegeben, während die Wirthin einen Stolz dareinsetzte, für ein gutes Abendbrod sorgen zu dürfen. Bevor sich jedoch der Reisende diesem Genusse hingab, ging es in den Stall. Hier sah er nach seinem „Braunen“ und controlirte namentlich mit Sorgfalt, daß dem Thiere nicht eine Zugluft schade oder ein Nagel dasselbe ritze, denn sein Reisefortkommen war zu eng mit dem Wohlbefinden des Rosses verbunden.

Die Kunde von dem Erscheinen des neuen Gastes hatte der Wirth bereits heimlich einigen Bekannten mitgetheilt, und der Musterreiter war nunmehr der Held des Abends. Man wollte etwas Neues von ihm erfahren, wie es in der Welt zugeht, und war gespannt auf seine Erzählungen und seine kurzen und witzigen Anekdoten, die er zum Besten gab. Auch seine Kunden hatten sich inzwischen eingestellt und baten ihn, des andern Tags nur recht bald zu ihnen zu kommen. Von seiner Kundschaft wurde er überhaupt ehrfurchtsvoll begrüßt und als Hausfreund aufgenommen. Er mußte auch hier von seinen Erlebnissen erzählen, und viele Fragen wurden seinem Gutachten unterworfen. Wurde während seines Aufenthaltes zufällig ein Familienfest begangen, so durfte er sich von demselben nicht ausschließen.

Da außerdem in früherer Zeit in der Regel wenige und meist nur respectable Handelshäuser reisen ließen, fiel es ihm nicht schwer, den eigentlichen Zweck seiner Reise: einen neuen Auftrag zu erlangen und für den letzteren das Geld in Empfang zu nehmen, zu erfüllen. Es lag beides in der Regel schon parat da und erforderte eigentlich die wenigste Arbeit. Das Incasso war allerdings etwas beschwerlich; denn es gab viel Courant; alle möglichen Münzen kamen dabei zum Vorschein, und da hieß es aufpassen und vortheilhaft umwechseln. Die Gelegenheit zu letzterem war aber nicht immer vorhanden, und deshalb mußte manchmal eine große Portion Courant auf dem Gaule einige Touren mit fortgeschleppt werden. Der Auftrag war dagegen bei der Offenheit seiner Kunden bald notirt, und nur die Bestimmung über den besten Weg, den die bestellten Waaren nehmen sollten, ob nicht ein Stück Wasserstraße zu benutzen, welchem Fuhrmanne die Ladung zu übergeben sei u. dergl. m., wurden eingehend besprochen und mitnotirt.

Den dritten Tag galt es nun weiter zu kommen; denn bis dahin waren in der Regel die Geschäfte an einem Orte erledigt; der Braune war wieder gesattelt und gepackt, die Rechnung bezahlt, unser Reisender konnte also wieder schwimmen. Nicht selten gab ihm der Wirth eine Begleitung mit. Passirte nämlich der Reisende einen verrufenen Weg oder einen großen Wald, wo man Gefahr für sein Leben befürchtete, so wurde ihm ein berittener Knecht bis über die unsicheren Punkte hinaus mitgegeben, wofür er ein Meilengeld zu zahlen hatte.

Ein Tag in der Woche oder gewöhnlich der Sonntag gehörte dem Reisenden allein, da wurde möglichst kein Besuch gemacht und der Vorschrift gemäß Bericht an das Handelshaus erstattet, sowie die überflüssigen Gelder eingeschickt. Dann wurden die Muster, ein „Heiligthum“ für ihn, einmal gründlich wieder geordnet und glatt gelegt und die übrige Zeit zu persönlichen Angelegenheiten verwendet.

In dieser Weise verging der größere Theil des Jahres. In der langen Zeit wurde manchmal auch das Pferd lahm, und langsam ging es dann vorwärts, oft bei anhaltendem Landregen, wie dies der leider zu früh heimgegangene Meister Fikentscher auf seiner diesem Artikel beigegebenen Abbildung in humoristischer Weise wiedergegeben. Manche hatten als Abwechselung, wenn thunlich, zu einem Markte oder zu einer Messe, welche von dem Geschäftshause etwa besucht wurde, zu erscheinen, diese mit zu machen und von da aus die Tour bis zu ihrem Ende wieder aufzunehmen. Das Weihnachtsfest traf alsdann den Handelsreisenden zu Hause an, um ihm eine wohlverdiente Ruhe zu bescheeren.

Während seiner Abwesenheit vom Hause war er ein „guter Reisender“, gleichzeitig aber auch ein „schlechter Comptoirist“ geworden; das Pult war nicht mehr sein Element. Man wußte aber schon im Voraus, daß sich’s immer so gestaltet, und sah ihm in dieser Beziehung Vieles nach.

Kaum waren vier Wochen verflossen, so regte sich die Reiselust in ihm mächtig, und es zog ihn wie im Fieber hinaus auf die Landstraße. Die Muster wurden zurecht gemacht, das Schuldverhältniß der Kunden aus dem Hauptbuche gezogen, die einzuschlagende Route aufgesetzt, und so ließ man den Ritter gern wieder ziehen.

Mit der Verbesserung der Straßen und Erbauung von Chausseen führte sich das Reisen mit eigenem Geschirr von selbst mehr ein. Man fuhr entweder ein- oder zweispännig und nahm einen Reisekutscher mit. Nur selten fuhr sich der Reisende allein. Einzelne nahmen von Haus aus auch nur den Wagen mit und benutzten von Ort zu Ort Postpferde.

Der Reisende in seinem Geschirr hatte es bequemer als sein College zu Pferde, trotzdem mußte auch er noch genug Püffe aushalten; denn es gab nicht selten ellentiefe Geleise zu pariren.

War die Gegend unsicher, so war auch für ihn eine Waffe nöthig. Bemerkte man des Abends Personen, welche Mißtrauen erweckten, so gebrauchte der kluge Kutscher ein Posthorn, um die Betreffenden zu täuschen. Auch führte der Kutscher in der Regel unter seinem Sitze einen Säbel, für den Fall der Noth, bei sich. Aber alle diese Gefahren wurden überwunden, fand doch der Reisende durch die Hochachtung, die man ihm überall zollte, ein angemessenes Aequivalent. Und wie gemüthlich war es im Hôtel! Man traf da immer alte bekannte Reise-Onkels. Jeder hatte auch sein Klebfleckchen, das heißt einen Platz, wo es ihm besonders gefiel und wo auch die Pferde gut aufgehoben waren. In einem Gasthofe waren Sonntags manchmal zehn Reisende mit ihren eigenen Geschirren beisammen, da schloß sich keiner von einer Spazierfahrt aus und das ganze Städtchen wurde ob der langen Wagenreihe in Aufregung versetzt.

Die Stellung des Reisenden war eine lohnende. Die ihm bewilligten Reisespesen reichten für die gewöhnlichen Ausgaben, sodaß er von seinem [332] Jahresgehalte die größere Hälfte recht gut sparen konnte. Man ließ ihn überhaupt, wenn er sich gut eingerichtet hatte, nicht leicht aus dem Garne, und er wurde später in der Regel Theilhaber des Geschäfts oder hatte doch als Vertrauter des Principals und aus Dankbarkeit einen sorgenfreien Lebensabend.

So war das Reiseleben im Durchschnitt noch bis vor dreißig Jahren. Da kam die Eisenbahn mit ihrer alles nivellirenden Kraft, und man trennte sich von dem alten liebgewordenen Reisefuhrwerke, allerdings nicht, ohne daß auch eine Thräne beim Abschiede des Althergebrachten mit fortgerollt wäre.