Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Ein Kirchenscandal in London
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 10, S. 160
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[160] Ein Kirchenscandal in London. In der englischen Landeskirche (der sogenannten anglikanischen Hochkirche) gibt es eine Partei, welcher man Hinneigung zu einigen katholischen Lehren und Kirchengebräuchen zum Vorwurfe macht. Die Geistlichen, welche eines solchen „Puseyismus“ verdächtig sind, stehen im Allgemeinen nicht auf gutem Fuße mit den Gemeinden, weil diese von mißliebigen Neuerungen nichts wissen wollen, und dadurch wird eine gegenseitige Entfremdung hervorgebracht. Diese artet häufig in Feindseligkeiten aus, sobald die Geistlichen, was nicht selten geschehen ist, trotz allen Einspruches der Gemeinde darauf beharren, Abänderungen beim Gottesdienste vorzunehmen; und diese Hartnäckigkeit hat während der letzverflossenen Monate zu einer Menge höchst ärgerlicher Auftritte geführt, die sogar neulich im Parlamente zur Sprache kamen.

Im Londoner Kirchensprengel St. Georges in the East ist der Reverend Bryan King Prediger. Dieser Mann hat sich steif und fest in den Kopf gesetzt, daß keine Gemeinde selig werden könne, wenn der Prediger nicht ein farbiges Chorhemd trage. Er trat also in einem solchen vor die Andächtigen in der Kirche, aber diese nahmen an ihm ein großes Aergerniß und verklagten ihn beim anglikanischen Bischofe in London, seinem Vorgesetzten. Dieser entschied, daß Pastor King nach wie vor, gemäß den Vorschriften der Landeskirche ein weißes Chorhemd tragen solle. Dessen weigerte sich der hitzige Mann, er trat nun ohne Chorhemd auf die Kanzel und eiferte gegen den Bischof in so argen Ausdrücken, daß ein Theil der Anwesenden ihn auspfiff, während ein anderer ihn vertheidigte. Es kam zu einer blutigen Schlägerei, und diese bildete den Anfang zu einer Reihe von Scandalen, deren einen wir erzählen wollen.

Der bei weitem überwiegende Theil der Gemeinde hat sich an’s Parlament gewandt und dort ihren „ungestümen, querköpfigen“ Pastor verklagt; sie weiß nicht, wie sie ihn los werden soll, und mag ihn nicht behalten. King weicht und wankt nicht, und die Georgskirche war und blieb seit dem October der Schauplatz einer langen Reihefolge unwürdiger Auftritte. In den letzten Tagen des Januar begab es sich, daß die Kanonenstraße, in welcher jene Kirche steht, Abends um sechs Uhr von Menschen wimmelte, die sich alle herbeidrängten, um eingelassen zu werden. Die Kirchthüren waren noch verschlossen; man bezeigte nicht geringe Lust, sie zu sprengen, und wollte damit den Anfang machen, als noch zu rechter Zeit eine Schaar von Polizeibeamten herbei kam, um eine solche Gewaltthätigkeit zu verhindern. Um halb sieben, eine halbe Stunde vor Anfang des Gottesdienstes, wurde geöffnet, und nun strömten reichlich dreitausend Menschen in die Kirche. Unter ihnen befanden sich etwa tausend halberwachsene Jungen, echte Londoner Früchte, die lediglich in der Absicht gekommen waren, sich einen vergnügten Abend zu machen. Sie hatten die Gallerien erstürmt. Nicht der Gottesdienst, wohl aber der Scandal begann mit Katzenmiauen, Hahnenkrähen, Heulen, Schreien, Pfeifen und Zischen; Jung-England tobte sich in recht bestialischer Weise aus, legte Zeugniß von seiner hohen Gesittung ab und machte einen Höllenlärm. Auch an saftigen Gassenhauern, Solo und im Chor, war kein Mangel; ein Theil des Publicums schrie Bravo, ein anderer rief zur Ordnung. Bald flogen auch Hüte und Mützen von oben herab und wurden wieder hinaus geworfen; man schlug die Thüren der Kirchenstühle auf und zu, brannte Zündhölzchen an und rauchte Tabak, auch wollte man das Gas auslöschen. Dazu kam es aber nicht. Niemand trat dem wilden Pöbel entgegen, die Polizei mußte vor der Thür bleiben.

Um sieben Uhr erschienen Geistliche mit einem Gefolge von Chorsängern; sie begaben sich auf ihre Sitze, gegenüber dem Altar. Voran zog der „querköpfige“ Pastor und Rector Bryan King; mit ihm der Pfarrer Lowther; die zwölf Chorsänger trugen weiße Ueberwürfe. Sogleich tobte der Aufruhr wilder als vorher, das Publicum sprang auf, Scheltworte und Flüche ertönten von allen Seiten. King schien unwohl und in gedrückter Stimmung zu sein; sein College sprach den ersten Theil des Gebets, er selbst den zweiten Theil; aber Niemand konnte ein Wort davon verstehen. King will, daß die Antworten, welche die Gemeinde zu geben hat, gesungen werden; die Gemeinde antwortete aber diesmal mit unfläthigen Schimpfreden. Lowther stieg trotzdem auf die Kanzel; er wurde ununterbrochen ausgezischt und ausgepfiffen, doch blieb er standhaft und verlas als seinen Text Matthäus, Capitel acht, Vers sechsundzwanzig: „Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam? Und stand auf, und bedrohete den Wind und das Meer. Da ward es ganz stille.“ Diese Worte sprach der Geistliche mit großem Nachdrucke, ohne sich an das Lärmen zu kehren. Er schilderte, wie viele Verfolgungen die Kirche schon erlitten habe, daß sie aber in den Bemühungen, die Sünder zu bekehren, nicht nachlassen dürfe. Sie werde triumphiren! „Wer fürchtet etwas für die ewige Kirche Christi?“ Darauf lärmte die Jugend und schrie: „Wer fürchtet? Kikeriki!“ Allgemeines Gelächter. Der Geistliche blieb auch jetzt unerschütterlich und gelassen, wartete, bis es wieder ein wenig still wurde, und ermahnte die bösen Buben, es werde ein Tag kommen, da sie auf dem Siechenbette lägen; dann würden sie die heutige Kirchenschändung bereuen. Die bösen Buben waren aber feuerfest gegen diese Ermahnung und antworteten ihm mit einem ungeheuren Hohnlachen. Es erscholl der Ruf: „Wir wollen den Altar in Trümmer schlagen!“ und das wäre geschehen, wenn nicht ein starker Mann, den ein Chorsänger unterstützte, die zum Altare führende Gitterthüre mit großer Anstrengung vertheidigt hätte, aber die Leuchter in der Kirche wurden herunter gerissen, die Kniepolster umhergeworfen und den Geistlichen an die Köpfe geschleudert. Auch das hohe Kreuz über dem Altar blieb nicht verschont; es diente zur Zielscheibe für allerlei Wurfgeschosse. Während das geschah, waren in allen Theilen der Kirche heftige Prügeleien, das Schreien und Absingen von schmutzigen Liedern nahm seinen Fortgang. Niemand konnte dem Unwesen steuern. Ein Berichterstatter schreibt: „Der Auftritt war in der That gräßlich, und es wäre ohne Zweifel viel Blut vergossen worden, wenn nicht endlich der Polizeiinspector, auf seine eigene Verantwortlichkeit, mit sechs Mann in der Kirche erschienen wäre. Er vertrieb die Unruhestifter aus der Kirche, aber nun zogen sie vor Kings Haus. An jenem Abend ist viel werthvolles Kirchengut zu Grunde gegangen, die Gallerien und Bänke sind zertrümmert und hinabgeworfen worden, Bibeln und Gebetbücher wurden zerrissen oder als Wurfgeschosse benutzt, die Altarverzierungen sind beschädigt.“

Man begreift nur mit Mühe, weshalb ein offenbar der Gemeinde so widerwärtiger Prediger sich derselben noch immer aufdrängt. Sie mag nichts von ihm wissen, Gutes kann er nicht mehr stiften, Aergerniß gibt er und ruft er hervor, und doch geht er nicht! Aber in England haben viele Prediger gar keinen Begriff von Schicklichkeit und Anstand. Eben jetzt ist es förmlich Mode geworden, Kirche in den Komödienhäusern zu halten. Ein lächerliches Gesetz verordnet, daß am Sonntage in England keine Theatervorstellung gegeben werden darf. Darauf speculiren solche Pastoren, welche ein Publicum anlocken wollen; die sogenannten freien Prediger, die keine feste Kirche und keine eingepfarrte Gemeinde haben. Vom Sonnabend Abend zwölf Uhr bis Montag früh sind die „Satanstempel“ für Satan geschlossen, und dann ist Raum für Jehova. Die glänzenden Lampen, deren Strahlenlicht sonst auf Ballettänzerinnen fällt, scheinen am Sonntag auf die Frommen, und die Theaterdirectoren haben natürlich nichts dagegen, daß sie ihr Komödienhaus als Kirche vermiethen können. Ein ungemein eifriger Zionswächter, der früher schon als Straßenprediger viel von sich reden machte, hat lange Zeit im großen Concertsaale der Surrey Gardens Gottesdienst gehalten; er hielt seine Rede gewöhnlich vor zwölf- bis funfzehntausend Zuhörern. Der Mann heißt Spurgeon. Sein Vorgang fand Nachfolge; jetzt wird in nicht weniger als vier Theatern (dem Victoria-, dem Garrick-, dem Britannia- und dem Saddlers Wells-Theater) Sonntag Abends Kirche aufgeführt.

Am 15. December, sagt ein Londoner Blatt, fanden zwei Aufführungen statt, die eine um drei Uhr Nachmittags, die zweite um sechs Uhr Abends. Das Haus war trefflich beleuchtet, in den Logen saß ein Publicum mit Glanzhandschuhen, gerade wie an Theaterabenden. Das Publicum im Parterre war gemischt und offenbar sehr neugierig, einmal eine Kirche in der Komödie zu sehen. Prediger Goodhart bestieg nebst anderen Geistlichen die Bühne und stimmte einen Gesang an; nachher las er ein Stück aus der Bibel vor und sprach dann ein Gebet. Darauf folgte die Predigt, deren Text lautete: „Jesus ist in die Welt gekommen, um zu erlösen die Sünder, deren vornehmster ich bin.“ Die Predigt soll gut gewesen sein. Am andern Tage zog dann Harlekin wieder über dieselben Breter.