Ein Hort des evangelischen Kirchengesanges

Textdaten
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Autor: Moritz Vogel
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Titel: Ein Hort des evangelischen Kirchengesanges
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aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 875–878
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Ein Hort des evangelischen Kirchengesanges.


In den ersten Tagen des November hat sich in Leipzig ein Ereigniß vollzogen, das weit über die Grenzen der Stadt hinaus Interesse und lebhafte Theilnahme erweckt hat. Die Thomasschule, Leipzigs älteste Schulinstitution und eins der ältesten Gymnasien überhaupt, ist aus ihrem an historischen Erinnerungen reichen alten Hause an der Thomaskirche übergesiedelt in das neue Heim, welches ihr die Fürsorge der Stadt in dem unter dem Namen „musikalisches Viertel“ bekannten neuen Stadttheile errichtet hat.

Bei dieser Gelegenheit dürfte es angebracht sein, auf eine Eigenthümlichkeit der Thomasschule hinzuweisen, welche derselben ein Ansehen und einen Ruf verschafft hat, den sie mit keinem ähnlichen Institute theilt; ich meine ihr Alumneum, bekanntlich jene Schuleinrichtung, in welcher die Schüler zugleich Kost und Wohnung erhalten. Dasselbe, zur Pflege des kirchlichen Gesanges bestimmt, hat sich durch Jahrhunderte hindurch als ein Hort des evangelischen Kirchengesanges treulich bewährt. Ausgezeichnete Cantoren, die zugleich als Tonsetzer berühmt geworden sind, haben seinen Ruhm vermehrt. Hochgeachtet seiner künstlerischen Leistungen halber, steht das Alumneum der Thomasschule noch heute groß da, eine Zierde der Stadt, ein beneidetes Unicum des ganzen deutschen Vaterlandes. Grund genug, daß ihm auch die „Gartenlaube“ einmal ihre Aufmerksamkeit zuwende, wozu die verflossene Festfeier eine ganz besondere Veranlassung bietet.

Die Thomasschule ist schon sehr alt. Man weiß es nicht anders, als daß sie seit dem Anfange des dreizehnten Jahrhunderts existirt, das ist die Zeit, in welcher das Thomaskloster, von dem Schule und Kirche noch Ueberreste sind, gegründet wurde. Wenigstens ist von einer späteren Gründung der Schule nirgends die Rede. So alt wie die Schule selbst mag wohl auch ihr Alumneum sein. War es doch im Mittelalter in den Klöstern allgemein Sitte, sich eine Anzahl Knaben zu halten, die des Gesanges beim Gottesdienste pflegten.

Indeß wie die Nachrichten über die Schule überhaupt bis zur Zeit der Reformation nur spärliche und lückenhafte sind, so auch über das Alumneum. Man weiß weder, wie groß die Zahl der Alumnen zu den verschiedenen Zeiten war, noch erfährt man Näheres über die Cantoren, deren Namen nicht einmal aufbewahrt worden sind. Vermuthlich hat die Nachwelt dadurch nicht viel verloren, denn jene Herren Cantores sollen ihr Amt selten selbst verwaltet haben, und das berechtigt zu dem Schlusse, daß auch die Leistungen des Chores über das Geschäftsmäßige nicht hinaus gegangen sein werden.

Die eigentliche Bedeutung unseres Alumneums beginnt erst mit der Zeit der Reformation, die in Leipzig im Jahre 1539 eingeführt wurde. Kurze Zeit darauf kam das Thomaskloster in den Besitz der Stadt, nicht zum Nachtheile der Thomasschule, deren Alumneum Rath und Bürgerschaft mit fast rührender Sorgfalt gepflegt haben. Während um 1552 die Zahl der Alumnen nur zweiundzwanzig betrug, zählte das Alumneum zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts schon vierundsechszig Schüler, vier mehr als gegenwärtig. Selbst in der schweren Zeit des dreißigjährigen Krieges wurde das Alumneum von der Stadt behauptet, freilich nur unter großen Anstrengungen und nicht in jenem erfreulichen Stande. Heute existirt das Alumneum der Thomasschule lediglich durch milde Stiftungen, die ihm im Laufe der Zeit aus der Mitte der Bürgerschaft zugeflossen sind. Bei einem Bestande von sechszig Alumnen wird die Stadtcasse nur mit einem Minimum in Anspruch genommen.

Mehr noch als durch seine Fürsorge für das äußerliche Gedeihen des Alumneums hat sich der Rath der Stadt dadurch ein Verdienst erworben, daß er Männer an die Spitze desselben stellte, die als hervorragende Meister in ihrem Fache auch befähigt waren, die Leistungen des Chores zu heben und der Anstalt dadurch Ruhm und Ansehen verschafften. Es seien aus der stattlichen Reihe der Cantoren nur erwähnt die Sethus Calvisius, Johann Hermann Schein, Johann Sebastian Bach, Johann Gottfried Schicht, Moritz Hauptmann, Männer, deren Ruhm noch die spätesten Zeiten verkündigen werden. Viel verdankt Leipzig insbesondere dem großen Johann Sebastian Bach. Wenn das Alumneum der Thomasschule heute von einem ganz besonderer Nimbus umgeben ist, so ist derselbe auf die Beziehungen zurückzuführen, [876] welche die Schule zu Bach, diesem Meister aller Meister, gefunden hat und noch fortdauernd unterhält. Wer wüßte es nicht, daß der größte Theil seiner unsterblichen Meisterwerke in Leipzig entstanden ist? Für die Thomasschule hat er seine Passionsmusiken, die große Zahl seiner Motetten und Choralbearbeitungen geschrieben, in der Thomaskirche sind sie zuerst gesungen worden, und hier werden sie noch heute mit besonderer Sorgfalt gepflegt. Darum gelten Thomaskirche und Thomasschule aber auch als classischer Boden. Schon Mancher hat die Stätte, da der große Bach gelebt und gewirkt, mit frommer Rührung betrachtet, das Orgelchor, auf dem er gestanden, das bescheidene Eckfensterlein der Schule, hinter welchem er gearbeitet hat. Und das Gefühl, an solch geweihter Stätte zu stehen, das ist es auch, welches den Thomanerchor heute noch begeistert, wenn es gilt, „Bach“ zu singen. Es läßt sich behaupten, daß der Thomanerchor lediglich durch Bach zu dem geworden ist, was er heute ist, ein Kunstinstitut ersten Ranges.

Zwar weiß man auch aus früheren Zeiten schon, daß das Alumneum der Thomasschule als Gesanginstitut eines großen Ansehens genossen. So wird vom Anfange des 17. Jahrhunderts berichtet, daß „Jünglinge aus aller Herren Ländern, aus Preußen, Ungarn, Polen Dänemark, Schweden nach Leipzig zusammengeströmt seien, um neben dem wissenschaftlichen Unterrichte an der Thomasschule hauptsächlich auch die hier zu erwartende musikalische Unterweisung, die man für die Verherrlichung des Gottesdienstes wünschte, genießen zu können.“ Schwerlich sind aber die Leistungen des Chores damals schon so bedeutend gewesen, wie heute. Was jenen Reiz ausübte, war wohl mehr die Neuheit des protestantischen Kirchengesanges überhaupt, als die Art der Ausführung desselben.

Heute läßt sich vom Thomanerchor, der gegenwärtig unter Leitung des Professor Ernst Friedrich Richter steht, nur als von einem Kunstinstitute sprechen. Professor Richter, dieser ausgezeichnete Mann (geboren im Jahre 1808 in Großschönau bei Zittau, Cantor an der Thomasschule seit 1868), berühmt als gründlicher Theoretiker und nicht minder geachtet als Tonsetzer, hat die Leistungen des seiner Leitung unterstellten Chores auf eine Höhe gebracht, die wohl nicht noch überschritten werden kann. Durch tägliche Uebung geschult, haben es diese jugendlichen Sänger zu einer Ausdauer, Fertigkeit und Sicherheit in der Ausführung der schwierigsten Tonwerke gebracht, die den Kenner mit freudigem Erstaunen erfüllen. Besonders hervorstechend sind diese beneidenswerthen Eigenschaften im Vortrage Bach’scher Werke, die bekanntlich sehr schwierig sind und an die Ausführenden Anforderungen stellen, denen nur die geübtesten Sänger bei viel Lust und Liebe zur Sache zu entsprechen vermögen. Andererseits läßt sich aber auch behaupten, daß ein energisch betriebenes Bachstudium den besten Einfluß auf die musikalische Bildung des Sängers äußert. Das hat der Thomanerchor an sich selbst erfahren.

Man wird von einem aus Knaben und Jünglingen zusammengesetzten Gesangskörper nicht eine besonders mächtige Klangwirkung erwarten können. Den Sopranen und Alten fehlt das Glänzende der Frauenstimmen, den Tenören und Bässen die Fülle des Mannestones. Nichtsdestoweniger ist aber auch in Bezug auf das Verhältniß der Stimmen beim Thomanerchor Alles Ebenmaß. Der Grundton ist in allen vier Stimmen derselbe gedämpfte; keine deckt die andere, jede weiß ihren Platz mit Ehren zu behaupten. Die reiche Scala der im Thomanerchor vorhandenen Ausdrucksmittel steigt etwas weniger an, läßt, wie bereits gesagt, die höchsten Stärkegrade vermissen, bewegt sich aber dafür um einige Grad weiter nach unten, überrascht durch ein selten schönes pp. Und wann ist die Wirkung des Gesanges am nachhaltigsten? Ich möchte behaupten im Pianissimo, wenigstens habe ich an mir selbst erfahren, daß der leise Flüsterton viel leichter in’s Herz hinein dringt, als der mächtige Tonstrom, der die Sinne berauscht. Jenes sanfte Tongesäusel ist aber gerade in der Kirche, wo es an der ahnungsvollen Stimmung des Hörers einen mächtigen Verbündeten hat, von besonderer Wirkung. Und so mag auch der Thomanerchor schon Manches gewirkt haben. Mozart soll von seinem Gesange zu Thränen gerührt worden sein. Wie viel Thränen der trostreiche und erhebende Gesang der Thomaner aber im Laufe der Jahrhunderte getrocknet hat, wer möchte das sagen?

Außer dieser ideellen Seite hat das Alumneum der Thomasschule aber auch eine materielle, und auch diese darf nicht unberücksichtigt bleiben. Der praktische Gesichtspunkt, aus welchem sich die Einrichtung des Instituts betrachten läßt, ist folgender. Die Schule ist durch milde Stiftungen in den Stand gesetzt, eine bestimmte Anzahl Schüler in Kost und Wohnung zu nehmen und ihnen unentgeltlichen Unterricht zu gewähren. Dafür müssen sich dieselben dem Gesangschore einreihen lassen, dem die Ausführung der Gesänge sowohl beim Gottesdienste, wie auch bei den verschiedenen gottesdienstlichen Verrichtungen, als Trauungen, Begräbnissen etc., und zwar in allen Kirchen der Stadt, beziehungsweise in ihren Parochien obliegt. Aus diesem Grunde ist musikalische Befähigung die erste Bedingung zur Aufnahme in das Alumneum. Man wird das Wohlthätigkeitsprincip in dieser Einrichtung nicht verkennen. Schon mancher arme Knabe ist auf diese Weise zu einer wissenschaftlichen Bildung gelangt, die ihm die beschränkten Mittel des Vaters nicht hätten gewähren können. Andererseits ist aber auch nicht zu leugnen, daß das, was das Alumneum leisten muß, ein ganz artiges Capital von Zeit und Mühe repräsentirt.

Noch vor Kurzem war das Loos der Thomaner wahrlich kein beneidenswerthes. Neuerdings ist insofern eine Besserung eingetreten, als das überaus zeitraubende und anstrengende Begräbnißsingen abgeschafft worden ist. Mag auch durch den Ausfall der verschiedenen „ganzen und halben Leichen“ (technischer Ausdruck für große und kleine Begräbnisse, die besonders vergütet wurden) das Budget manches armen Thomaners nicht unwesentlich vermindert worden sein, das Institut des Alumneums ist dadurch von einem wirklichen Krebsschaden befreit worden. Wie manche Unterrichtsstunde ist unter der Parole „zur Leiche“ geschwänzt worden, ohne daß der Lehrer auch nur das Mindeste hätte einwenden können! Seitdem das Begräbnißsingen abgeschafft worden ist, sieht man auch keinen Thomaner mehr in seiner Chortracht. Auch das ist kein Fehler, denn der hohe Hut und schwarze Mantel wollten Manchen nicht recht kleiden und haben vielfach zum Spott Veranlassung gegeben.

Wenn das Alumneum der Thomasschule in dieser Weise reformirt und unsern gegenwärtigen Zeit- und Ortsverhältnissen angepaßt worden ist, so wird das Jedermann nur für recht und billig halten. Im Uebrigen aber ist die Einrichtung des Alumneums, die noch ganz kürzlich der Gegenstand lebhafter Anfechtungen war, nur zu vertheidigen. Man hat gegenwärtig ein übles Vorurtheil gegen die Internate (das Wohnen der Schüler in der Anstalt selbst) überhaupt. Auch ich billige es nicht, wenn, wie dies z. B. in den königlich preußischen Schullehrerseminarien noch vor etwa zehn Jahren der Fall war, (ich rede aus Erfahrung) Jünglinge von siebenzehn bis dreiundzwanzig Jahren in einer unwürdigen Weise bevormundet, dadurch zu Ausschreitungen veranlaßt und in der Entwickelung ihres Charakters übel beeinflußt werden. Aber ich kann in dem Zusammenleben überhaupt nichts Gefährliches erblicken. Alles, was man den Internaten an verderblichem Einflusse nachgesagt hat, und was wohl auch durch einzelne Fälle bestätigt sein mag, das gilt in viel größerem Maße von jedem Pensionat. Was speciell die Thomasschule anlangt, so vermöchte das Alumneum die ihm für den Einzelnen zu Gebote stehenden geringen Subsistenzmittel nicht besser anzulegen, als in der Weise, wie es wirklich geschieht, nämlich durch gemeinsame Verpflegung. Eine mit denselben Mitteln bewirkte Einzelverpflegung könnte noch weit geringere Sicherheit für das leibliche und geistige Gedeihen der Zöglinge bieten.

Und dann wolle man doch auch den musikalischen Gewinn, der durch die Vereinigung einer so stattlichen Anzahl stimmlich begabter, intelligenter junger Leute, die sich eins wissen zu einem Zwecke, erzielt wird, nicht gering anschlagen. Die Musik steht nicht so außer allem Zusammenhange mit dem Gesammtzwecke des Gymnasiums, wie Viele glauben. Würde sonst ein Mann, wie Dr. Martin Luther, der keinen Schulmeister oder Pfarrer achten wollte, wenn er nicht singen könne, sich so nachdrücklich für die Aufnahme des Gesanges unter die Disciplinen der Schule verwandt haben? Wenn aber der bildende Einfluß der Musik, insbesondere des Gesanges, auf die sittlichen Kräfte des Menschen unbestritten ist, so muß auch jedes Bestreben, [878] das auf die Veredelung des Gesanges gerichtet ist, als ein erziehliches Moment mit Freuden begrüßt werden.

In diesem Sinne erfüllt das Alumneum der Thomasschule in der That eine große Mission. Es bildet durch seine ausgezeichnete Kunstpflege nicht nur seine eigenen Zöglinge zu tüchtigen Musikern, die im späteren amtlichen Leben, weß Standes sie auch seien, die ihnen eigene Liebe zur Kunst auch in ihre Umgebung verpflanzen, sondern es erstreckt seinen Einfluß viel weiter auf Alle, die von ihm und seinen Leistungen Belehrung und Anregung erwarten. Und die Zahl Derer ist nicht klein.

Sowohl die sonntäglichen Kirchenmusiken wie besonders auch die Sonnabendmotetten (Nachmittag halb zwei Uhr) erfreuen sich neuerdings einer überaus lebhaften Theilnahme des Publicums. Man weiß die Gelegenheit, hier ältere und neuere Meisterwerke kirchlicher Tonkunst in vollendeter Ausführung kennen zu lernen, wohl zu schätzen. Erwägt man dabei, daß Leipzig fortdauernd von einer großen Anzahl Fremder besucht ist, die an der Universität, am Conservatorium der Musik und wie die Quellen für Kunst und Wissenschaft, an denen Leipzig so reich ist, alle heißen, ihr Wissen und Können zu bereichern suchen, so wächst die Bedeutung des Thomanerchors bis zu einer internationalen heran.

Möchte das Alumneum der Thomasschule, dieser Hort des evangelischen Kirchengesanges, sich dieser seiner hervorragenden Stellung stets bewußt bleiben und dieselbe alle Zeit auch durch die That zu rechtfertigen suchen! Denn es ist nichts trauriger, als beobachten zu müssen, wie ein Kunstinstitut an dem Ruhme vergangener Zeiten zehrt. An der zum guten Gedeihen erforderlichen Fürsorge der Stadt wird es hoffentlich nie fehlen.

Moritz Vogel.