Ein Heim für Auswandrerinnen in Boston
Ein Heim für Auswandrerinnen in Boston.
Die lange beschwerliche Seereise ist überstanden, das Schiff ankert im Hafen der großen Stadt, und verwirrt blickt der Fremde um sich. Wohl ihm, wennn Freunde ihn erwarten, wohl ihm, wenn er weiß, wohin er seine Schritte lenken soll, wenn nicht sogleich Noth und Elend sich an seine Fersen heften! Wie aus langer Kerkerhaft befreit, betreten die Auswanderer aus dem Zwischendeck den amerikanischen Boden; manche hatten kaum eine Vorstellung von dem, was ihrer „drüben“ wartete, von den Enttäuschungen, von der mühsamen Arbeit, durch welche eine neue Lebensstellung errungen werden muß. Es ist unglaublich, in welcher Unwissenheit, mit welchem Leichtsinn oft die Auswanderung unternommen wird, und die amerikanische Regierung, welche in den letzten Jahren die Gesetze für die Aufnahme der Einwanderer verschärfte, erweist damit nicht nur dem eigenen Lande, sondern auch den fremden Ankömmlingen im großen und ganzen einen Dienst, so hart das Verfahren in einzelnen Fällen erscheinen mag.
Es ist noch nicht lange her, da geschah es, daß ein Landmädchen von kaum achtzehn Jahren in Boston landete. Eine Freundin, die „drüben“ einen guten Dienst gefunden, hatte ihr geschrieben, daß sie schon viel Geld nach der Sparkasse getragen habe. Der armen Marie, deren Eltern todt waren und die auf dem Gutshofe in der Heimath nur 90 Mark jährlich verdiente, klang die Erzählung der Freundin wie ein wunderbares Märchen. Sie war gesund, sie konnte arbeiten, warum sollte sie nicht auch ihr Glück versuchen? Ihr kleines Erbtheil reichte zur Ueberfahrt – nun war sie wirklich in Boston angekommen! Um sie herrschte verwirrendes Gedränge; sie hoffte, die Freundin würde sie erwarten, aber ach! die hatte den schlecht adressirten Brief gar nicht bekommen, den Wohnort derselben wußte Marie nicht mehr anzugeben. Rathlos, verlassen stand sie in dem fremden Lande, dessen Sprache sie nicht verstand, hilflos einem ungewissen Schicksale preisgegeben. Da redet sie eine ältere Dame mit herzlichen Worten an. Wohl versteht sie den Sinn derselben nicht, aber sie faßt Muth, wie sie in die freundlichen Augen blickt, und bald ist eine Dolmetscherin zur Stelle, die ihr sagt, daß gute Menschen für sie sorgen, sie in ihr Haus nehmen, sie unterrichten und ihr eine Stelle verschaffen wollen. Marie ist vor undenkbarem Elend gerettet, ihre Zukunft sichergestellt!
Was ich hier mitgetheilt habe, ist keine bloße Erzählung; solche Hilfe in großer Noth ist nicht nur ein glücklicher Zufall, der unter Tausenden eine treffen mag. Alles, was an der armen Marie geschehen ist, wird auch andern Mädchen geboten.
Seit 24 Jahren besteht in Boston der Verein der „Young Women’s Christian Association“, der „Christliche Frauenverein“, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, solchen alleinstehenden Mädchen unter dem Auswandrerschwarm eine Heimstätte zu bieten und ihre Unterbringung in geeigneten Stellen zu vermitteln. Er besitzt ein Haus, das mit seinen verschiedenen Abtheilungen ein ganzes Geviert einnimmt und doch jetzt größerer Ausdehnung bedarf. Dieses Haus enthält eine Schule zur Ausbildung weiblicher Dienstboten, die vom vollendeten sechzehnten Jahre an Aufnahme finden und sechs Monate hindurch im Kochen, Anrichten, Waschen, Plätten, Servieren, Nähen, Flicken, kurz in allen häuslichen Arbeiten unterrichtet werden. Die ersten vier Wochen bilden eine Probezeit, welche über Befähigung und guten Willen der Zöglinge entscheidet, die dann entweder weiter unterrichtet oder entlassen werden. Wohnung, Kost, Unterweisung sind völlig frei; die besseren Schülerinnen können sich sogar durch ihre Dienste 2 bis 10 Dollar monatlich erwerben. Mit der Anstalt ist eine Agentur verbunden, die auch für nicht im Hause ausgebildete Mädchen Stellen vermittelt und sich längst einen so guten Namen erworben hat, daß während der Bureaustunden ihre Räume immer von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gefüllt sind.
In Abendklassen ertheilen tüchtige Lehrerinnen solchen Mädchen und Frauen, welche Verlangen nach größerer geistiger Ausbildung haben und den Tag über anderwärts beschäftigt sind, Unterricht im Englischen, Französischen, Deutschen, Buchführen, Singen, in Stenographie, im Gebrauch der Schreibmaschine, Schneidern, alles für einen kaum nennenswerthen Betrag. Eine große Turnhalle unter der Leitung einer erfahrenen Lehrerin bietet in körperlichen Uebungen Förderung der Gesundheit – ein großer Segen für manche junge Arbeiterin, welche den ganzen Tag sitzende Beschäftigung hat. Viele, die sonst in keiner Beziehung zur Anstalt stehen, genießen den Vortheil dieser Turnstunden und manche andere den der guten, billigen Mahlzeiten im geräumigen Eßsaal.
In einem solchen Hause kann die unerfahrene Ausländerin Aufnahme finden. Die Adresse desselben findet sich in den Schiffen und den Eisenbahnwagen angeschlagen; an den Landeplätzen sind gütige Frauen bereit, hilflose Ankömmlinge in Empfang zu nehmen. Die Stewardeß (Wirthschafterin) des Dampfers weiß von ihnen. Die Fremde braucht nur nach der Dame zu fragen, deren Zeichen ein blaues Band ist mit den aufgedruckten Buchstaben und Worten „Y. W. C. A. – Travellers’ Aid“, und sie wird sofort die nöthige Auskunft erhalten.
Die meisten deutschen Mädchen freilich werden in New-York landen; aber wenn sie vorher an „Young Women’s Christian Association, Traveller’s Aid Department. Berkeley St. Corner Appleton, Boston, Mass.“ schreiben, den Namen des Schiffes, auf dem sie fahren, angeben und gleich nach ihrer Ankunft in New-York mit der Bahn nach Boston weiter reisen, so empfängt die freundliche Dame mit dem blauen Bande sie dort am Bahnhofe. In dem Falle jedoch, daß sie sich aus irgend einem Grunde dort verfehlen sollten, braucht die junge Deutsche nur die aufgeschriebene Adresse einem Droschkenkutscher zu zeigen. Die meisten sind gute Freunde und Gehilfen des Vereins und liefern die Fremde, selbst wenn sie keine Geldmittel mehr hat, an die Vorsteherin des Hauses ab.
Und welch ein behagliches Heim sie dort findet! Helle, freundliche Zimmer mit hübschen Möbeln und weiße Gardinen an den Fenstern; Blumen und Bilder bringen die Bewohnerinnen selbst zum Schmuck hinein. Man könnte meinen, ein solches Zimmer müsse fast zur Verwöhnung führen, da die meisten Mädchen später im dienenden Verhältniß kaum ein gleich gutes bekommen werden; aber die hübsche Umgebung soll gerade den Sinn für Ordnung und Sauberkeit fördern. Auch Badestuben sind vorhanden; eine gute Bibliothek mit Lesezimmer steht der Benutzung offen, ein großer Saal vereinigt alle Mitglieder zu freien Konzerten, Vorlesungen und geselliger Unterhaltung. Der wesentlichste Dienst aber wird der deutschen Auswandrerin dadurch erwiesen, daß sie drei Monate hindurch unentgeltlichen Unterricht in der englischen Sprache erhält.
Der Verein öffnet seine Pforten allen protestantischen Mädchen, die Aufnahme suchen, ohne einen Unterschied zwischen den hier so vielfach sich abzweigenden Sekten zu machen; er breitet eine schützende Hand über sie, lehrt sie Tüchtiges leisten, weist sie auf den Weg der Arbeit und durch denselben auf den des Glückes und der Zufriedenheit.