Ein Freund auf dem Sterbebette

Textdaten
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Titel: Ein Freund auf dem Sterbebette
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aus: Die Gartenlaube
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[415] Ein Freund auf dem Sterbebette. Dem Briefe eines im Unionistenheere dienenden Landsmannes entnimmt der N. K. die nachstehende rührende Scene. „Schon seit längerer Zeit ist meine Wunde soweit hergestellt, daß [416] ich zwar das Bett, aber nicht das Hospital habe verlassen können. Ich versehe seitdem den Dienst eines Wärters, leiste Beistand, wenn Glieder abgenommen und Wunden verbunden werden, und Du magst es mir glauben, ich könnte Bände schreiben von den herzbrechenden Geschichten, die ich hier gesehen und erlebt habe. Doch bestand das schwerste Stück Arbeit, welches ich habe verrichten müssen, darin, daß ich meinen Daumen von dem Oberschenkel eines Verwundeten zurückzog. Du wirst nicht begreifen, aber höre und beurtheile. Unter einer Menge von Verwundeten wurde ein junger Mann in das Krankenhaus gebracht Die Kugel war durch den Oberschenkel gegangen, und es mußte zur Amputation geschritten werden. Das Bein wurde dicht am Leibe weggeschnitten, die Arterien wurden unterbunden. Der Kranke befand sich erträglich, und man glaubte gewiß, ihn am Leben erhalten zu können. Nach einigen Tagen sprang eine der kleinen Arterien. Es wurde ein Einschnitt gemacht und dieselbe wieder unterbunden. Der Wundarzt sagte, es sei ein Glück gewesen, daß nicht die Hauptarterie gesprungen, sonst wäre der Mann todtgeblutet, ehe ihm hätte Beistand geleistet werden können. Es besserte sich dann erheblich mit Charley, und wir freuten uns alle über ihn. Eines Nachts, wo ich im Krankenhause zu thun hatte, sagte er plötzlich, als ich an seinem Bette vorbeikam, zu mir: „Heinrich, mein Bein blutet wieder.“ Ich warf die Betten zurück und das Blut spritzte in die Luft. Der Schurf der Hauptarterie hatte sich abgetrennt. Glücklicherweise wußte ich, was zu thun war, im nächsten Augenblick drückte ich meinen Daumen auf die Stelle, und stopfte die Blutung. Es war so dicht am Leibe, daß kaum Raum für meinen Daumen blieb, aber es gelang mir, ihn daselbst festzuhalten. Ich weckte einen der Reconvalescenten und sandte denselben zum Wundarzt, der in der nächsten Minute erschien. „Ich danke Ihnen, A–,“ sagte er zu mir, als er mich sah, „daß Sie zur Stelle gewesen sind und wußten, was zu thun sei, denn außerdem wäre er verblutet, bevor ich hier sein konnte.“

Als er aber die Stelle untersucht hatte, nahm sein Gesicht einen sehr ernsthaften Ausdruck an, und er sandte zu den andern Wundärzten mit der Bitte, sie möchten sogleich kommen. Es erschienen alle, die im Hause waren, und sie gingen zu Rathe über den armen Burschen. Ihre Entscheidung war einstimmig. Es war kein Raum da, wo sie operiren konnten, außer der Stelle, auf welcher mein Daumen lag; unter dem Daumen konnten sie nicht arbeiten, nahm ich denselben fort, so würde er zu Tode geblutet sein, bevor die Arterie unterbunden werden konnte. Es gab keinen Weg, sein Leben zu retten. Armer Charley! Er war sehr ruhig und gefaßt, als ihm sein nahe bevorstehendes Ende verkündigt wurde, und bat, daß sein Bruder, der gleichfalls im Hospital lag, geweckt und zu ihm gerufen würde. Diese kam, setzte sich an der Bettseite nieder, ich stand drei Stunden und hielt durch den Druck meines Daumens das Leben von Charley auf, während die Brüder zum letzten Male auf Erden mit einander sprachen. Gewiß, es war eine ganz eigenthümliche Lage, in der ich mich befand, zu fühlen, daß ich das Leben eines Mitmenschen in der Hand hielt, und noch sonderbarer das Gefühl, daß eine geringe Bewegung meinerseits dessen Tod nothwendig zur Folge haben werde. Der Gedanke war für mich ein schmerzlicher und drückender, um so mehr, da ich den armen Burschen lieb gewonnen hatte, aber es gab keinen Ausweg. Die letzten Worte waren gesprochen, Charley hatte seine Angelegenheit mit seinem Bruder geordnet und gab demselben zärtliche Bestellungen an seine Lieben in der Ferne, die wohl wenig ahnten, wie nahe am Rand des Grabes ihr treuer Freund und Verwandter stand. Thränen füllten meine Augen, als ich diese Abschiedsworte vernahm. Als er damit geendet hatte, wandte er sich an mich und sagte: „Jetzt, Heinrich, denke ich, wäre es am besten, Du nähmest den Daumen fort.“ „Ach, Charley“ entgegnete ich, „wie kann ich das?“ „Es muß sein,“ erwiderte er freundlich. „Ich danke Dir für Deine große Gefälligkeit, und nun lebe wohl.“ Er wandte sein Haupt ab, ich hob den Daumen, noch einmal floß der Strom des Lebens, und in drei Minuten war Charley eine Leiche.“